Angst. Antisemitismus in Polen unmittelbar nach dem Krieg

Anhand zahlreicher mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Intellektuellen, polnischen Diplomaten der Vorkriegsregierung, einfachen Bürgern und Zuschauern von Massakern rekonstruiert der in den USA lebende polnische Historiker Gross das Horrorszenario von Gleichgültigkeit, Zustimmung, bis hin zu unzähligen, bislang in Polen verschwiegenen, Fällen von Mittäterschaft bei der von den Nazis organisierten Ermordung von drei Millionen polnischer Juden.

Angst. Antisemitismus in Polen unmittelbar nach dem Krieg

Gross, Jan T. , Angst. Antisemitismus in Polen unmittelbar nach dem Krieg.

Geschichte des moralischen Niedergangs. Verlag znak, Krakau 2008

Anhand zahlreicher mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Intellektuellen, polnischen Diplomaten der Vorkriegsregierung, einfachen Bürgern und Zuschauern von Massakern rekonstruiert der in den USA lebende polnische Historiker Gross das Horrorszenario von Gleichgültigkeit, Zustimmung, bis hin zu unzähligen, bislang in Polen verschwiegenen, Fällen von Mittäterschaft bei der von den Nazis organisierten Ermordung von drei Millionen polnischer Juden.

Hautnah beschreibt Gross die Treibjagd polnischer Polizisten und Bauern auf Juden, die sich der “Endlösung“ durch Flucht entziehen wollten. Sie wurden von den Häschern meist nicht den deutschen Besatzern übergeben, vielmehr sofort massakriert. Man bekommt den Eindruck, dass die daran beteiligten Polen die ihnen von Okkupanten übertragene Aufgabe mit Passion erfüllt haben, dass sie schon immer darauf gewartet haben, mit ihren jüdischen Nachbarn abzurechnen.

Die genaue Anzahl der in die Tausende gehenden Morde der Polen an Juden wird wohl nie ermittelt werden können. Gross gibt zu bedenken, dass von den polnischen Opfern der “Endlösu

ng der Judenfrage“ etwa die Hälfte in Konzentrationslagern ermordet wurde. Die andere Hälfte ist vor Ort getötet worden, entweder durch deutsche “Einsatzkommandos“ oder durch die polnische Bevölkerung und Partisanenabteilungen.

 Kein Volk Europas, schreibt Gross, sei so unmittelbar mit der nazistischen “Endlösung“ konfrontiert gewesen, wie das polnische. Während in Deutschland und Westeuropa von einer gewissen Diskretion der Massentötung gesprochen werden konnte, geschah sie in Polen vor Millionen Zeugen jeden Alters, was auf das ganze Volk, besonders aber auf die polnischen Kinder und Jugendlichen extrem demoralisierend und abstumpfend gewirkt habe.

Natürlich gab es in Polen auch Tausende Menschen, die Juden gerettet haben. Ein Ruhmesblatt hat hier besonders die katholische Untergrundorganisation “Zegota“ geschrieben. Im Bewusstsein der Nachkriegspolen verbindet sich mit diesem Namen die Haltung der gesamten polnischen Nation während der deutschen Besatzung. Die Untaten werden ausgeblendet. Doch die von “Zegota“ vertretene Haltung vermengte bizarr den Antisemitismus mit der christlichen Nächstenliebe. Tausende Polen halfen den Juden als Menschen, obwohl sie diese zugleich als “Gottesmörder“ betrachteten. Gross bezeugt allerdings zahlreiche Fälle, in denen polnische Judenretter nach dem Krieg so sehr der Ausgrenzung durch Nachbarn ausgesetzt waren, dass sie sich gezwungen sahen, den Wohnort zu wechseln

Dem Zustand der Demoralisierung der ganzen Gesellschaft, angesichts der monströsen nazistischen “Endlösung“, folgte nach dem Krieg die allgemeine Mitleidlosigkeit für die wenigen Überlebenden der Massaker und der frei ausgelebte Unwille der Bevölkerung von ostpolnischen Dörfern und Kleinstädten über die Rückkehr einer Handvoll Juden. Es kam zu Tausenden Übergriffen auf heimkehrenden Juden durch ihre ehemaligen Nachbarn, deren Motiv es meistens war, dass die einstmals von Juden bewohnten Häuser inzwischen von Polen belegt waren. Dieser nächste Akt des Szenarios der ethnischen Säuberung Polens von den zu Fremden erklärten jüdischen Nachbarn endete schließlich mit der Ermordung von mehr als 1500 und der Vertreibung fast aller Juden.

Gross weist nach, dass es nach dem Krieg zu Pogromen an mehreren Orten Ostpolens, darunter in Kielce, Krakau und Czestochowa, kam. In allen Fällen sei den Juden unterstellt worden, Blut von getöteten christlichen Kindern für Pessach-Matzen zu verwenden. Opfer der Pogrome seien Juden, sowie zufällige Personen mit “jüdischem Aussehen“ geworden. Der 1946 inszenierte Pogrom von Kielce mit etwa 40 Todesopfern löste eine Massenflucht von Juden aus, die meist illegal über die Tschechoslowakei Polen verließen, um sich in Bayern in amerikanische Obhut zu begeben. Von den dortigen Lagern für “displaced persons“ wanderten die meisten 1948 in den neu entstandenen jüdischen Staat Israel aus.

Der in Polen sehr einflussreiche katholische Klerus hat sich, so Gross, fast in seiner Gesamtheit der in der Bevölkerung vorherrschenden antisemitischen Haltung angeschlossen und Verständnis für die “gerechte Wut des Volkes“ gezeigt. Hauptgrund für sie sei die kollektive Kooperation der Juden mit den kommunistischen Machthabern gewesen, ein bis heute in Polen weit verbreitetes Klischee. Zum anderen sei die Verwendung des Blutes von christlichen Kindern für Pessach-Matzen durch die Juden keineswegs auszuschließen.

Auch den polnischen Arbeitern stellt Gross ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. In den meisten Betrieben, schreibt der Autor, lehnten die Beschäftigten die von Behörden angeregte kollektive Verurteilung der Pogrome ab. In Lódz kam es zu Massenstreiks von Arbeitern, die sich öffentlich mit den vor Gericht stehenden Judenmördern von Kielce solidarisierten.

Schließlich versucht Gross die Frage zu klären, wie sich der neue kommunistische Machtapparat, dem das polnische Volk mehrheitlich unterstellte “verjudet“ zu sein, zu den Pogromen stellte. Er kommt zu dem erstaunlichen Schluss, dass es eine unausgesprochene Komplizenschaft der Machthaber mit den Judenmördern gegeben habe. Die Massenflucht der Juden sei den Machthabern entgegengekommen, weil sie einen in der polnischen Gesellschaft schwer zu beherrschenden Konflikt entschärft habe. Die Staatsmacht sei, schreibt Gross, mit dem polnischen Volk einen Deal eingegangen: Wir vergessen eure Untaten in der Kriegs- und Nachkriegszeit und ihr steht unserer Herrschaft nicht im Wege. Das hieße aber im Klartext: Weniger die Juden haben die kommunistische Nachkriegsherrschaft in Polen stabilisiert, als die Judenmörder.

Man kann nur hoffen, dass das Buch von Jan T. Gross die polnische Gesellschaft dazu bewegt, sich der eigenen Geschichte zu stellen.

Editorische Anmerkungen

Quelle: COMPASS-Infodienst

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