Alltag im Ausnahmezustand

Pünktlich zum siebzigjährigen Bestehen des Staates legt der Journalist und langjährige ARD-Korrespondent in Israel seine Sicht auf Israel vor, die er als „Reflexion über den Nahen Osten, aber fast mehr noch über Europa“ bezeichnet.

Wieso Europa? „Aus der Ferne wirkt Europa mitunter wie ein Museum“. Damit gibt er bereits eine Perspektive auf dieses nicht nur biblisch-historische, sondern innovative Hightech-Land zu erkennen, wobei Tel Aviv für ihn „ein idealer Standort ist, um die Zukunft zu erleben.“ Seine Sicht auf Israel teilt er in sechs große Kapitel, beginnend mit der Frage, „Wie sind Israelis“ und endend mit der Frage, „Kann man als Jude überhaupt objektiv über Israel berichten“, eine Frage, die er als „sehr deutsches Problem“ bezeichnet. Dazwischen geht es ihm um „Trennungslinien“, und zwar innerjüdische zwischen säkularem und orthodoxem Judentum, Aschkenasim und Sephardim, um „Steinzeit gegen Start-up“. Die gegenwärtige Regierung betrachtet er unter dem Gesichtspunkt „Das Prinzip Bibi“, die Friedensfrage unter dem Gesichtspunkt „Welcher Frieden?“ und schließlich den Zusammenhang zwischen Antisemitismus als Grund für die Notwendigkeit dieses Staates und Israelkritik als dessen Folge. Schon dieser Überblick zeigt, dass er keines der gegenwärtig umstrittenen und heiß diskutierten Themen auslässt. Wichtige Aspekte einer theologisierenden Betrachtung der Geschichte Israels werden bereits im Vorwort angerissen.

Um darzustellen, wie Israelis sind, erinnert Schneider in anschaulicher Sprache an die Befindlichkeit zur Zeit des „Golfkriegs“ bei dem ausgerechnet an Purim, dem Fest zur Befreiung von den Intrigen Hamans, die irakischen Raketenangriffe endeten. Dass dabei der persische König Ahaschverosch als „babylonischer“ König und Babylon als „das persische Königreich“ bezeichnet wird, irritiert ein wenig. Dies hätte dem Lektor auffallen müssen. Schneider geht es aber um die ständige Angst Israels vor einem zweiten Holocaust und den Rat des US-Botschafters in Israel, US-Präsident Bush sen. möge seinen Arm um die Schulter des Ministerpräsidenten Shamir legen und ihn der bleibenden Freundschaft der USA versichern. So wird auch verständlich, wieso Obamas Friedensvorstellungen für den Nahen Osten auf Netanyahus Misstrauen stießen. Beispiele aus seiner journalistischen Tätigkeit unterstreichen dies und geben den Sachverhalten eine Note, die im allgemeinen nicht in den Blick kommt. In einem weiteren Unterkapitel geht er auf das kollektive Trauma der Shoah und seine Wirkung auf nachfolgende Generationen ein sowie auf den indirekten Zusammenhang mit der Staatsgründung, die allmähliche Historisierung und die unterschiedliche Erinnerungskultur in Deutschland und Israel, aber auch die Scham der Überlebenden. Die israelische Einschätzung des Iran ordnet er in diesen Zusammenhang ein, in dem er auch das Atomwaffenproblem sieht, da eine echte militärische Niederlage Israels Ende bedeuten würde. Interessant ist auch seine Einschätzung verschiedener militärischer Optionen. Denn als zweites Trauma beschreibt er die Folgen bisheriger Kriege und der Intifada. Als Korrespondent hat er bei allen Unterschieden einen „Mainstream-Israeli“ identifiziert, „der nach der Armee ins Ausland geht, um zu chillen, dann zurückkehrt, studiert, früh heiratet, mit seinen Kumpels aus der Armee weiter eng befreundet bleibt, der ganz im Familienleben aufgeht, dessen Frau sich einerseits als »Weibchen« geriert, andererseits daheim die Hosen anhat …“. Als typische Haltung gilt für ihn, „Wunder sind mit eingeplant“. Als weiteres Merkmal erkennt Schneider, dass gerade alletypischen Hardliner nach ihrer Berufszeit nach links eingeschwenkt seien. Er vergleicht das israelische „Arroganzgehabe“ mit dem „Getrommel des Gorillas auf der Brust als Zeichen der Stärke“ und als „Versuch, sich selbst Mut zu machen“. Interessante Blicke eines europäischen Juden auf israelische Eigenheiten. Dieses Kapitel nimmt über ein Drittel des gesamten Buches ein.

Das zweite Kapitel über die Trennungslinien, die Israel durchziehen, ist wesentlich kürzer. Anhand eigener Erlebnisse schildert er den Unterschied zwischen Jerusalem und Tel Aviv, das er als „steingewordene Abkehr vom Erbe der Väter“ bezeichnet; „denn das alte Judentum aus Europa war ein Judentum des Unterdrücktseins“. Bis ins Bauliche hinein bezeichnet Schneider Tel Aviv als „Stadt ohne Geschichte“. Und wer wie der Rezensent über drei Jahrzehnte regelmäßig nach Israel kam, konnte selbst miterleben, dass ständig neue Gebäude entstanden. „Dann wurde, was vorher dort stand, einfach abgerissen, ganz egal, ob es ein bauliches Prachtstück war oder gar eine historische Bedeutung für die Stadt hatte“. Die Unterschiede zwischen Jerusalem und Tel Aviv reichen bis zum Palästinenserproblem; denn Araber aus Jaffa sind „im Großen und Ganzen friedlich“. Interessant sind auch die Einzelheiten, an denen er deutlich macht, woran er sofort als Europäer erkannt wird. Interessant auch die Charakterisierung unterschiedlicher Gruppen, die üblicherweise alle als „Ultraorthodoxe“ bezeichnet werden. Dennoch: „Alle diese Gruppierungen sind radikal, wenngleich mit zum Teil heftigen Unterschieden“. Es herrscht ein richtiggehender Kulturkampf und dieser Begriff wird sogar als Fremdwort von Intellektuellen verwendet.

Als Beispiele für diese innerisraelischen Auseinandersetzungen verweist Schneider auf die vermehrt aus Frankreich einwandernden Juden, deren Vorfahren aus N-Afrika stammen und daher eher dem sephardischen Judentum zuzurechnen sind, aber auch die offiziellen Maßnahmen gegen NGOs, die als „Maulwürfe“ bezeichnet werden, weil sie angeblich Israels „Wehrhaftigkeit“ zersetzen. Dabei steht er diesen Bewegungen nicht unkritisch gegenüber, da nicht alle Aussagen anonymisierter Zeugen zutreffend seien. Allerdings verficht er eine präzisere Differenzierung. Die Frage der Menschenrechte macht er am Fall Elor Azaria deutlich. Am NGO-Gesetz kritisiert er die einseitige Anwendung ausschließlich gegenüber regierungskritischen Organisationen und spricht dabei von einer „Erodierung des fairen Streits zwischen »links« und »rechts«“. Dass dabei auch unterschiedliche Erfahrungen sephardischer und aschkenasischer Juden mit Muslimen eine Rolle spielen, wird nicht verschwiegen. Das Bild, das er von Netanyahu zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft. An praktischen Beispielen wird Ideologie und Taktik der Siedlerbewegung geschildert. Seine differenzierte Klärung der Begriffe „Aschkenasim“ und „Sephardim“ aber auch der recht heterogenen Zusammensetzung der Bevölkerung Israels hilft sicher manchen weniger Eingeweihten zum besseren Verstehen von Sachverhalten, die nicht unseren europäischen Denkweisen entsprechen. Auch innerisraelische gesellschaftliche Unterschiede und Spannungen sind so besser nachvollziehbar. Dies wird ausführlich am Beispiel der Einwanderer aus arabischen Ländern, den Misrachim, geschildert. Dabei werden auch tragische und fragwürdige Vorfälle sowie gesellschaftliche Entwicklungen nicht verschwiegen. Auch das Erfolgsgeheimnis des Likud und anderer rechtsorientierter Parteien wird auf diese Weise verständlich. Die Tragik dieser Parteien sind wie so oft Korruptionsvorwürfe. Eine Überwindung dieser Trennungslinien ist für Schneider eine Generationenfrage infolge von Heiraten über die Bevölkerungsgruppen hinweg. Die Schattenseiten dieser Entwicklung werden jedoch nicht verschwiegen. Welche Rolle der Militärdienst bei diesem Verschmelzungsprozess spielt, nimmt er an dieser Stelle  nicht in den Blick, dafür die „Ausbrecher“ junger Menschen aus ultraorthodoxen Familien. Die Armee spielt im Zusammenhang mit der High-Tech-Entwicklung eine große Rolle.

Das dritte Große Kapitel ist dem „Prinzip Bibi“ gewidmet. „Er hat viele Feinde, aber kaum Konkurrenz“, lautet eine der ersten Feststellungen. Er wird einerseits als hochgebildet und belesen geschildert, habe andererseits von seinem extrem rechten Vater die Einstellung gegenüber Arabern übernommen. Sein Bruder war der Held der Befreiung der Entebbe-Geiseln. Seine Weltsicht sei, „die Welt ist gegen uns Juden“, der „islamistische Terror das Lebensthema“. „Und darum schürt Bibi Angst“. Dies wird an einigen exemplarischen Fällen sowie am Umgang mit Journalisten und der fiktiven Wiedergabe eines Gesprächs Hitlers mit dem damaligen Großmufti von Jerusalem, al-Husseini, verdeutlicht, mit dem Netanyahu seine Theorie untermauerte, die Palästinenser hätten die „Ausrottung  der Juden“ schon lange vor der Staatsgründung zum Ziel gehabt; dies sei der Kern der politischen Botschaft Netanyahus. Schneider nimmt in Europa einen Schwenk in Richtung dieser Denkweise wahr. Andererseits weist er auf die Problematik der UN-Resolution 2334 hin, der zufolge auch alle traditionellen jüdischen religiös wichtigen Stätten in „besetztem Gebiet“ lägen. Ob Trump mit seiner Israelpolitik tatsächlich dem Frieden dient, wird bezweifelt.    Dass sich ein Unterkapitel über das Verhältnis zum Iran anschließt, ist geradezu unausweichlich. Dabei werden mit journalistischem Geschick auch die Befürchtungen, Schwierigkeiten und Widerstände beim Zustandekommen des Atomabkommens dargestellt und damit ein besseres Verständnis der heutigen Problemlage einschließlich der Position Syriens und Saudi-Arabiens sowie Obamas und Trumps ermöglicht.

Ein anderes heißes Eisen beurteilt Schneider: „Die Zwei-Staaten-Lösung wird es nicht geben.“ Wohl zutreffend stellt er fest: „Der eine Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan würde bald eine palästinensische Mehrheit haben.“ Die Risiken der verschiedenen Optionen sowie die unterschiedlichen Vorstellungen der israelischen Regierungs-Parteien werden ebenso aufgezeigt wie der Widerstand von Abbas und dessen Hintergründe. Dies alles gehört noch zum Kapitel „Das Prinzip Bibi“; daher ist es nicht verwunderlich, dass in diesem Zusammenhang auch eine Psychologie Netanyahus, eines Gefangenen seiner Ängste versucht wird. Das persönliche Missverhältnis zwischen Netanyahu und Obama kann dabei nicht unerwähnt bleiben, aber auch die Feststellung: „Kein US-Präsident hat mehr für die Sicherheit Israels getan als Obama“. In der Siedlungsfrage wird leider nicht zwischen Siedlungen im Land und Stadtteilerweiterungen in Jerusalem unterschieden.

So ist wie von selbst der Übergang zu dem vierten großen Kapitel geschaffen: „Frieden? Welcher Frieden?“ Lesenswert, wenn auch zum Kopfschütteln, sind die hier zur Sprache kommenden, bis ins Mythische reichenden antijüdischen Vorurteile und teils possenhaft anmutende Verschwörungstheorien. Umgekehrt spielen die Palästinenser im Alltagsleben und Bewusstsein der Israelis keine Rolle. Pädagogische Einrichtungen, die diese Kluft überbrücken wollen, sind die Ausnahme – und beziehen sich auf jüdisch-arabische Einrichtungen in Israel, nicht in den besetzten Gebieten, auf „Palästinenser mit israelischem Pass“. Die Psychologie der „Palästinenser“ und ihre Befangenheit in den Begrifflichkeiten „Besatzung“ und „Probleme“ werden ebenso deutlich benannt wie die Zerstrittenheit zwischen Hamas und Fatah; dabei fällt die neu gegründete Stadt Rawabi in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen, weil sie zukunftweisende Merkmale aufweist. Die Darstellung ist immer wieder mit eigenen Erfahrungen seiner journalistischen Tätigkeit gespickt, die das Generelle anschaulich machen – auch das Urteil, „Gaza ist ein hoffnungsloser Fall“. Umso überraschender ist, dass er ausgerechnet einen Plan der Siedlerpartei von Naftali Bennett für eine Lösungsmöglichkeit hält.

Das vorletzte Kapitel befasst sich mit der Problematik des „ewigen Antisemitismus“. Im Zusammenhang mit der hundertjährigen Wiederkehr der Balfour-Erklärung stellt Schneider dabei fest: „Es gibt keinen Staat auf der Welt, der immer noch um sein Existenzrecht kämpfen muss“. Dabei lässt es sich nicht vermeiden, dass sich ständig die Frage nach dem Existenzrecht eines „jüdischen Staates“ mit der nach dem Existenzrecht der Juden vermischt. Allerdings wird an der Art, wie er teilweise die Problemlage schildert, bereits deutlich, warum er im letzten Kapitel die auch selbstkritische Frage stellt: „Kann man als Jude überhaupt objektiv über Israel berichten? – Ein deutsches Problem.“ Befangenheit wird etwa sichtbar in der Feststellung, der „extremen Linken in der westlichen Welt“ gehe es nicht um die Befreiung der Palästinenser von kolonialistischen Besatzern, sondern um die „Vernichtung dieses Besatzers“; daran knüpft er die Frage, ob diese „nicht auch »inspiriert« vom Rassen- und Endlösungswahn der Nationalsozialisten“ seien. Wesentlich glaubhafter klingt dagegen die antijüdische Verschwörungstheorie, die einer seiner Münchener Bekannten anlässlich des Anschlags auf die New Yorker Twin-Towers geäußert habe. In diesem Zusammenhang bietet er eine Reihe anderer antiisraelischer Verschwörungstheorien. Dass er in diesem Kapitel auch sehr ausführlich auf die BDS-Bewegung eingeht, versteht sich von selbst. Allerdings ist sein Sammelbegriff „die Linken“ zu pauschal und daher nicht wirklich hilfreich. Dies weiß er auch: „Und wenn ich schreibe: »die Linke«, dann meine ich damit immer nur einen Teil der Linken.“ Warum tut er‘s dann? Nicht geht er in diesem Zusammenhang auf Nachwirkungen des Kalten Krieges ein, in dem „die Linken“ auf Seiten der arabischen Welt standen, aber nicht aus Sympathie mit den Arabern, sondern als Gegenposition zu den USA. Zutreffend dürfte dagegen seine Behauptung sein: „Die falschen Anschuldigungen lassen die meisten Israelis taub werden für die seriöse Kritik an ihrer Politik“. Man müsste hinzufügen: auch die Regierung. Europa bezeichnet er als „antisemitischen Kontinent“ und führt Beispiele an, dass sich Juden nicht nur in Frankreich zunehmend bedroht fühlen. Man kann nur hoffen, dass dies eine Übertreibung ist, obwohl es leider viele Anzeichen für die Wahrheit dieser Sicht gibt. Er gibt zu überlegen: „Ist es nicht auch so, dass man sich in Europa über Jahrhunderte an das Bild des schwachen Juden gewöhnt hat? Des Juden, der sich nicht wehren kann“. Zu einem solchen Bild passt ein starkes Israel selbstverständlich nicht. So überlegenswert dieses sozialpsychologische Argument ist, müsste es doch durch valide Untersuchungen gestützt werden. Den Einfluss amerikanischer Juden auf die Politik der USA macht man sich trotz entsprechender Berichte oft nicht so bewusst, wie es  Schneiders Schilderung zu entnehmen ist.

Im Schlusskapitel geht es ihm um Erfahrungen, die teils damit zusammenhängen, dass man in der Pressewelt einem Juden keine objektive Berichterstattung über Israel zutraut, aber auch um die Tatsache, der „Zionismus war nicht nur ein Bruch mit alten jüdischen Traditionen, er war der Bruch mit dem Diaspora-Leben, er war der Bruch mit Europa und allem, wofür Europa stand.“

Ein lesenswertes Buch, das selbst einem, der durch zahlreiche und intensive Israelbesuche meint, das Land zu kennen, viele neue Einblicke vermittelt und dazu beitragen kann, sowohl notorische Israelkritiker als auch Israel-Euphoriker nachdenklich zu machen.

 

Richard C. Schneider

Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel.

294 S. geb., Schutzumschlag;

Deutsche Verlagsanstalt, München, 2018

Euro 20,-

 

zurück