Zwischen Jerusalem und Rom: Die gemeinsame Welt und die respektierten Besonderheiten. Reflexionen über 50 Jahre von Nostra Aetate

Erklärung der europäischen Rabbinerkonferenz gemeinsam mit dem Rabbinischen Rat von Amerika, 1. Februar 2017.

Zu den Gesprächspartnern der katholischen Kirche gehören nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und seiner Verabschiedung der Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra Aetate“ vom 28. Oktober 1965 sowohl die Europäische Rabbinerkonferenz als auch der Rabbinische Rat von Amerika. Die Europäische Rabbinerkonferenz ist mit ihren etwa 700 Rabbinern eine führende Stimme des Judentums in Europa. Der Rabbinische Rat von Amerika mit Hauptsitz in New York vereinigt etwa 1000 orthodoxe Rabbiner. Beide Organisationen haben aus Anlass des 50. Jahrestages der Konzilserklärung über die Beziehung zwischen dem Judentum und dem Christentum beraten und ihre Reflexionen in einem Text „Zwischen Jerusalem und Rom“ festgehalten. Der Text, datiert auf Rosch Chodesch Adar I, 5776 (10. Februar 2016), wurde im März 2016 von der Europäischen Rabbinerkonferenz und dem Rabbinischen Rat von Amerika approbiert. Veröffentlicht wurde der Text unter dem Datum vom 1. Februar 2017.


Die Erklärung zeigt mit ihrem Titel „zwischen Jerusalem und Rom“ einen Nachdruck auf das jüdisch-katholische Verhältnis an. Konkret bezieht sich diese Überschrift auf einen kontinuierlichen Austausch zwischen dem Oberrabbinat Israels und der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden. Der Austausch begann 2002, findet seitdem regelmäßig statt und wechselt den Ort der Treffen „zwischen Jerusalem und Rom“. Dieses jüdisch-katholische Dialogforum meidet den Austausch über die Grundlagen des Glaubens, konzentriert sich auf aktuelle soziale, ethische oder wissenschaftliche Anliegen und Herausforderungen und beachtet dabei die Unterschiede der beiden Glaubenstraditionen. Das gibt auch die inhaltliche Ausrichtung der Erklärung an, die als Instanz der Orientierung die große Autorität der jüdischen Orthodoxie der Gegenwart, Rabbiner Joseph B. Soloveitchik (1903-1993), nennt. Sie ist ein Bekenntnis zum und Plädoyer für den Dialog über wichtige Fragen der Beziehung von Judentum und Christentum. Sie meidet freilich eine theologische Anerkennung des Christentums, wie sie sich in der Erklärung orthodoxer Rabbiner „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ vom 3. Dezember 2015 findet.


Präambel

In der biblischen Schöpfungsgeschichte formt Gott einen einzelnen Menschen als den Stammvater der ganzen Menschheit. So ist es die unverwechselbare Botschaft der Bibel, dass alle Menschen Mitglieder einer einzigen Familie sind. Und nach der Sintflut von Noach wird diese Botschaft bekräftigt, indem die neue Phase der Geschichte wieder von einer einzigen Familie eröffnet wird. Am Anfang erstreckt sich Gottes Vorsehung auf eine universale, undifferenzierte Menschheit.

Als Gott Abraham und dann Isaak und Jakob erwählte, vertraute er ihnen eine doppelte Mission an: die Nation Israel zu gründen, die im heiligen, verheißenen Land Israel eine modellhafte Gesellschaft erben, niederlassen und schaffen würde, während sie als Quelle des Lichts für die ganze Menschheit dienen würde.

Seither, vor allem nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem im Jahre 70 n. durch die Römer, erlebten wir Juden nach dem Exil Verfolgung auf Verfolgung. Und doch, der Ewige Israels lügt nicht[1] , und sein ewiger Bund mit dem Volk Israel offenbart sich immer wieder: trotz größter Nöte dauert unsere Nation fort.[2]   Nach der dunkelsten Stunde seit der Zerstörung unseres heiligen Tempels in Jerusalem, als sechs Millionen unserer Brüder auf bösartigste Art und Weise ermordet wurden und die glühende Asche der Knochen im Schatten der Nazi- Krematorien glimmte, wurde Gottes ewiger Bund erneut manifest, als die Überlebenden Israels ihre Kräfte sammelten und ein wunderbares Wiedererwachen des jüdischen Bewusstseins bewerkstelligten. Gemeinschaften wurden in der ganzen Diaspora wiederaufgebaut, und viele Juden antworteten auf den Fanfarenstoß, nach Erez Israel zurückzukehren, wo ein souveräner jüdischer Staat entstand.

Die doppelte Verpflichtung des jüdischen Volkes zu erfüllen – ein Licht für die Völker zu sein[3]  und die eigene Zukunft entgegen dem Hass und der Gewalt der Welt zu gewährleisten – war überwältigend schwer. Trotz unzähliger Hindernisse hat die jüdische Nation viele Segnungen für die Menschheit hinterlassen sowohl in den Bereichen der Wissenschaft, der Kultur, der Philosophie, der Literatur, der Technik und des Handels als auch in den Bereichen von Glauben, Spiritualität, Ethik und Moral. Auch diese sind eine Manifestation des ewigen Bundes mit dem jüdischen Volk.

Zweifellos ist die Schoa der historische Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Juden und unseren nichtjüdischen Nachbarn in Europa. Dem Kontinent, der für mehr als ein Jahrtausend vom Christentum genährt wurde, entwuchsen bittere und böse Triebe, die sechs Millionen unserer Brüder mit industrieller Präzision ermordeten, darunter eineinhalb Millionen Kinder. Viele von denen, die an diesem abscheulichen Verbrechen beteiligt waren und ganze Familien und Gemeinschaften vernichteten, wuchsen in christlichen Familien und Gemeinschaften auf.[4]

Dieses ganze Jahrtausend hindurch, sogar in sehr dunklen Zeiten, erhoben sich zugleich heroische Persönlichkeiten – Söhne und Töchter der katholischen Kirche, sowohl Laien als auch Amtsträger –, die gegen die Verfolgung der Juden kämpften und ihnen in den dunkelsten Zeiten halfen.[5]

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann in den westeuropäischen Ländern eine neue Ära der friedlichen Koexistenz und Akzeptanz, und in vielen christlichen Konfessionen zog eine Ära des Brückenbauens und der Toleranz ein. Glaubensgemeinschaften bewerteten ihre historischen Ablehnungen anderer neu, und es begannen Jahrzehnte der fruchtbaren Interaktion und Zusammenarbeit. Obwohl wir Juden vor ein oder zwei Jahrhunderten die politische Emanzipation erlangt hatten, wurden wir noch nicht wirklich als gleichberechtigte, vollwertige Mitglieder der Nationen, in denen wir lebten, anerkannt. Im Gefolge der Schoa wurde die jüdische Emanzipation in der Diaspora wie auch das Recht des jüdischen Volkes, als souveräne Nation in unserem eigenen Land zu leben, unübersehbar und selbstverständlich.

In den darauffolgenden sieben Jahrzehnten begannen jüdische Gemeinden und spirituelle Führungspersönlichkeiten, das Verhältnis des Judentums zu den Mitgliedern und Führungspersönlichkeiten anderer Glaubensgemeinschaften neu zu bewerten.

Eine Kehrtwende - Nostra Aetate

Vor fünfzig Jahren, zwanzig Jahre nach der Schoa, begann die katholische Kirche mit ihrer Erklärung Nostra Aetate (Nr. 4)[6]   einen Prozess der Selbstprüfung, der in zunehmendem Maße dazu führte, dass die kirchliche Lehre von jedweder Feindseligkeit gegenüber Juden bereinigt wurde, wodurch Vertrauen und Zuversicht zwischen unseren jeweiligen Glaubensgemeinschaften wachsen konnten.

In dieser Hinsicht war Papst Johannes XXIII. eine Gestalt von umwandelnder Kraft für die jüdisch- katholischen Beziehungen wie auch nicht minder für die Geschichte der Kirche selbst. Er spielte eine mutige Rolle bei der Rettung der Juden während des Holocaust, und es war seine Einsicht in die Notwendigkeit, die „Lehre der Verachtung“ zu revidieren; diese Einsicht hat dazu beigetragen, den Widerstand gegen Veränderungen zu überwinden und schließlich die Annahme von Nostra Aetate (Nr. 4) zu ermöglichen.

Mit höchst konzentrierter, konkreter und für die Kirche zutiefst dramatischer[7]  Bekräftigung anerkannte Nostra Aetate, dass jeder Jude, der nicht direkt und persönlich an der Kreuzigung beteiligt war, keine Verantwortung dafür trägt.[8]  Die Ausführungen und Erläuterungen von Papst Benedikt XVI. zu diesem Thema sind besonders bemerkenswert.[9]

Darüber hinaus stellte Nostra Aetate auf der Grundlage christlicher Schriften fest, dass die göttliche Auserwählung Israels, die es „die Gabe Gottes“ nennt, nicht widerrufen wird, wenn es heißt: „Gott ... bereut nicht seine Gnadengaben oder seine Berufung“. Es erließ die Verfügung, dass „die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht dargestellt werden.“ Später äußerte sich im Jahr 2013 Papst Franziskus zu diesem Thema in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium: „Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes und lässt einen Weisheitsschatz entstehen, der aus der Begegnung mit dem göttlichen Wort entspringt.“[10]

Nostra Aetate ebnete 1993 auch den Weg zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen des Vatikans mit dem Staat Israel. Durch die Etablierung dieser Beziehung zeigte die katholische Kirche, dass sie ihre Vorstellung vom jüdischen Volk als einer Nation, die dazu verurteilt war, bis zum jüngsten Tag auf Wanderschaft zu sein, tatsächlich zurückwies. Dieser historische Moment ermöglichte die Pilgerfahrt von Papst Johannes Paul II. nach Israel im Jahr 2000, die als eine weitere machtvolle Demonstration einer neuen Ära der katholisch-jüdischen Beziehungen diente. Seither haben auch die beiden letzten Päpste ähnliche Staatsbesuche gemacht.

Nostra Aetate „beklagte (kräftig) alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben“ als eine Angelegenheit religiöser Pflicht. Dementsprechend bekräftigte Papst Johannes Paul II. wiederholt, dass der Antisemitismus „eine Sünde gegen Gott und die Menschheit“ sei. An der Westmauer in Jerusalem rezitierte er das folgende Gebet: „Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes.“

Papst Franziskus beklagte jüngst eine neue, allgegenwärtige und sogar in Mode gekommene Form des Antisemitismus, als er einer Delegation des Jüdischen Weltkongresses sagte: „Juden anzugreifen ist Antisemitismus, aber ein offener Angriff auf den Staat Israel ist auch Antisemitismus. Es gibt politische Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierungen und politischen Fragen, aber der Staat Israel hat alle Rechte, in Sicherheit und Wohlstand zu existieren.“[11]

Schließlich forderte Nostra Aetate, „gegenseitige Kenntnis und Achtung“ zu fördern und „brüderliche Gespräche“ zu führen. 1974 beherzigte Papst Paul VI. diese Forderung, indem er die Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden schuf; die jüdische  Gemeinschaft hat sich in Reaktion auf diese Forderung regelmäßig mit Vertretern der Kirche getroffen.

Wir zollen der Arbeit der Päpste, Kirchenleiter und Gelehrten Beifall, die leidenschaftlich zu diesen Entwicklungen beigetragen haben, darunter den entschlossenen Befürwortern des katholisch-jüdischen Dialogs am Ende des Zweiten Weltkrieges, deren gemeinsame Arbeit ein maßgeblicher Antrieb zu Nostra Aetate war. Die wichtigsten Meilensteine waren das Zweite Vatikanische Konzil, die Gründung der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden, die Anerkennung des Judentums als lebendiger Religion mit einem ewigen Bund, die Anerkennung der Schoa und ihrer Vorläufer sowie die Schaffung diplomatischer Beziehungen mit dem Staat Israel. Die theologischen Schriften der Präsidenten der Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden haben viel zu den kirchlichen Dokumenten beigetragen, die Nostra Aetate folgten, wie es auch die Schriften zahlreicher anderer Theologen taten.

In ihren jüngsten Reflexionen zu Nostra Aetate, „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“, befürwortete die Päpstliche Kommission unmissverständlich die Auffassung, dass Juden Anteil an Gottes Heil haben, und nennt diesen Gedanken „ein abgrundtiefes Geheimnis Gottes“.[12]  Ferner erklärte sie, dass „die katholische Kirche eine spezifische institutionelle Missionsarbeit, die auf Juden gerichtet ist, weder kennt noch unterstützt.“[13]  Obwohl die katholische Kirche das Zeugnis gegenüber Juden nicht in Abrede stellt, hat sie dennoch Verständnis und Sensibilität gegenüber tiefen jüdischen Empfindungen gezeigt und sich von der aktiven Judenmission distanziert.

Der Wandel in der Haltung der Kirche gegenüber der jüdischen Gemeinschaft zeigte sich beispielhaft durch den jüngsten Besuch von Papst Franziskus in einer Synagoge, womit er der dritte Papst war, der diese höchst bedeutsame Geste erwies. Wir wiederholen seine Bemerkung: „Von Feinden und Fremden sind wir zu Freunden und Brüdern geworden… Ich wünsche, dass die Nähe, die gegenseitige Kenntnis und Wertschätzung zwischen unseren beiden Gemeinschaften immer mehr wachsen mögen.“

Diese einladenden Haltungen und Handlungen stehen in starkem Kontrast zu den Jahrhunderten der Lehre der Verachtung und der allgegenwärtigen Feindseligkeit und verkünden ein sehr ermutigendes Kapitel in einem langwierigen Prozess der gesellschaftlichen Transformation.

Bewertung und Neubewertung

Bedingt durch die lange Geschichte des christlichen Antijudaismus zeigten sich anfänglich viele jüdische Führungspersönlichkeiten[14]  im Blick auf die Aufrichtigkeit der Annäherungen der Kirche an die jüdische Gemeinschaft äußerst skeptisch. Im Laufe der Zeit ist klar geworden, dass die Veränderungen in den Haltungen und Lehren der Kirche nicht nur aufrichtig, sondern auch zunehmend tiefgreifend waren und dass wir dabei sind, in eine Ära der wachsenden Toleranz, der gegenseitigen Achtung und Solidarität zwischen den Mitgliedern unserer jeweiligen Glaubensrichtungen einzutreten.

Das orthodoxe Judentum war – durch die Amerikanische Orthodoxe Union und den Rabbinischen Rat von Amerika – bereits ein Teil des Internationalen Jüdischen Komitees für Interreligiöse Konsultationen (IJCIC), das Ende der sechziger Jahre als offizieller jüdischer Vertreter für die Beziehungen zum Vatikan eingerichtet wurde. Eine neue Seite im Verhältnis des orthodoxen Judentums zur katholischen Kirche wurde mit der Gründung des bilateralen Komitees des Oberrabbinats von Israel mit dem Vatikan aufgeschlagen, das 2002 unter dem Vorsitz des Oberrabbiners von Haifa, Rabbiner She'ar Yashuv Cohen, begann. Die veröffentlichten Erklärungen der dreizehn Treffen dieser bilateralen Kommission (die jährlich zwischen Rom und Jerusalem wechseln) vermeiden sorgfältig Fragen im Zusammenhang mit den Grundlagen des Glaubens, befassen sich aber mit einem breiten Spektrum zeitgenössischer sozialer und wissenschaftlicher Herausforderungen, wobei gemeinsame Werte unter Beachtung der Unterschiede zwischen den beiden Glaubenstraditionen aufgezeigt werden.

Sowohl als Katholiken wie auch als Juden anerkennen wir, dass diese brüderliche Gemeinsamkeit unsere Lehrunterschiede nicht beseitigen kann; dies untermauert vielmehr unsere gegenseitig positive Neigung zu grundlegenden Werten, die wir teilen, einschließlich des Bezugs zur Hebräischen Bibel, ohne darauf beschränkt zu bleiben.[15]

Die theologischen Unterschiede zwischen Judentum und Christentum sind tief. Die grundlegenden Überzeugungen des Christentums, die sich auf die Person Jesu als Messias und die Inkarnation der zweiten Person eines dreieinen Gottes konzentrieren, schaffen eine nicht zu überbrückende Trennung vom Judentum. Die Geschichte des jüdischen Märtyrertums im christlichen Europa dient als tragisches Zeugnis für die Hingabe und Beharrlichkeit, mit der Juden jenen Glaubensbekenntnissen widerstanden, die mit ihrem alten und ewigen Glauben unvereinbar sind, der eine absolute Treue sowohl zur schriftlichen als auch zur mündlichen Tora einfordert. Trotz dieser tiefen Differenzen haben einige der höchsten Autoritäten des Judentums festgestellt, dass Christen einen besonderen Status erhalten, weil sie den Schöpfer des Himmels und der Erde anbeten, der das Volk Israels aus der ägyptischen Knechtschaft befreite und der die Vorsehung über die ganze Schöpfung ausübt.[16]

Die Lehrunterschiede sind von wesentlicher Natur und können weder zur Diskussion gestellt noch verhandelt werden; ihr Sinn und ihre Bedeutung bleiben den internen Beratungen der jeweiligen Glaubensgemeinschaften vorbehalten. Das Judentum, das seine Besonderheit von seiner empfangenen Tradition ableitet, die auf die Tage seiner glorreichen Propheten und besonders auf die Offenbarung am Sinai zurückgeht, wird für immer seinen Grundregeln, Gesetzen und ewigen Lehren treu bleiben. Darüber hinaus liegen unseren interreligiösen Diskussionen die tiefen Einsichten so großer jüdischer Denker wie Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik[17] , Rabbiner Lord Emanuel Jakobovits[18]  und vieler anderer zugrunde, die beredt argumentierten, dass die religiöse Erfahrung eine persönliche ist, die oft nur im Rahmen ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft wirklich verstanden werden kann.

Jedoch stehen die Lehrunterschiede und unsere Unfähigkeit, den Sinn und die Geheimnisse des jeweils anderen Glaubens wirklich zu verstehen, unserer friedlichen Zusammenarbeit für die Verbesserung unserer gemeinsamen Welt und das Leben der Kinder Noachs nicht im Wege. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es entscheidend, dass unsere Glaubensgemeinschaften weiterhin einander begegnen und sich einander vertraut machen sowie sich das Vertrauen des je anderen verdienen.

Der Weg nach vorn

Trotz der unversöhnlichen theologischen Unterschiede sehen wir Juden Katholiken als unsere Partner, enge Verbündete, Freunde und Brüder in unserem gemeinsamen Streben nach einer besseren Welt, die mit Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit gesegnet ist.[19]

Wir verstehen unsere Mission, ein Licht für die Völker zu sein, als einen Beitrag zur Anerkennung der Heiligkeit, Moral und Frömmigkeit durch die Menschheit. In dem Maße, wie die westliche Welt immer säkularer wird, gibt sie viele moralische Werte auf, die Juden und Christen miteinander teilen. Die Religionsfreiheit wird dadurch zunehmend von den Kräften des Säkularismus und des religiösen Extremismus bedroht. Wir suchen daher vor allem die Partnerschaft der katholischen Gemeinschaft und anderer Glaubensgemeinschaften im Allgemeinen, um die Zukunft der Religionsfreiheit zu gewährleisten, die moralischen Prinzipien unseres Glaubens zu fördern, insbesondere die Heiligkeit des Lebens und die Bedeutung der traditionellen Familie, sowie „das moralische und religiöse Gewissen der Gesellschaft zu pflegen“.[20]

Als ein Volk, das unter Verfolgung und Völkermord im Laufe unserer Geschichte gelitten hat, sind wir uns alle nur allzu sehr der realen Gefahr bewusst, der viele Christen im Nahen Osten und anderswo ausgesetzt sind, die verfolgt und durch die Gewalt und den Tod durch die Hände jener bedroht werden, die den Namen Gottes vergeblich durch Gewalt und Terror anrufen.

Wir fordern die Kirche auf, gemeinsam mit uns den Kampf gegen die neue Barbarei zu vertiefen, namentlich gegen die radikalen Ableger des Islams, die unsere globale Gesellschaft gefährden und welche die sehr zahlreichen gemäßigten Muslime nicht verschonen. Dies bedroht den Frieden in der Welt im Allgemeinen und die christlichen und jüdischen Gemeinschaften im Besonderen. Wir rufen alle Menschen guten Willens auf, gemeinsam das Böse zu bekämpfen.

Trotz tiefgreifender theologischer Unterschiede teilen Katholiken und Juden den Glauben an den göttlichen Ursprung der Tora und an eine endgültige Erlösung und nun auch in der Bekräftigung, dass Religionen moralisches Verhalten und religiöse Erziehung einsetzen – nicht Krieg, Zwang oder sozialen Druck –, um Einfluss auszuüben und Inspiration zu geben.

Normalerweise verzichten wir darauf, Erwartungen im Blick auf andere Glaubensgemeinschaften auszudrücken. Aber bestimmte Arten von Lehren verursachen wirkliches Leiden; jene christlichen Lehren, Rituale und Unterweisungen, die negative Haltungen gegenüber Juden und Judentum ausdrücken, inspirieren und den Antisemitismus nähren. Deshalb und um die freundschaftlichen Beziehungen und die als ein Resultat von Nostra Aetate gepflegten Gemeinsamkeiten zwischen Katholiken und Juden zu erweitern, rufen wir alle christlichen Konfessionen auf, die es noch nicht getan haben, dem Beispiel der katholischen Kirche zu folgen und den Antisemitismus aus ihrer Liturgie und ihren Lehren zu entfernen, die aktive Mission gegenüber Juden zu beenden und für eine bessere Welt Hand in Hand mit uns, dem jüdischen Volk, zu arbeiten.

Wir wollen unseren Dialog und unsere Partnerschaft mit der Kirche vertiefen, um unser gegenseitiges Verständnis zu fördern und die oben beschriebenen Ziele voranzubringen. Wir suchen zusätzliche Wege, die es uns ermöglichen, gemeinsam die Welt zu verbessern: auf Gottes Wegen zu gehen, die Hungrigen zu ernähren und die Nackten zu bekleiden, den Witwen und Waisen Freude zu bereiten, Zuflucht den Verfolgten und Unterdrückten zu gewähren und so Seinen Segen zu verdienen.

[1] 1 Samuel 15,29.

[2] Vgl. Genesis 17,7 und 17,19, Levitikus 26,42-45, Deuteronomium 20,3-5 usw.

[3] Jesaja 49,6.

[4] Papst Johannes Paul II. schrieb: „Zu Recht nimmt sich die Kirche, während sich das zweite christliche Jahrtausend seinem Ende zuneigt, mit stärkerer Bewusstheit der Schuld ihrer Söhne und Töchter an“ (Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Tertio Millennio Adveniente, 10. November 1994, 33; Acta Apostolicae Sedis 87 [1995], 25). Die Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden schrieb: „Die Tatsache, dass die Schoa in Europa stattfand, das heißt in Ländern mit einer langen christlichen Kultur, wirft die Frage nach der Beziehung zwischen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und der Haltung der Christen gegenüber den Juden in allen Jahrhunderten auf“ („Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa“, 16. März 1998).

[5] Zwei Beispiele unter den vielen dieser Helden der Geschichte sind der Abt Bernard von Clairvaux während der Kreuzzüge und Jules-Géraud Kardinal Saliège von Toulouse während des Zweiten Weltkriegs. Als während der Kreuzzüge ein Zisterziensermönch begann, die Deutschen zu mahnen, Juden zu vernichten, bevor sie den Krieg gegen die Muslime führten, schritt Abt Bernard von Clairvaux persönlich ein, um dies zu beenden. Wie Rabbiner Efraim von Bonn schrieb: „Ein ehrbarer Priester namens Bernhard, eine große Gestalt und ein Meister aller Priester, die ihre Religion kannten und verstanden, sagte zu ihnen: ‚Mein Schüler, der predigte, dass die Juden vernichtet werden sollten, sprach unzulässig, denn es steht für sie im Buch der Psalmen geschrieben: ‚Tötet sie nicht, damit mein Volk nicht vergisst.‘ Alle Leute betrachteten diesen Priester als einen ihrer Heiligen, und unsere Nachforschung ergab nicht, dass er Bestechungsgelder annahm, um gut von Israel zu sprechen. Als sie dies hörten, beendeten viele von ihnen ihr Tun, das über uns den Tod brachte“ (Sefer Zekhirah, hg. von A.M. Haberman, S. 18). Jules-Géraud Saliège (24. Februar 1870 – 5. November 1956) war von 1928 bis zu seinem Tod der katholische Erzbischof von Toulouse und eine bedeutende Persönlichkeit des katholischen Widerstandes gegen das Pro-Nazi-Regime in Frankreich. Er wurde 1946 von Papst Pius XII. zum Kardinal ernannt. Jad WaSchem ehrte ihn als Gerechten unter den Völkern für seine Verdienste, Juden während der Schoa geschützt zu haben.

[6] Das Hauptthema dieses Abschnitts ist der vierte Abschnitt von Nostra Aetate, der sich insbesondere mit dem Verhältnis der katholischen Kirche zu den Juden befasst. Um das Lesen weniger mühsam zu machen, wird nunmehr nur auf Nostra Aetate Bezug genommen, jedoch ist es in unserem Dokument besonders der Artikel 4, auf den wir uns beziehen.

[7] Die Beteuerung von Nostra Aetate ist in früheren kirchlichen Lehren wie im Katechismus des Konzils von Trient aus dem Jahre 1566 verwurzelt. Der vierte Glaubensartikel dieses Dokumentes unter dem Titel „Das Glaubensbekenntnis“ relativiert die den Juden zur Last gelegte Schuld, indem er erklärt, dass die Sündhaftigkeit der Christen noch mehr zur Kreuzigung beigetragen hat. Nichtsdestotrotz setzten sich die Vorwürfe des Gottesmordes gegen Juden über mehrere Jahrhunderte fort. Wenn die Anschuldigungen im Laufe der Zeit gedämpfter wurden, lag dies wahrscheinlich an der Aufklärung, während der der Judenhass einen Teil seines religiösen Charakters in Europa verlor. Andererseits kam Nostra Aetate einem westlichen Wunsch, die Arten des intensiven Judenhasses, der zur Schoa beigetragen hat, zu verleugnen, auf die Spur, und dies war nicht weniger als revolutionär, um in dieser Hinsicht eine sinnvolle Veränderung in der katholischen Kirche herbeizuführen.

[8] Der Grad, zu dem auch Juden des ersten Jahrhunderts bei der Kreuzigung Jesu eine Rolle spielten, ist selbst eine Frage der wissenschaftlichen Kontroverse, aber im Hinblick auf die innere christliche Lehre erkennen wir, dass die Freistellung aller anderen Juden von jeglicher Verantwortung für die Kreuzigung ein äußerst bedeutsamer Schritt für die Kirche ist.

[9] In seinem Buch Jesus von Nazareth: Heilige Woche, 2011 [deutsche Ausgabe: Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg 2011, 208-211.

[10] Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, Vatikan 2013, § 247, § 249.

[11]http://www.worldjewishcongress.org/en/news/pope-francis-to-make-first-official-visit-to-rome und http://edition.cnn.com/2015/10/28/world/pope-jews/.

[12] „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“, Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden, 2015, § 36 - § 39.

[13] Ebenda, § 40.

[14] Siehe zum Beispiel Rabbiner Moshe Feinstein, Responsa Iggerot Moshhe, Yoreh De'ah Vol. 3, § 43, wie auch den französischen Oberrabbiner Jacob Kaplan in seinen Anmerkungen, die in Droit et liberté und in Hamodia, 16. September 1965 zitiert sind. Jeder identifizierte Bereiche, wo die Skepsis gerechtfertigt war.

[15] Kommentar zum Hohenlied (Nachmanides zugeschrieben), in Kitve ha-Ramban, hg. von Chavel, Band II, S. 502-503; Ralbag, Milhamot, hg. Leipzig, S. 356 und Kommentar zur Tora, hg. Venedig, S. 2.

[16] Tosafot Sanhedrin 63b, siehe Asur; Rabbenu Yeruham ben Meshullam, Toledot Adam ve-Havvah, 17,5; R. Moses Isserles zu Schulchan Aruch, Orah Hayyim 156,2; R. Moses Rivkis, Be’er ha-Golah zu Schulchan Aruch Hoshen Mishpat 226,1 & 425,5; R. Samson Raphael Hirsch, Erziehungsprinzipien, „Talmudic Judaism and Society“, S. 225-227.

[17] Vor allem in seinem Aufsatz „Confrontation“, in: Tradition: A Journal of Orthodox Thought, 6, 2 (1964).

[18] Siehe z. B.: “The Timely and the Timeless”, London 1977, Seiten. 119-121.

[19] Die Presseerklärung, die zum vierten bilateralen Treffen zwischen dem Oberrabbinat Israels und dem Heiligen Stuhl in Grottaferrata (Rom, 17.-19. Oktober 2004) herausgegeben wurde (vgl. http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/relations-jews-docs/rc_pc_chrstuni_doc_20041019_rabbinate-israel_en.html), ist in dieser Hinsicht besonders bemerkenswert. Darin heißt es: „Im Bewusstsein der Tatsache, dass es in unseren jeweiligen Gemeinschaften nicht genügend Bewusstsein für die bedeutsame Veränderung gibt, die in der Beziehung zwischen Katholiken und Juden stattgefunden hat, und angesichts der Arbeit unseres eigenen Ausschusses und unserer gegenwärtigen Diskussionen über eine gemeinsame Vision für eine gerechte und ethische Gesellschaft erklären wir: Wir sind nicht Feinde, sondern eindeutige Partner, um die wesentlichen moralischen Werte für das Überleben und das Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft zu artikulieren.“

[20] Wie bei Jacobovits, ebenda, formuliert.

Editorische Anmerkungen

Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Hermann Henrix; Redaktion JCR.