„Wir brauchen Zivilcourage in diesem Land“

04. November 2019 - Ein stärkeres gesellschaftliches Engagement und einen besseren Zusammenhalt der Gesellschaft hat der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, anlässlich des wiedererstarkenden Antisemitismus in Deutschland und Europa gefordert. Das sei eine gemeinsame Sorge von Christen und Juden, die „sich niemals mehr voneinander trennen werden“, so Kardinal Marx auf einem Podium in Berlin gestern Abend (3. November 2019).

Bei der von der Deutschen Bischofskonferenz und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands durchgeführten Veranstaltung fragte der Kardinal, wie künftig eine offene Gesellschaft aussehen könne. „Ich bin in großer Sorge, weil ich unsere Gesellschaft erlebe, in der es immer mehr ‚closed shops‘, Blogs und Ideologien von Menschen gibt, die sich nicht belehren lassen, die sich in Verschwörungstheorien ergehen und rasch einen Resonanzboden für dumpfe Parolen des Antisemitismus finden.“

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, erläuterte, dass die Ereignisse von Halle in den vergangenen Wochen an der jüdischen Gemeinschaft gezehrt und zu Verunsicherung geführt hätten. Hier sieht er auch künftig eine hohe Verantwortung bei den  Sicherheitsbehörden. In Deutschland sei es möglich geworden, Dinge – vor allem antisemitischer Natur – auszusprechen, was es vor einigen Jahren so noch nicht gegeben hätte. „Das ist ein Verschieben von roten Linien“, so Schuster. Die vielen Solidaritätsbekundungen seien ein hoffnungsvolles Zeichen gewesen. „Was wir brauchen, ist sehr kostengünstig zu haben: Wir brauchen Zivilcourage eines jeden Einzelnen. Zivilcourage kann unser Land verändern. Dann wäre eine Menge erreicht.“

Zur Zivilcourage gehört nach Auffassung von Rabbiner Julian-Chaim Soussan, Beiratsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands, vor allem Bildung auf allen Ebenen. „Die Möglichkeit für geistige Brandstifter beim Antisemitismus hat Formen angenommen, die niemand für möglich gehalten hätte. Deshalb muss ein Konsens der gesellschaftlichen und politischen Mitte gestärkt werden, eine Mitte, die sich auf Demokratie und Werte verständigt“, so Soussan. Weil Antisemitismus die „Qualität“ habe, immer und überall und zu jeder Zeit zu funktionieren, sei es Aufgabe der Erzieher in den Bildungsbereichen hier zu antworten: „Es darf keine Bagatellisierung von Antisemitismus in den Schulen geben. Deshalb brauchen wir ein Miteinander, das Begegnung möglich macht, das Kennenlernen der jeweils anderen Religion“, forderte Soussan.

Diesen Aspekt griff der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet auf: Es sei Empathie gefragt, um Kinder und Jugendliche zu erreichen, auch um ihnen Erinnerungskultur zu vermitteln. Er erinnerte an den Jugendaustausch der Bundesländer mit Yad Vashem in Jerusalem und eine Reise mit muslimischen Jugendlichen nach Auschwitz. „Gerade dann, wenn die Barbarei sich Bahn bricht, müssen wir junge Menschen gewinnen, die dagegen aufstehen. Das ist eine Investition in die Zukunft“, sagte Laschet. Gleichzeitig warb er für ein Reden über Religion: „Religion muss im öffentlichen Raum stattfinden, sonst wird es bald eine radikale Säkularisierung geben. Wenn wir nicht mehr über Religion reden – und zwar vom Kindergarten an –, dann wird man künftig religiöse Symbole nicht mehr verstehen und das Reden über Religion noch schwieriger.“ Der Antisemitismus, so Ministerpräsident Laschet, sei seit 1945 nie ganz verschwunden. „Er war immer da, er hat sich nur unterschiedlich artikuliert. Deshalb muss der Kampf gegen den Antisemitismus – überall in Europa – in jeder Generation bei Null beginnen.“

Diese Forderung bekräftige die Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission, Katharina von Schnurbein: „Jede Generation sei verpflichtet, ja wir alle müssen aufstehen, um jeder antisemitischen Hassrede zu widersprechen. Die hochkomplexe Situation in Europa macht es notwendig, sich auf gemeinsame Standards – auch in der Definition von Antisemitismus – zu verständigen.“

Kardinal Marx betonte den religiösen Aspekt, mit dem Antisemitismus häufig argumentiere. „Da müssen wir uns als Christen kritisch fragen: Dürfen wir das zulassen? Durch das Zweite Vatikanische Konzil ist mit der Erklärung Nostra aetate viel erreicht worden. Manchmal bin ich aber überrascht, wie viel Unwissen es in unseren eigenen Reihen beim Thema des Verhältnisses zu den anderen Religionen gibt.“ In der Diskussion betonte Kardinal Marx, ob nicht Aspekte des theologischen Verständnisses zwischen Christen und Juden stärker in die Priester- und Rabbinerausbildung integriert werden müssten. „Vielleicht ist jetzt die Zeit da, wo man sich in der Ausbildung austauscht und besucht, um einander kennenzulernen. Antisemitismus ist ein Angriff auf uns alle! Christen und Juden werden sich niemals mehr voneinander trennen. Auch das muss in unseren Ausbildungsstätten deutlich werden. Wir brauchen Begegnung und Sensibilität auf diesem Feld“, so Kardinal Marx. Er erinnerte an die jüdisch-christliche Tradition: „Wir können nicht Christen ohne die Juden sein. Und ohne die jüdische Tradition des Alten Testamentes könnten wir Jesus nicht begreifen. Das ist eine Selbstverständlichkeit unseres eigenen Glaubens, die bei einigen offensichtlich noch nicht angekommen ist. Wir, Juden und Christen, sind aneinander gebunden. Wir waren oft nicht gut aneinander gebunden. Die Geschichte muss jetzt weitergehen: Wir sind freundschaftlich und uns gegenseitig bereichernd verbunden. Das sollte bis in die Pfarreien hinein deutlich werden“, so Kardinal Marx.

An der Veranstaltung in der Katholischen Akademie Berlin nahmen mehr als 300 Gäste teil. Das ursprüngliche Thema „Ist Europa alt, müde und kraftlos geworden“ orientierte sich aufgrund der aktuellen Ereignisse stärker an der Frage des Antisemitismus in Deutschland. Das Podium war die erste gemeinsame Veranstaltung der Deutschen Bischofskonferenz und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Deutsche Bischofskonferenz.