Das enorme Interesse von Juden und Palästinensern an dem Konflikt lässt sich leicht mit ihrer Verbundenheit mit der Region oder ihrer religiösen oder kommunalen Zugehörigkeit erklären. Es wird jedoch selten über die Gründe diskutiert, warum dieses Thema - ein weit entfernter Konflikt, der nur wenige Menschen unmittelbar betrifft - eine so weit verbreitete Verbitterung und Feindseligkeit unter denjenigen hervorruft, die weit davon entfernt leben und nicht direkt damit zu tun haben. Warum scheinen sich so viele Menschen und Organisationen (z. B. amerikanische Schulausschüsse und Stadträte, Gewerkschaften und Kirchen) so sehr für den Konflikt zu interessieren und so lautstark darüber zu reden, obwohl sie keine Verbindung zu ihm haben? Was beeinflusst ihre Ansichten? Dies sind Meta-Fragen, die sich nicht auf die Handlungen in dem Konflikt beziehen, sondern eher auf das Wesen der Konfliktparteien und das Interesse an dem Konflikt selbst.
Die Palästinenser haben unbestreitbar jahrzehntelang viel gelitten. Dennoch gibt es kaum Anzeichen dafür, dass die westliche Bevölkerung Sympathie oder gar Interesse für die Palästinenser selbst hegen. So haben beispielsweise nur wenige Amerikaner protestiert, als Präsident Trump 2018 die US-Unterstützung für das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge drastisch kürzte. Sehr viel öfter hingegen, wie an einigen Universitäten und Kirchen, führt eine pro-palästinensische Haltung zu einer Befürwortung von Strafmaßnahmen gegen Israel.
Eine weitere mögliche Erklärung für das große Interesse an dem Konflikt ist die Beteiligung Israels. Als einziger jüdischer Staat, der im Schatten eines Völkermordes gegründet wurde und derzeit die Kontrolle über wichtige religiöse Stätten ausübt, zieht Israel seit langem große internationale Aufmerksamkeit auf sich. In letzter Zeit hat sich diese Aufmerksamkeit zu einer wahren Flut gesteigert. Einige unterstellen dabei Antisemitismus oder argumentieren, Israels Handlungen seien so ungeheuerlich, dass scharfe Kritik gerechtfertigt ist, oder sie verweisen auf die umfangreiche amerikanische Hilfe, die Israel erhält. Ohne diese Erklärungen in Abrede zu stellen, möchte ich tiefergehende Erklärungen in Betracht ziehen, die nicht auf aktuelle politische oder wirtschaftliche Ereignisse, sondern auf historische Muster und Denkweisen über Juden in westlichen und christlichen Gesellschaften zurückzuführen sind. Diese, so glaube ich, prägen zumindest teilweise den Diskurs, insbesondere bei den Israel-Kritikern.
Die westliche Vorstellungskraft
Ich behaupte, dass die derzeitige intensive, oft feindselige Konzentration auf Israel eine zeitgenössische Manifestation einer lang anhaltenden, historischen Entwicklung ist: Juden haben seit Jahrhunderten einen besonders prominenten Platz in der westlichen und christlichen Vorstellungswelt eingenommen, und die gegenwärtige intensive Beschäftigung mit Israel lässt sich zumindest teilweise als Fortsetzung dieser Entwicklung erklären. Wenn wir auf diese Jahrhunderte zurückblicken - von der Antike bis zur Moderne - stellen wir immer wieder fest, dass Juden und das Judentum unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit erhalten und verzerrt dargestellt werden. Trotz der geringen Größe der jüdischen Gemeinden, ihres Mangels an politischer Macht, der Einschränkungen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten, und der geringen Wahrscheinlichkeit, dass Nicht-Juden jemals mit Juden zusammentrafen, waren Juden im Laufe der Jahrhunderte dennoch Gegenstand einer enormen Anzahl westlicher und christlicher Theorien, von denen viele antagonistisch waren. Christen drückten ihre Ängste, ihre Zweifel und ihre Unsicherheiten oft in Begriffen aus, die sich auf Juden bezogen und Vorstellungen von ihnen enthielten, von denen sich Christen unterscheiden oder (positiv) abgrenzen konnten. Dies war möglich, weil die Sicht der Christen auf die Juden weitgehend eine christliche Schöpfung war - stark symbolisch, mehrdeutig, instabil und mehr von religiösen und säkularen Ideen beeinflusst als von tatsächlichem Wissen, vor allem von theologischer Polemik. David Nirenberg fasst in seinem BuchAnti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens zusammen: Die Christen „haben die Bedrohung durch das Judentum in einige der grundlegenden Konzepte des westlichen Denkens einfließen lassen.“
Die Erfahrungen und Wahrnehmungen der Juden über viele Jahrhunderte hinweg mögen von der Gegenwart weit entfernt erscheinen, aber ich glaube, dass sie einen tiefgreifenden und dauerhaften Einfluss auf die heutigen Ansichten über Israel haben. Dies gilt selbst für diejenigen, die wenig über diese Geschichte wissen oder einräumen, dass sie davon beeinflusst wurden, denn solche Vorstellungen sind in der westlichen Gesellschaft tief verwurzelt und fast überall verbreitet. Sie verdrängen normale Urteile, die auf allgemeinen moralischen und pragmatischen Einschätzungen beruhen, wenn über Juden damals und Israel heute in typisch übertriebenen Begriffen gedacht wird, die auf polemischen oder phantastischen Annahmen beruhen und einseitige Aufmerksamkeit erhalten.
Ich möchte eine Reihe von Parallelen zwischen den historischen Ansichten über Juden und den heutigen Ansichten über Israel, den jüdischen Staat, aufzeigen. In jedem der folgenden Abschnitte stelle ich zunächst die historischen Ansichten vor und fasse einige der vorherrschenden Sichtweisen auf Juden in westlichen und christlichen Gesellschaften zusammen. Anschließend stelle ich zeitgenössische Ansichten vor, die meiner Meinung nach bemerkenswerte Parallelen zu den historischen Ansichten aufweisen, wie sie in wichtigen Werken untersucht wurden. Ich verzichte in der Regel auf spezifische Zitate historischer oder zeitgenössischer Ansichten; das würde von meinem Hauptziel ablenken, das darin besteht, die Möglichkeit, die Relevanz und den Nutzen einer solchen Analyse über die Jahrhunderte hinweg aufzuzeigen, um im zeitgenössischen Diskurs über Israel einen Sinn zu finden. Es überrascht nicht, dass fast alle historischen Ansichten feindselig oder wenig schmeichelhaft sind, denn sie wurden von antagonistischen theologischen, sozialen und wirtschaftlichen Überzeugungen über Juden beeinflusst. Aus diesem Grund sind sie jedoch auch für die zeitgenössischen Ansichten relevant, denn viele von ihnen sind ebenfalls weitgehend feindselig gegenüber Israel und im weiteren Sinne, wenn auch nicht ausdrücklich, gegenüber den dort lebenden Juden (und manchmal auch gegenüber den anderswo lebenden Juden). Auf diese Ansichten werde ich mich in vier Kategorien konzentrieren. Vor allem vermeide ich es, über die Motive der Kritiker zu spekulieren, die vermutlich vielfältig sind und leicht falsch dargestellt werden können. Meine Ausführungen sind bescheidener, aber hoffentlich auch überzeugender, was den offensichtlich anhaltenden Einfluss historischer Ansichten über Juden betrifft.
Erste Parallele: Juden/Israel als Spitze des Bösen
Die Christen hatten lange Zeit irrationale und phantastische Vorstellungen von der jüdischen Bösartigkeit ihnen gegenüber. Manche sahen in den Juden nicht nur eine feindselige Haltung gegenüber den Christen. Sie wurden beschuldigt, Christen zu Märtyrern zu machen, christliche Kinder zu ermorden, Brunnen zu vergiften, Krankheiten zu verbreiten, rituelle Gegenstände zu entweihen und die christlichen und später säkularen westlichen Gesellschaften, in denen sie lebten, heimlich zu untergraben. Sie wurden fälschlicherweise der schrecklichsten Taten beschuldigt, die man sich vorstellen kann, eine Bedrohung des eigenen Lebens und der eigenen tiefsten religiösen Überzeugungen. Diese Denkmuster beruhten auf schrecklichen Annahmen über die jüdischen Motive, etwa dass Juden, bekämen sie die Chance, Christen fürchterliche Dinge antun wollten (und es manchmal auch erfolgreich taten).
Ähnlich beschuldigen einige Israel heute nicht nur einer schlechten Politik und der Übertretung rechtlicher und moralischer Normen. Vielmehr werden die Vorwürfe der Bösartigkeit auf die Spitze getrieben. So werden Israelis nach tragischen Kampfsituationen, bei denen Unschuldige ums Leben gekommen sind, regelmäßig beschuldigt, vorsätzlich Morde begangen zu haben. Die Lebensmittelknappheit im Gazastreifen, die zu Recht Aufmerksamkeit und Abhilfe verdient, soll eine bewusst kalkulierte israelische Politik sein, um die Zivilisten, unter denen sich die Hamas versteckt, auszuhungern. Oft hört man die Behauptung, dass schreckliche Taten mit tödlichen Folgen, die manchmal durch inakzeptable Unachtsamkeit oder sogar Fahrlässigkeit der Israelis verursacht werden, in Wirklichkeit beabsichtigt sind. Damit wird den Israelis und der israelischen Politik ein unmenschliches Maß an vorsätzlicher Bösartigkeit zugeschrieben, das weit über das hinausgeht, was anderen westlichen Militärs zugeschrieben wird, die in den tragischen Tod Unschuldiger verwickelt sind. (Ich kann mich zum Beispiel nicht daran erinnern, dass irgendjemand behauptet hätte, die Bombardierung von Hochzeitsgesellschaften oder von Kindern auf der Straße in Afghanistan durch das amerikanische Militär vorsätzlicher Mord gewesen sei).
In ähnlicher Weise wurde Israel regelmäßig von den Vereinten Nationen (seit 1982), internationalen Gerichtshöfen und Organisationen (z. B. der Weltkonferenz gegen Rassismus 2001) des Völkermords beschuldigt. Diese Behauptung - die natürlich an die Shoah erinnert - schlägt sich in dem nieder, was Francesca Albanese, die höchst umstrittene UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, als „das Verbrechen der Verbrechen“ bezeichnete. Die Verwendung dieser extremen Terminologie schließt eine objektive Analyse mit den herkömmlichen Mitteln zur Bewertung staatlicher Handlungen sofort aus. Angesichts eines derart mörderischen Übels erscheint es geradezu absurd, in einer Diskussion Israels militärische und politische Aktionen nuanciert und ausgewogen zu hinterfragen. Der Vorwurf des Völkermords signalisiert ein moralisches Vergehen höchsten Ranges, das Fragen nach der Legitimität des Staates und nicht nur nach seiner Politik aufwirft.
Der Vorwurf, Israel sei ein kolonialistisches Projekt des Westens, hat eine ähnliche Wirkung, da der Kolonialismus weithin als eine der großen Ungerechtigkeiten der Moderne aufgefasst wird. Die toxische Mischung aus Rassismus, Ausbeutung, Autoritarismus und Unterwerfung, die dem traditionellem Kolonialismus innewohnt, stellt für viele den Gipfel des Bösen in der westlichen Welt dar, so dass diejenigen, denen Kolonialismus nachgesagt wird, fast alle zeitgenössischen moralischen Normen gleichzeitig mit Füßen treten. Auch hier erscheint eine vernünftige und nuancierte Diskussion, in diesem Fall über die Geschichte der Region, wie ein Ablenkungsmanöver, wenn bereits die Gründung Israels als jenseits aller Norm charakterisiert wird.
Zweite Parallele: Die Erbsünde der Juden/Israels ist eine falsche Theologie/Ideologie
In der Vergangenheit vertraten Christen und Menschen im Westen fast durchgängig die Ansicht, dass das Judentum irrational sei und dass Juden die Normen und Überzeugungen der Mehrheit (d. h. des Christentums/des Westens) absichtlich ablehnen. Den Juden wurde nachgesagt, dass sie trotz der unbestreitbaren Wahrheit des Christentums stur an einer falschen und überholten Weltanschauung festhalten. Während andere Religionen und Irrlehren zuweilen auf gewalttätigen Widerstand stießen, war das Judentum über die Jahrhunderte hinweg einzigartig in seinem Status als gegenwärtige, sogar sichtbare Manifestation einer angeblichen Umkehrung der christlichen Werte. Juden waren natürlich nicht zu allen Zeiten und an allen Orten unablässiger Feindseligkeit ausgesetzt, aber die Antipathie gegenüber dem Judentum war nahezu konstant, vor allem dann, wenn Christen versuchten, die Grundlagen ihrer Gemeinschaften zu definieren, indem sie versicherten, dass Juden außerhalb dieser Grundlagen stünden.
In ähnlicher Weise behaupten moderne Kritiker Israels, dass sich sein ideologisches Fundament qualitativ von dem anderer Länder unterscheidet. Die Behauptung lautet, dass der Zionismus - Israels Gründungsideologie der jüdischen Selbstbestimmung und Souveränität in der biblischen Heimat - von Natur aus rassistisch und diskriminierend ist und daher keine Legitimität besitzt. Natürlich stützen sich eine Vielzahl von Staaten ebenfalls auf andere politische und nationale Bewegungen, manche friedlich und inklusiv, andere gewaltsam und exklusiv. Einige Nationen haben offizielle Kirchen oder Staatsreligionen und eine religiöse Identität, die in ihren Gründungstexten verankert ist oder privilegiert hervorgehoben wird. Einige sind auch aus Konflikten hervorgegangen, einschließlich groß angelegter Bevölkerungstransfers und Verwerfungen in ganzen Regionen; dies ist sicherlich der Fall bei Israel. Die Erfahrung Israels ist also keineswegs einzigartig. Dennoch gibt es keine parallele Formulierung für die Feindseligkeit gegenüber anderen nationalen Bewegungen, keinen Anti-Kurdismus, Anti-Pakistanismus oder Anti-Bangladeschismus neben dem Anti-Zionismus, denn es gibt keine andere nationale Ideologie (und keinen Staat), der so scharf bewertet wird, um seine Beseitigung zu rechtfertigen. Nur der jüdische Charakter Israels ruft weit verbreiteten Widerstand hervor, da er als einzigartig überholt und unmoralisch gilt. Insbesondere die komplexe Mischung aus Nationalismus, Religion und einer engen Verbindung mit dem Territorium, auf dem das Land steht, veranlasst einige dazu, den Zionismus in Anspielung auf den Nationalsozialismus als „Blut-und-Boden“-Ideologie zu missbilligen. Israel ist in einzigartiger Weise mit dieser Art von „Erbsünde“ behaftet, wodurch jede Rechtfertigung für seine Gründung untergraben wird.
Dritte Parallele: Juden/Israelis als die ultimativen Eindringlinge
Im Laufe der Jahre wurden die Juden wiederholt aus Regionen in Europa vertrieben (z. B. 1290, 1306, 1492, 1569, 1742). In einigen Gebieten hatten sie jahrhundertelang gelebt, allerdings ohne jegliche Souveränität und abhängig vom Wohlwollen der Nicht-Juden. Aufgrund der sich verschlechternden sozialen Lage, der sich verändernden wirtschaftlichen Entwicklung, der Anschuldigungen, Juden seien der nicht integrierbare „Andere“, und der zunehmenden religiösen Inbrunst und Feindseligkeit gegenüber Nicht-Gläubigen zerschlugen christliche Herrscher die jüdischen Gemeinden und forderten sie manchmal ohne Vorwarnung zum Verlassen auf. Ihre Motive waren eine Mischung aus praktischen und theologischen Erwägungen, wobei letztere tief in den älteren religiösen Ansichten des Christentums über die Juden verwurzelt waren. Als Ungläubige sollten sie aus ihrer biblischen Heimat in alle Winde zerstreut werden, ohne politische oder militärische Stärke. Sie sollten schwach gehalten und von Nicht-Juden regiert werden, wobei die jüdische Diaspora und ihre Machtlosigkeit als anschauliche Symbole für den Triumph des Christentums über das Judentum dienten.
Ebenso werden die Juden Israels seit langem als Eindringlinge und vorübergehende Bewohner der Region dargestellt, die zur Vertreibung bestimmt sind (oder diese verdienen). Unter ihren Nachbarn ist dieses Gefühl vielleicht verständlich; die Araber und Muslime in der Region ärgern sich über die Veränderungen und Verwerfungen, die mit der Gründung des Staates Israel einhergingen. Viele Menschen außerhalb der Region, für die die Präsenz Israels keine praktischen Auswirkungen hat, lehnen jedoch die jüdische Souveränität und Selbstverwaltung ebenfalls ab. Antizionismus, die Überzeugung, dass der Staat Israel keine Legitimität besitzt, bedeutet zwangsläufig den Verlust der Selbstbestimmung und vermutlich die Flucht aus dem Land Israel (wobei wahrscheinlich nur wenige die Risiken eines Lebens als politische Minderheit akzeptieren würden). Diese Vorstellung, ob sie nun auf dem Unrecht der Gründung Israels und/oder der israelischen Politik beruht, hat starke Anklänge an die Sichtweise vom historischen Exil der Juden als einer Strafe: Die Juden sollten eine schwache Minderheit bleiben, die zu ihrer Sicherheit auf die faire Behandlung und den guten Willen anderer angewiesen ist. Israels nationalistisches Ethos und sein häufiger Rückgriff auf militärische Gewalt bedrohen diese Sichtweise besonders.
Vierte Parallele: Juden/Israel reduziert auf Symbole
Obwohl historisch gesehen nur wenige Christen wirklich mit ihnen zu tun hatten, dienten Juden als Symbole für Ansprüche und Überzeugungen, die Christen ablehnten oder verachteten. Man konnte seine Gegner als „Juden“ verunglimpfen und sich dabei auf die weit verbreitete Unkenntnis der tatsächlichen Juden und die scheinbar grenzenlose Biegsamkeit solcher Bilder stützen. Die so genannten Judaisierer, die mit Paulus über das biblische Gesetz stritten; die Juden, die die Christen angeblich dazu verleiteten, das Christentum zu negieren oder aufzugeben; die Juden, die angeblich antichristliche Eigenschaften wie Gesetzlichkeit verkörpern; die Juden als Symbole für verdorbene Weltlichkeit statt für lebendige Spiritualität - das alles waren zumindest teilweise Schöpfungen der christlichen Vorstellungskraft. Ohne reale Gründe wurden die Juden (oder „die Juden“) in innerchristliche Auseinandersetzungen darüber verwickelt, wie das soziale und religiöse Leben aussehen und wie es nicht aussehen sollte. Laut Nirenberg waren solche christlichen Vorstellungen „über Juden Waffen, die für den Einsatz in Konflikten mit anderen Christen geschmiedet wurden“.
Die Entscheidung, Juden als Symbole zu behandeln, war nicht zufällig; sie spiegelte den diffusen Prozess der christlichen Selbstdefinition in Abgrenzung zum und gegen das Judentum wider wie auch das paradigmatische „Othering“ der Juden in der Gesellschaft über viele Jahrhunderte. Sie spiegelt auch eine lange Geschichte antijüdischer Feindseligkeit wider. Als formbare Symbole wurden die Juden in umfassendere christliche Auseinandersetzungen hineingezogen, die nur am Rande mit den tatsächlichen Juden zu tun hatten. Außerdem war die Feindseligkeit gegenüber Juden traditionell groß genug, um auch Gruppen einzubeziehen, die sich ansonsten gegenseitig bekämpften. Es ist bekannt, dass sowohl reiche als auch arme Christen Juden als Feinde ansahen, selbst wenn keine Juden anwesend waren. Dies gilt auch für Katholiken und Protestanten, Eliten und Nicht-Eliten, Säkularisten/Rationalisten und Traditionalisten. Obwohl die verschiedenen Gruppen einander misstrauten und sich sogar hassten, hatten sie einen gemeinsamen symbolischen Feind, dem sie jene Überzeugungen und Eigenschaften zuschreiben konnten, die sie an ihren Feinden verachteten.
Ebenso werden die durch den Israel-Gaza-Konflikt aufgeworfenen Fragen oft als Behauptungen über Israel formuliert, scheinen aber manchmal andere Streitigkeiten widerzuspiegeln. Israel ist ein Gefäß für diese Auseinandersetzungen und dient als Symbol für das, was verwerflich, überholt, unmoralisch oder zweideutig ist. Wie bereits erwähnt, gibt es beispielsweise viele Diskussionen über Israel und den Kolonialismus. Während sich einige dieser Diskussionen inhaltlich mit der Geschichte Israels auseinandersetzen, scheint der Streit häufiger eine Gelegenheit zu bieten, den Kolonialismus als solchen abzulehnen. Dies ist sinnvoll, da die meisten westlichen Beispiele für Kolonialismus in der Vergangenheit liegen und den Bewohnern der westliche Welt nur wenige Möglichkeiten bieten, sich mit dem Kolonialismus der Gegenwart auseinanderzusetzen. Israel kann als herausragendes, fortlaufendes Beispiel für ein schreckliches, historisches Unrecht dienen, das früher, aber heute nicht mehr von Nicht-Juden begangen wird.
In diesem Zusammenhang könnte man feststellen, dass dieser Konflikt in vielen Bereichen zu Streitigkeiten über den gerechten Krieg geführt hat. Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas ist natürlich nur einer von zahlreichen Konflikten der jüngsten Zeit. Doch mit Ausnahme der Kriege, an denen Amerikaner (oder Menschen aus dem Westen) direkt beteiligt waren (vor allem Vietnam), löst kein anderer Konflikt eine so breite und leidenschaftliche Diskussion über die Ziele des Krieges und die Art und Weise, wie Krieg im Allgemeinen geführt wird, aus. Natürlich ist dies eine wichtige Diskussion, aber einzig im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und Gaza wird das Thema in der Öffentlichkeit und in der akademischen Welt heftig diskutiert, wobei ein Großteil der Kritik an Israel geübt wird. Und die anschließenden Behauptungen, der Krieg sei nicht nur falsch, sondern philosophisch und moralisch ungerecht, unterbinden erneut eine Diskussion und wecken tiefgreifende Zweifel an dem Krieg und der Nation, die ihn führt.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass Israel dazu dient, andere Kontroversen zu kanalisieren, ist die Ansicht, dass sich Israel im Konflikt mit dem Islam befindet. Indem sie das Modell vom „Kampf der Kulturen“ ablehnen, demonstrieren die Gegner Israels ihre Bereitschaft, mit muslimischen Gruppen zusammenzuarbeiten und sich für nicht-westliche Menschen einzusetzen. Anstatt den „Anderen“ zu meiden oder zu fürchten, wird die Opposition gegen Israel genutzt, um angesichts der antimuslimischen Ansichten im Westen gegenüber dem Islam Offenheit zu signalisieren. Diese Feindseligkeit dient dazu, eine beispiellose Mischung von Gruppen zu vereinen. Besonders bemerkenswert ist, dass Muslime und Progressive trotz völlig unterschiedlicher Weltanschauungen (z. B. in Bezug auf Geschlecht, Religion, Homosexuellenrechte und Politik) gemeinsam an der Spitze des Aktivismus gegen den Krieg in Gaza stehen.
Israel hat auch noch auf andere Weise eine symbolische Funktion. Protestantische Mainstream-Gruppen streiten sich mit evangelikalen Gruppen über den christlichen Zionismus. Obwohl es vordergründig um die Frage geht, wie viel Unterstützung (wenn überhaupt) man Israel geben soll, verbirgt sich hinter diesem Streit eine große innerchristliche Kluft über die Auslegung der Heiligen Schrift, politischen Aktivismus und christliche Werte, die nicht direkt mit Israel zu tun haben. Starke kulturelle Unterschiede in der Frage, wer als unterdrückt angesehen werden kann und somit einer besonderen Behandlung wert ist, lauern ebenfalls in diesem Streit, wenn man bedenkt, wie sehr es umstritten ist, ob Juden als unterdrückte Gruppe gelten können. Diskussionen über Israel bringen tiefe Spannungen in Organisationen zum Vorschein. Die Meinungsverschiedenheiten über Israel haben etwa die Demokratische Partei in den USA wie kein anderes Thema gespalten und eine schwelende Bruchlinie zwischen der Mitte und der Linken offenbart. Eine große Zahl von Fakultäten an den Universitäten ergreifen in diesem Konflikt Partei. Viele unterschreiben Briefe, die eine tiefe Wut und Enttäuschung über diejenigen zum Ausdruck bringen, die mit ihnen in ihrer Sicht auf Israel, aber auch in ihren Ansichten über den Auftrag der Universität, ihr Verständnis von akademischer Freiheit, Aktivismus und moralischen Verpflichtungen nicht übereinstimmen.
Auch hier kommt einem kaum ein anderer Konflikt in den Sinn, geschweige denn einer im Ausland angesiedelter Konflikt, der ein so unterschiedliches Spektrum von Aktivisten vereint oder beschäftigt oder der so viele (manchmal nicht zusammenhängende) Fragen aufwirft. Ich erwähne dies nicht, um die Ernsthaftigkeit der Sorge um diesen Konflikt seitens der Aktivisten infrage zu stellen. Vielmehr möchte ich die einzigartigen Merkmale dieses Aktivismus hervorheben, die in ihrer Kritik an Israel und den Parallelen zu historischen Ansichten über Juden aufscheinen.
Israel: Der Jude im Großformat
Diese historischen Parallelen weisen auf eine bemerkenswerte Entwicklung hin: Der Staat Israel ist zum Juden im Großformat geworden. Viele der historischen Behauptungen über Juden weisen Parallelen zu den heutigen Behauptungen über Israel auf. Die Gründe für die historischen Behauptungen sind unterschiedlich, obwohl die meisten auf bekannten theologischen und säkularen Überzeugungen über Juden beruhen. Wenn man die (vielleicht nicht erkennbaren) Motive hinter den zeitgenössischen Behauptungen einmal ausklammert und pejorative Begriffe wie Antisemitismus und Antijudaismus vermeiden will, scheint mir hier das auf Zygmunt Bauman zurückgehende Konzept des "Allosemitismus" (Juden als die 'Anderen') nützlicher zu sein. Kurz gesagt postuliert es, dass Christen zwanghaft ein Bild von Juden verwendeten, um religiöse und soziale Normen abzugrenzen, insbesondere in verunsichernden Zeiten der Ambivalenz. Den Juden konnte eine abstrakte Rolle als der „Andere“ zugewiesen werden, gegen den die Christen ihre eigene Identität abgrenzen konnten. Dieses Modell lässt sich gut auf viele zeitgenössische Ansichten über den Staat Israel anwenden. Israel wird von vielen als etwas Einzigartiges unter den Völkern angesehen, so wie die Juden im Laufe der Zeit als der vollkommene Andere behandelt wurden, und der Diskurs weist starke Kontinuitäten zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Nur hat sich jetzt der Schwerpunkt verlagert: von den Juden als Volk zu den Juden Israels als einem Gemeinwesen.