Nach der Schoa gingen entscheidende Impulse für die Begegnung zwischen Juden und Christen u. a. von dem jüdischen Historiker Jules Isaac[1] aus, einem Mitbegründer der französischen christlich-jüdischen Dialoggruppe „Amitié Judéo Chrétienne“ (1948). In seinen bekannten Werken „Jésus et Israel“ (Paris, 1946)[2] und „L’enseignement du mépris“ (Paris 1962) zeigt Jules Isaac die jüdischen Wurzeln des Christentums auf und fasst wesentliche Aspekte der antijüdischen Traditionen in den Kirchen als „Lehre der Verachtung“ zusammen. In Brief Nr. 39 fordert Isaac die Verurteilung der „Lehre von der Verachtung“, die dem jüdischen Volk durch die christliche Verkündigung zuteil wird. Diese Verurteilung muss von höchster Stelle aus geschehen (durch den Papst bzw. durch ein Konzil).
Jules Isaac hatte eine Audienz bei Papst Pius XII. am 16. Oktober 1949 in Castel Gandolfo und im Juni 1960 bei Papst Johannes XXIII.[3] Im Verlauf der Audienz übergab Jules Isaac Papst Johannes ein dreiteiliges Dossier: 1. Ein Programm zur Richtigstellung falscher, ja ungerechter Aussagen über Israel in der christlichen Unterweisung. 2. Das Beispiel einer theologischen Legende, dass nämlich die Zerstreuung Israels eine von Gott über Volk verhängte Strafe für die Kreuzigung Jesu sei. 3. Einen Auszug aus dem Trienter Katechismus, der bei seiner Behandlung der Passion die Schuld aller Sünder als die tiefste Ursache des Kreuzestodes Christi hervorhebt und daher beweist, dass die gegen die Juden erhobene Anschuldigung des Gottesmordes nicht zur heilen Tradition der Kirche gehört.
Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils „Nostra Aetate“[4]
Die am 28. Oktober 1965 verabschiedete Erklärung „Nostra aetate“ richtet sich, wie jeder Konzilstext, zuerst an die eigenen Kirchenmitglieder. Er spricht daher nicht direkt über andere Religionen und auch nicht über den interreligiösen Dialog, zu dem er ermutigen möchte, und auf den er die Kirche in Übereinstimmung mit der Kirchen- und Pastoralkonstitution verpflichtet. Aber wie das gesamte Konzil drückt auch dieser Text angesichts und mit dem Ohr der anderen zuerst die eigene Selbstbestimmung aus: Wer bin ich im Angesicht von …? Die wichtigsten Überzeugungen zum Verständnis des Textes seien kurz genannt: Die Kirche ist mit ihrer ganzen Lehrautorität der unerschütterlichen Überzeugung, dass der Heilswille Gottes alle Menschen umfängt. Daher bekennt sie sich uneingeschränkt zur Religionsfreiheit (Dignitatis Humanae) und weiß sich gesendet im Dialog für die Würde des Menschen, Frieden und Gerechtigkeit einzutreten.
Johannes XXIII. wünschte sich nach einem Gespräch mit Jules Isaac eine Erklärung zum Judentum. Angesichts der Katastrophe der Schoa haben sich alle christlichen Kirchen in Europa einem tiefen Umkehr- und Erneuerungsprozess unterworfen und die eigene antijüdische Geschichte als ein nicht unwesentlicher Faktor des säkularen Antisemitismus und Rassenwahns erkannt. Die Konzilsväter des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965) sahen sich konfrontiert mit „knapp zwei Jahrtausenden des Misstrauens, der Beschuldigungen sowie des offenen Hasses und der Diffamierungen sowohl in theologischer als auch in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht“[5], in denen das jüdische Volk seiner theologischen und vielfach auch seiner realen Existenzberechtigung beraubt wurde. Der entscheidende Schritt der Konzilserklärung „Nostra aetate“ besteht darin, dass die Kirche in ihrer Herkunft und damit in ihrer Identität unabweisbar an das Volk Israel verwiesen und das aktuelle Judentum als konstitutiver Gesprächspartner einbezogen wird.
Die Kirche verdankt sich nicht nur historisch der Verheißung Gottes an Israel (Artikel 4). In der Verheißung an Abraham, dem Vater im Glauben, liegt auch der Anfang der Kirche. Dieser Anfang hat bleibende Bedeutung, wie das Konzil mit Paulus (Röm 9–11) lehrt: Die Wurzel trägt Dich! Israel bleibt das Volk der Verheißung, mit dem die (Heiden)Christen, so die eschatologisch noch ausstehende Hoffnung, einmal das eine Volk Gottes bilden werden. Deshalb muss die Kirche die traditionellen Vorstellungen, die nicht nur den christlichen Antisemitismus nährten und sich im 20. Jahrhundert in der säkularen Ideologie des Rassenwahns in der Judenverfolgung des Nationalsozialismus auswirkte, revidieren. Also: Die Juden sind keine Gottesmörder und nicht kollektiv schuldig am Tod Jesu. Der Bund mit Israel ist nicht aufgelöst, weil die Treue Gottes bleibt.
In der kirchlichen Praxis, im Religionsunterricht, in der Predigt, in der Bibelarbeit, wurde das Judentum als gesetzlich, unvollkommen, gewalttätig, engstirnig, erneuerungsbedürftig dargestellt. Deshalb gilt es Sprache und Herzen zu reinigen, damit sie dem Geist Christi und dem Evangelium gemäßer werden. Zur Wertschätzung des Judentums gehört unbedingt auch die Dankbarkeit für den Glauben und die Glaubenstreue der Jüdinnen und Juden, wie es Papst Franziskus in einem Brief an Scalfari, den Chefredakteur von La Republica, am 11.9.2013 ausgedrückt hat[6].
Wir hören und achten so die Erklärung „Zwischen Jerusalem und Rom“ (2017) unserer jüdischen Brüder und Schwestern, worin es heißt: „Die Unterschiede in der jeweiligen Lehre sind wesentlich und können nicht debattiert oder verhandelt werden; ihre Bedeutung und Wichtigkeit sind Bestandteil der internen Erörterungen der jeweiligen Glaubensgemeinschaft. […] Jedoch sollen diese Unterschiede der jeweiligen Lehre unserer friedlichen Zusammenarbeit zum Wohl unserer gemeinsamen Welt und der Kinder des Noach nicht im Weg stehen. Deshalb ist es erforderlich, dass unsere Glaubensgemeinschaften sich weiterhin begegnen, miteinander vertraut werden und das Vertrauen des jeweils anderen gewinnen.“[7]
„Trotz der unüberbrückbaren theologischen Differenzen, betrachten wir Juden die Katholiken als unsere Partner, enge Verbündete und Brüder bei unserer gemeinsamen Suche nach einer besseren Welt, in der Friede, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit herrschen mögen.“[8]
„Trotz grundlegender theologischer Differenzen teilen Katholiken und Juden den gemeinsamen Glauben an den göttlichen Ursprung der Tora und an die Gedanken einer endgültigen Erlösung und heute auch die Überzeugung, dass Religionen durch moralisches Verhalten und religiöse Erziehung - nicht aber durch Krieg, Zwang oder gesellschaftlichen Druck – ihren inspirierenden Einfluss ausüben sollen.“[9]
50 Jahre nach „Nostra Aetate“ (2015) blickt die „Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum“ mit dem Dokument „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29) dankbar auf alles zurückblicken, was in den letzten Jahrzehnten in den jüdisch-katholischen Beziehungen erreicht worden ist. Zentrale Punkte sind die Beziehung zwischen der Heilsuniversalität Jesu Christi und dem ungekündigten Bundes Gottes mit Israel sowie die Betonung, dass die Katholische Kirche „keine institutionell verankerte Judenmission“ kenne. Als Judenmission bezeichnet man eine Missionstätigkeit von Christen, die Juden zum Glauben an Jesus Christus, das heißt an die Messiaswürde und Gottessohnschaft Jesu von Nazaret, bringen soll. Außerdem sollten Juden und Katholiken sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen und den Antisemitismus bekämpfen. [10]
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