Insofern stellt die Dissertation der Kunsthistorikerin und Psychologin Uta Grundman (geb. 1965), in der sie sich mit ihrem Großvater Walter Grundmann (1906–1976) befasst, durchaus eine Besonderheit dar. Auch der psychoanalytisch-sozialpsychologische Zugriff auf das Leben und Werk des ehemaligen Professors für Neues Testament und völkische Theologie, führenden DC-Theologen in Sachsen und Thüringen sowie spiritus rector des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ stellt eine neue methodische Herangehensweise dar. Grundman, die ihren Nachnamen mittlerweile nur noch mit einem „n“ schreibt, verfolgt das ambitionierte Ziel, mit ihrer Untersuchung erstens den Nachweis zu erbringen, dass „die Psychoanalyse ein wissenschaftlich anzuerkennendes Werkzeug“ ist, zweitens die Biographie Walter Grundmanns mit bislang unbekanntem Material um eine neue Perspektive zu bereichern sowie drittens
„die semantische Anlage der sich überlagernden und über die Jahrhunderte immer wieder transformierenden antisemitischen und misogynen Motive bis in die Zeit der Entstehung des Christentums zurückzuverfolgen und ihre implizite Struktur, ihren ‚Code‘, zu entschlüsseln.“ (S. 46).
Dafür erläutert sie zunächst die These „vom Antisemitismus als Weiblichkeitsabwehr“, um sich anschließend dem Werdegang von Walter Grundmann zu widmen. Dabei fokussiert sie sich auf die Beziehung zwischen Walter und seinem Vater Emil, deren jeweilige intellektuelle Prägung sowie die biographische Bedeutung des Kulturlandes Thüringen. Das angekündigte neue Quellenmaterial beschränkt sich dabei allerdings auf lediglich zwei retrospektive Texte von Walter Grundmann aus den Jahren 1945/46, die sich bis heute im Familienbesitz befinden. Die Autorin meint, dass die Lektüre von Wilhelm Raabes Roman Der Hungerpastor dem damals 15jährigen Walter „eine latente Begründung für das ‚Kreuz‘ des Vaters“ geliefert hätte und zugleich „den Weg zum späteren manifesten Antisemitismus des Theologen Walter Grundmann“ (S. 55) gebahnt haben könnte. Allerdings bleibt diese Annahme – wie viele weitere in diesem Buch – im Bereich der Spekulation, sodass der tatsächliche Erkenntnisgewinn in diesem Kapitel marginal bleibt. Stellenweise übernimmt Grundman auch unkritisch die Darstellungen aus den Aufzeichnungen ihres Großvaters, z.B. dessen Schilderung zur Haltung seines Vaters Emil gegenüber dem NSStaat:
„[S]ein tiefes Gemüt und sein rechtlich denkender Sinn [schu-fen] den unüberwindlichen Widerstand, denn er spürte die Willkür, Ruchlosigkeit und Günstlingswirtschaft des ‚Hitlerregimes‘“. (S. 52).
Grundman verifiziert diese – nach dem Untergang des ‚Dritten Reichs‘ vielfach und vielerorts geäußerte – Zuschreibung von innerem Widerstand allerdings nicht und übersieht zudem, dass Walter Grundmann damit gerade keinen Gegensatz zu seinem eigenen Verhalten konstruieren wollte, sondern dass er seine eigene „gesamte wissenschaftliche Arbeit“ bald nach Kriegsende als „Einsatz gegen die nazistische antichristliche Schlagwortpropaganda“ stilisierte.[2]
Im dritten Teil des Buches versucht die Verfasserin die Psychoanalyse als die eigentliche hermeneutische Methode zur Erforschung der Ursachen des Antisemitismus darzustellen. Dabei bezieht sie sich vor allem auf Siegmund Freuds Triebtheorie, die sie mit Walter Grundmanns Dissertation zum Begriff der Kraft in der neutestamentlichen Gedankenwelt aus dem Jahr 1932 in Verbindung bringt. Sie vertritt die Ansicht, dass bereits in diesem Werk die These vom unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Christentum und Judentum angelegt sei. Bedauerlicherweise setzt sie sich dabei aber nicht mit den Arbeiten von Roland Deines oder Karl-Wilhelm Niebuhr auseinander, die diesbezüglich gegenteilige Einschätzungen vertreten.[3] Überhaupt fällt auf, dass Grundman die Forschungsliteratur zu Walter Grundmann und dem von ihm initiierten ‚Entjudungsinstitut‘ nur selektiv rezipiert hat und einschlägige Werke von Karl-Wilhelm Niebuhr, Torsten Lattki, Birgit Jerke/Gregor und Hansjörg Buss nicht in ihre Untersuchung einbezogen hat.
Aus der Analyse von Grundmanns Darstellung der Kraftbegriffe im Neuen Testament, wonach das Christentum ohne das Judentum nicht zu verstehen sei, zieht sie folgenden Schluss:
„für sein Unbewusstes muss diese Erkenntnis bedeutet haben, dass das Christentum ohne das Judentum nichts ist. Da er sich selbst mit Christus identifizierte, muss sie wiederum Todesangst ausgelöst haben, denn für seine wissenschaftliche Karriere hing, so glaubte er, alles davon ab, dass es ihm gelang, die Trennung beider Religionen zu belegen.“ (S. 129).
Dieses Zitat kann sinnbildlich für die Herangehensweise der Autorin stehen, die sich argumentativ vielfach auf Mutmaßungen stützt. Sie behauptet beispielsweise mehrfach, dass Grundmann sich selbst mit Jesus Christus identifiziert habe, kann jedoch keinerlei belastbare Belege dafür erbringen. Das gilt ebenso für die Behauptung, dass Walter Grundmann mit seinem Antisemitismus und seinem Konstrukt eines nichtjüdischen Jesus im Kern versucht habe, „sich selbst vom Juden in sich (im Sinne des eigenen weiblichen Anteils) zu befreien“ (S. 143). Der Nachteil von Grundmans Zugang tritt gerade hier deutlich zu Tage. Ihr psychologischer Ansatz nimmt nur einzelne Akteure in den Blick und stellt Überlegungen zu deren mentaler Konstitution an. Allgemeinhistorische, theologische, politik- und ideengeschichtliche sowie diskursanalytische Studien werden nur dort zu Rate gezogen, wo sie die Thesen der Autorin stützen. Indem sie das Konstrukt eines nicht-jüdischen Jesus unhinterfragt auf ein inneres Ringen Grundmanns zurückführt, zieht sie nicht einmal in Erwägung, dass dieser einen antisemitischen Mythos rezipierte, der sich bis in die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Die einschlägigen Arbeiten von Martin Leutzsch zu diesem Thema lässt Grundman unbeachtet. Überhaupt schlägt sich die titelgebende „Ambivalenz“ in ihrer eigenen Herangehensweise kaum nieder, da sie zumeist nur diejenigen Thesen und Ansätze berücksichtigt, die zu ihren Vorannahmen passen. Alternative Deutungsmöglichkeiten oder widersprechende Forschungsmeinungen werden kaum diskutiert, was auch mit der Literaturauswahl zusammenhängt. Diese enthält durchaus eine gewisse Bandbreite von instruktiven Studien zu Themen wie Antisemitismus, Antifeminismus oder auch Körper- und Geschlechtergeschichte, ist jedoch erstaunlich dünn, wenn es z.B. um das nachexilische Judentum, historische Persönlichkeiten wie Martin Luther oder Kaiser Wilhelm II., Phänomene der Judenfeindschaft in der Vormoderne oder auch den NS-Staat geht. Dadurch bleiben zeitbedingte Eigenlogiken, Kontinuitätsbrüche und Widersprüche ebenso verborgen wie innerreligiöse Auffächerungen und Abspaltungen (sowohl im Judentum wie auch im Christentum).
Gleichwohl stellt die Autorin einige interessante Beobachtungen an. So weist sie darauf hin, dass sich die „Metaphorik des Organischen, die häufig in antisemitischen Texten anzutreffen ist“, zumeist auf
„pflanzliche und hier insbesondere eingeschlechtliche vegetative und damit autochthone Vorgänge [bezieht], bei denen es darum geht, dass das Erbgut unverändert bleibt – und zwar dann, wenn sie der Definition der ‚Herrenrasse‘ dienen.“ (S. 202).
Wurde die Metaphorik des Organischen hingegen auf die „anthropologische Rasse“ (Ernest Renan) übertragen, so war in der Regel das Judentum gemeint, wobei mit dem „unterschwelligen Bezug auf Gartenbau und Landwirtschaft“ die Ideen von „Auslese“ und „Ausrottung schädlicher Elemente“ (S. 202) einen legitimierenden Unterbau erhielten. Auch die Verflechtung philologischer und biologischer Diskurse im 19. Jahrhundert kann sie am Beispiel der Universität Jena plausibel nachzeichnen.
Einen Großteil ihrer Ausführungen verwendet Grundman allerdings darauf, das Christentum als eine elementar gewaltaffine und -produzierende Religion zu kennzeichnen, wobei sie den Ursprung bereits in der „Heiligen Familie“ selbst angelegt sieht. Dabei handelt es sich ihr zufolge um „das verdrehte Modell einer gestörten Kleinfamilie“, in der alle Familienmitglieder „mehrfach gespaltene, geschlechtlich nicht immer zuordenbare und immer vom Zerfall bedrohte Identitäten“ (S. 153) seien. Den Apostel Paulus und die Evangelien macht Grundman dafür verantwortlich, einen Schuldkomplex entworfen zu haben, mit dem das Christentum nie produktiv hätten umgehen können. Das liegt ihrer Meinung nach zuvorderst an der hochproblematischen Struktur der Bergpredigt, der es an den notwendigen „Elemente[n] reflexiver Selbstbegrenzung“ mangele, die erst das friedliche Zusammenleben „in divergierenden Gesellschaften auch mit Andersdenkenden und Andersgläubigen“ (S. 231) ermöglichten. Die Grundmann-Enkelin begreift Christentum und Judentum als konstante und geschlossene Entitäten, deren Fähigkeit zur Traumabewältigung diametral verschieden seien. Während hierfür im Judentum probate Mittel angelegt seien, würden diese im Christentum vollständig fehlen, da hier das „Trauma zur Erlösung“ (S. 277) verklärt werde. Und so kommt Grundman zu dem irritierenden Schluss, dass es tatsächlich einen „‚unüberbrückbare[n] Gegensatz‘ zwischen Judentum und Christentum“ (S. 277) gebe. Sie grenzt ihre Interpretation des Gegensatzes zwar von der ihres Großvaters ab, doch der Idee des Gegensatzes bleibt sie verhaftet. Und so erscheint Walter Grundmann in ihrer Darstellung auch vorrangig als Exponent eines grundsätzlich antisemitisch-misogynen Christentums, was durchaus eine (teilweise) entlastende Lesart seines Handelns offeriert. Den Antisemitismus ihres Vorfahren benennt die Autorin zwar deutlich, obgleich sie ihn ausschließlich für die NS-Zeit näher beleuchtet. Was jedoch verdeckt bleibt, ist, dass es auch in der NS-Zeit Christinnen und Christen gab, die anders agierten, die die Judenfeindlichkeit in Staat, Kirche und Gesellschaft kritisierten und zurückwiesen. Ihre Zahl war klein, auch in den Reihen der Bekennenden Kirche, aber die Entscheidung, ob man die Diffamierung, Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung unterstützte, vorantrieb, hinnahm oder verweigerte, war stets eine individuelle, die durch äußere Strukturen und mentale Prägungen selbstredend beeinflusst, aber eben nicht vorgegeben war.
Uta Grundman:
Antisemitismus und Ambivalenz.
Walter Grundmann und die „Entjudung“ des Christentums.
Wallstein Verlag
Göttingen 2024
417 S.; 44,- €


