Pater Christian Rutishauser warnt vor neuen Formen des Antisemitismus, die sich aus historischen Denkfiguren und Verhaltensmustern speisen. In einem Beitrag für das Portal „feinschwarz.net“ beleuchtet er die tiefen Wurzeln des Antisemitismus, die weit in die europäische Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hineinreichen. Laut Rutishauser kehren diese Muster unter neuen Bedingungen in transformierter Form zurück, was die aktuelle gesellschaftliche Lage gefährlich beeinflusst. „Verhaltensmuster, Denkfiguren, Argumentationen und Fragestellungen kehren transformiert wieder,“ so der Theologe.
Sechs Fragefelder als Schlüssel zum Verständnis
Rutishauser identifiziert sechs zentrale „Fragefelder“, die im modernen Kontext besonders relevant sind. Dazu gehört die postkoloniale Sichtweise, in der eine antizionistische Haltung als „kultureller Code“ einer links-intellektuellen Weltanschauung wahrgenommen wird. Rutishauser fragt: „Ist eine antizionistische Haltung, die Israel das Existenzrecht abspricht, zum kulturellen Code geworden?“
Ein weiteres Feld betrifft den Stellvertreter-Konflikt im Nahen Osten, bei dem verschiedene gesellschaftliche Gruppen – sowohl in Israel als auch in Palästina – gegeneinander kämpfen, um entweder homogene oder plurale Gesellschaften durchzusetzen. Zudem hinterfragt Rutishauser die weltanschaulichen Wurzeln des modernen Antisemitismus, insbesondere die Rolle von Verschwörungstheorien, die in der Hamas-Ideologie eine große Rolle spielen: „Warum knüpft die Hamas an Weltverschwörungstheorien an? Kommen diese Ansichten aus Europa?“
Die Rolle der Medien und die Frage nach Staatlichkeit
Rutishauser betont auch die Rolle der Medien in der Verbreitung von Antisemitismus. Er wirft die Frage auf, inwieweit die „Medienschlacht rund um den 7. Oktober und den Gazakrieg“ zur psychischen Projektion von Aggression, Fremdenfeindlichkeit und Minderwertigkeitsgefühlen beiträgt. Gleichzeitig verweist er auf die politische Situation im Gazastreifen und fragt, warum dortin den letzten 20 Jahren keine demokratischen Strukturen aufgebaut wurden. „Welches sind die Bedingungen für Staatlichkeit?“ fragt Rutishauser kritisch.
Philosophische und theologische Perspektiven
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den philosophischen und theologischen Grundlagen des Antisemitismus. Rutishauser zeigt auf, wie sich antisemitische Denkweisen in der idealistischen Philosophie von Hegel und Fichte manifestieren, wo das Judentum als „überholt“ durch das Christentum betrachtet wird. Besonders kritisch hebt er Fichtes Vorstellung einer jüdischen „Weltverschwörung“ hervor, die erstmals in dessen Schriften auftritt und später im Nationalsozialismus wieder aufgegriffen wird. Der Theologe warnt: „Ein philosophischer Antisemitismus lässt sich nicht scharf vom christlich-theologischen Antisemitismus abgrenzen.“
Abschließend zitiert Rutishauser den französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre, der feststellte, dass Antisemiten „vor allem Angst haben – nicht vor den Juden, sondern vor sich selbst, vor ihrer Freiheit und vor der Verantwortung.“
Zum vollständigen Artikel von Christian Rutishauser:
feinschwarz.net