Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus

In 22 Kap.n (9–207) behandelt Tilman Tarach ein höchst sensibles Thema, das – hier kann man nur zustimmen – gerade auch „in der deutschen Antisemitismus-Debatte verschleiert“ (Klappentext) wird. Es schließen sich die Bildnachweise (208), ein Literaturverzeichnis (209–216), ein Register der Bibel- und Koranstellen (217) und ein allgemeiner Index (Sachen, Orte und Personen: 218–224) an.

In ihrem Geleitwort zu dem vorliegenden Werk bemerkt Anetta Kahane, dieses Werk räume mit der Illusion auf, „nach der der Vernichtungs- und Erlösungsantisemitismus des Nationalsozialismus mit dem christlichen Antijudaismus nichts zu tun hätte.“ (7) Auch wenn das Werk formal an ein wissenschaftliches Werk erinnert, so wendet es sich doch an ein breiteres Lesepublikum.

In der Einleitung beschreibt der Verfasser sein Thema folgendermaßen: „Wir wollen uns [...] der Frage annehmen, in welchem Verhältnis die Gründungsmythen und Leitideen der christlichen Lehre als solche zum Antisemitismus stehen – und zwar durchaus auch zum modernen, nationalsozialistischen und schließlich auch zum israelbezogenen Antisemitismus.“ (9–10) Das ist ein extrem weiter Bogen, der hier gespannt wird. Man fragt sich, ob er den Bogen so weit gespannt hat, um mit seinem Werk zu provozieren: „Eine Kritik des Christentums hat heute in der Tat weniger Provokationswert.“ (15) Gerade weil es ein höchst wichtiges Thema ist, das noch immer stiefmütterlich behandelt wird, wäre eine sachlichere und fundiertere Auseinandersetzung nötig.

Die oberflächliche Behandlung der Problematik ist bereits in dem eröffnenden Kapitel offensichtlich. Nach dem Titel geht es dort um die „Kinder des Teufels“ (17–25). Auf diesen wenigen Seiten behandelt der Verfasser nicht nur die „Kinder des Teufels“, die auf ein Zitat aus dem JohEv (Joh 8,44) zurückgehen, sondern auch noch das „lebende Kreuz“ bzw. die Typologie von Ecclesia und Synagoga, die zwar auch auf das JohEv zurückgeht (Joh 12,40), aber ihre Wurzeln im Buch Jesaja hat, das an dieser Stelle vom Vf. des Evangeliums zitiert wird (Jes 6,10). Der Vf. beschreibt die Entstehung der Typologie folgendermaßen: „Weil die Juden Jesus nicht als Messias anerkannt und ihn gar ans Kreuz geschlagen hätten, so verkündeten schon die frühen christlichen Prediger um das Jahr 100, habe Gott sein zuerst erwähltes Volk schließlich verflucht und seine Verheißungen von den Juden, der ‚blinden Synagoge‘, auf die Anhänger Jesu übertragen.“ (17–18) Die Leser:innenschaft erfährt nicht, dass hier auf biblische Texte zurückgegriffen wird.

Gerade weil es erschreckend und beschämend ist, dass eine Ausgabe des „Stürmer“ (Nr. 51/1938) die „Kinder des Teufels“ auf der Titelseite bringt (für eine Abbildung, 23), wäre es dem Thema angemessen gewesen, die beiden wirkmächtigen Texte des JohEv getrennt zu behandeln.

Auch wäre es angemessen gewesen, eine Kritik an der Übersetzung derartiger Passagen zu erwähnen. Schließlich wurde bereits vor einiger Zeit das Jesaja-Zitat in Joh 12,40 als problematische Übersetzung der lateinischen Überlieferung aufgezeigt.[1] Der griechische Text, das zeigt auch eine Anmerkung zu Joh 12,40 in den neuesten Ausgaben der Lutherbibel, muss keinesfalls negativ verstanden werden.[2]

Beim Verhältnis von Christentum und Nationalsozialismus fehlen wichtige Namen wie Gerhard Kittel oder Walter Grundmann. Dies ist umso auffälliger, weil Manfred Gailus, der ja viel über Kittel gearbeitet hat[3], im vorliegenden Werk zitiert wird. Der Verfasser hält dann fest: „Die ‚rassenantisemitische‘ Geisteshaltung hinter der limpieza de sangre, der ‚Reinheit des Blutes‘, war im christlichen Denken keine Ausnahme.“ (103) Hier hätte der Vf. vielleicht doch auch den „Stürmer“ zitieren können. Leopold Franz hält im „Stürmer“ Nr. 49 vom 5. Dezember 1940 in einem Beitrag über „Die Nürnberger Rassengesetze und die Juden“ bezüglich der jüdischen Ehegesetze, die auf Esra und Nehemia zurückgehen, fest (Hervorhebung LF): „Auf jeden Fall hat es ein deutscher Judenforscher der Gegenwart, Gerhard Kittel, als ‚eine der radikalsten und der am radikalsten durchgeführten Mischehengesetzgebungen der ganzen Weltgeschichte’bezeichnet.“ Gerade weil diese Argumentation Gerhard Kittels so erschreckend ist, sollte eigentlich in einem Werk wie dem vorliegenden erwähnt werden, dass ein christlicher Theologe die nationalsozialistische Rassengesetzgebung mit Verweis auf religiöses jüdisches Eherecht rechtfertigte und dass eben dieser Theologe noch heute als „der“ Kittel ein Standardwörterbuch des NTs ist, das im Jahr 2019 unverändert nachgedruckt wurde.[4]

Irritierend wird es, wenn der Verfasser dann nur noch pauschal polemisiert: „Im Nahen Osten sind die Motive des christlichen Judenhasses inzwischen außerordentlich populär geworden. Vor allem die palästinensische, syrische und iranische Propaganda sowie diejenige der Hisbollah bedient sich, wenn es um Israel geht, regelmäßig aus der christlichen Vorratskammer. Nicht nur die Christen der Region, auch viele Muslime stoßen ins gleiche Horn.“ (171) Man wird die Frage aufwerfen dürfen, ob „die Christen der Region“ wirklich so formuliert werden muss, also ob alle Christen im Nahen Osten so argumentieren würden. Der Verfasser erweckt mit solchen Formulierungen den Eindruck, als ob „die Christen“ noch heute den Staat Israel pauschal und in antisemitischer Weise ablehnen würden, während die muslimische Welt im Vergleich mit „den Christen“ geradezu auf der Seite Israels steht.

Am Ende des Werkes steht eine pauschale Kritik des Christentums: „Das Christentum rechtfertigte Sklaverei, Leibeigenschaft und andere Formen der Unterdrückung als Sklave [...]. Der erniedrigte und geknechtete Mensch aber sucht sich statt seines eigentlichen Unterdrückers ein Ersatzobjekt für seine Wut – und er findet es im Juden. Der Antisemitismus ist nachhaltig also nur zu bekämpfen, indem wir uns für Ideen einsetzen, die schon immer den Unmut von Antisemiten jeglicher Couleur auf sich gezogen haben: Die individuelle Selbstbestimmung und Freiheit, die Emanzipation des Individuums vom Kollektiv.“ (207)

Weil es ganz unzweifelhaft antisemitische Ansichten im Christentum gibt, die sich auf neutestamentliche. Texte berufen, ist eine christliche Antwort die Auseinandersetzung mit den Ursachen. So gibt es bspw.eine eigene Kommentarreihe, die sich die Kritik an einem Verständnis der Schrift, welches einer christlichen „Substitutionstheorie“ Vorschub leistet, zur Aufgabe gemacht hat.[5] Dass der Verfasser derartige Zugänge ignoriert, macht es wahrscheinlich, dass ihm tatsächlich mehr an einer Provokation als an einer sachlichen Auseinandersetzung gelegen ist. Dies macht es denen schwerer, die sich darum bemühen, den „christlichen“ Antisemitismus an der Wurzel zu bekämpfen. Schließlich hat der Verfasser seine Kritik an einem „christlichen“ Antisemitismus in eine pauschale Ablehnung des Christentums verwandelt.

Das Buch behandelt ein wichtiges historisches Thema, bei dem noch viel aufgearbeitet werden muss. Das Thema hat aber einen differenzierten Diskurs und eine saubere Argumentation verdient.

Tilman Tarach:
Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus.

Freiburg: Edition Telok 2022.
226 S., brosch. € 14,95 r den Autor: Hans Förster, Dr., Privatdozent am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien (hans.foerster@univie.ac.at

[1] Vgl. Hans FÖRSTER: Ein Vorschlag für ein neues Verständnis von Joh 12,39–40, ZNW 109 (2018) 51–75.; DERS.: Martin Luther und die Veritas Graeca – Eine Positionsbestimmung, KuD 66 (2020), 195–219.
[2] Eine Anmerkung hält folgende alternative Übersetzung für die abschließenden Worte fest: „aber ich (Gott) werde ihnen helfen.“ Das ist dann keine Verstoßung des Volkes Israel mehr.
[3] Vgl. hierzu auch die Rez. zu Die Kirche und die Täter nach 1945. Schuld – Seelsorge – Rechtfertigung, hg. v. Nicholas John WILLIAMS / Christoph PICKER (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 136), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022 in der Theologischen Revue 3/2023 [119], Sp. 205–206.
[4] Vgl. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. v. Gerhard KITTEL/ Gerhard FRIEDRICH (11 Bde.), Darmstadt: wbg academic, 2019 (unveränderter Nachdruck der Originalausgabe).
[5] Vgl. die Reihe „New Testament after Supersessionism“ / Cascade Books.

Editorische Anmerkungen

Hans Förster, Dr., ist Privatdozent am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Quelle: Theologische Revue 119 (September 2023) DOI: https://doi.org/10.17879/thrv-2023-50803