Anlässlich des "Tages des Judentums" (17. Jänner) haben christliche Theologinnen und Theologen aus Österreich und Deutschland dazu aufgerufen, antisemitische Wurzeln in der eigenen theologischen Tradition nachhaltig zu bekämpfen. Studierende müssten für die Problematik des "Schattenerbes des Antijudaismus und Antisemitismus" sensibilisiert werden, forderte die evangelische Wiener Kirchenhistorikerin Uta Heil im Podcast "Diesseits von Eden". Der katholische Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück ergänzte, dass der "Tag des Judentums" den Kirchen und der christlichen Theologie "ins Stammbuch schreibt, die Verbundenheit mit dem Judentum auch theologisch ernst zu nehmen". Hier sei seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) bereits viel geschehen - aber es gebe weiter offene Baustellen.
Auch Heil betonte, dass die theologischen Fakultäten in Wien mit einer Stellungnahme nach antisemitischen Schmierereien am Uni-Campus im vergangenen Herbst rasch reagiert hätten -, dass aber jede Generation an Studierenden neu angeleitet werden müsse, die Wurzeln des Antisemitismus in der christlichen Tradition zu erkennen. Selbst völlig von biblischen Motiven losgelöste Formen des modernen Antisemitismus etwa linker Provenienz würden dennoch auf Narrative aufbauen und diese aktualisieren, die ihre Wurzeln im Christentum haben, so Heil. Vor dem Hintergrund dessen habe sie die Eskalation des Antisemitismus in Folge des Hamas-Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023 auf Israel auch nicht gewundert, so Heil: "Wenn man in die jüngere Vergangenheit schaut, dann muss man sagen, dass jede kriegerische Auseinandersetzung mit Hamas schon vorher jeweils entsprechende antisemitische Reaktionen provoziert hat. Der Antisemitismus ist offenbar ein Geschwür, das nicht kleinzukriegen ist."
Wenig überrascht über das Ausmaß an Judenhass zeigte sich in dem Podcast-Gespräch auch der deutsche Neutestamentler und Antisemitismus-Experte Rainer Kampling von der Freien Universität Berlin: "Der Antisemitismus war nie tot."
Zugleich sei ihm aber wichtig, dass die aufgezeigten christlichen Wurzeln nicht zu einem Automatismus führen: "Es gibt keinen Zwang zu einer antisemitischen Haltung. Es gab in der Kirchengeschichte immer auch Stimmen von Kardinälen, Bischöfen, Priestern, Gläubigen, die ganz klar judenfreundliche Positionen hatten." Und diese Geschichten gelte es zu erzählen und zu erinnern."
Bei der politisch heiklen Frage nach der Solidarität auch mit den Leiden der palästinensischen Bevölkerung verwies Tück abschließend darauf, dass die Theologie den Gedanken des "Eingedenkens fremden Leids" kenne. Aufgezeigt worden sei die Kraft dieses Eingedenkens u.a. von dem deutschen Theologen Johann Baptist Metz (1928-2019) im Blick auf den historischen Handschlag von Jassir Arafat und Shimon Peres 1993 in Camp David, mit dem das Osloer Abkommen besiegelt wurde. Damals hatten beide Seiten zugesagt, künftig nicht mehr allein auf die eigenen Leiden zu blicken, sondern auch die Leiden der anderen zu betrauern. Ähnliche Initiativen gebe es auch heute sowohl auf jüdischer als auch auf palästinensischer Seite - nur blieben sie oft unter der Wahrnehmungsgrenze. "Dabei könnten dies Keimzellen einer Pazifizierung dieser völlig aus dem Ruder gelaufenen, alle ratlos stimmenden Situation sein", so Tück - "und das zu fördern, wäre meines Erachtens ein jüdisch-christlicher Grundauftrag".
Der Podcast "Diesseits von Eden" ist eine gemeinsame Initiative der Theologischen Fakultäten in Österreich. Abrufbar ist der Podcast u.a. unter https://diesseits.theopodcast.at.