Normativität Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam

Bereits der Titel dieses Bandes regt zu vertieftem Nachdenken an. Sind Heilige Schriften aus sich selbst heraus normativ für die Angehörigen der Religionsgemeinschaft, möglicherweise sogar darüber hinaus, sofern ein missionarischer Impuls besteht? Oder werden die Schriften normativ verwendet, insbes. im Prozess der jeweiligen Aneignung und interpretativen Deutung?

Schon die Übersetzung eines Textes, auch außerhalb des religiösen Kontextes, führt zu Bedeutungsverschiebungen und Akzenten, die Quellen des Widerstreites sein können. In diesem Buch werden Facetten und Aspekte der Theol. der abrahamitischen monotheistischen Weltreligionen untersucht, die in Verbindung mit der „Normativität dieser Texte“ stehen, indem ebenso deren „historisches Gewordensein“ (1) berücksichtigt wird. Zugleich sollten diese aber nicht „so weit depotenziert“ werden, „dass sie allenfalls noch als historische Quellen von Interesse sind“ (1). Das jeweilige Offenbarungsverständnis also wird bedacht, wenngleich – zumindest mit Blick auf die röm.-kath. Exegese – Dei Verbum, die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, bedauerlicherweise in dem Band nicht bedacht wird und exemplarisch hätte diskutiert werden können. Christiane Tietz und Klaus von Stosch betonen das „Verstehen zwischen diesen Religionen“, also Christentum, Islam und Judentum, und heben hervor, „dass man dem Wahrheitsanspruch der eigenen Tradition treu bleiben darf und gleichzeitig die Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit“ (2) anstrebt. Besonders für die summarisch genannte christliche Theol. bedeute dies, dass sie „im Bewusstsein der unseligen kolonialen Tradition westlicher Wissenschaft gegenüber muslimisch geprägten Ländern an dieser Stelle nur zurückhaltend agieren“ (3) könne. Deutlich wird dies insbes. durch von Stosch selbst, der die „ethische Verpflichtungskraft der Bibel“ dahingehend versteht, dass die „Glaubenden“ durch ihre Glaubens- und Lebenspraxis ein „Zeichen der Menschenfreundlichkeit Gottes“ (5) sein sollen.

Ulrich Körtner begreift die Exegese als Kommunikationsgeschehen und sieht das Offenbarungsverständnis im Vordergrund: „Gott spricht, der Mensch hört und antwortet, wobei das Gebet wie der Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot als Antwort des Menschen gedeutet werden.“ (10) Bemerkenswert hierbei ist, dass von einem ev.-ref. Theol. das Gebet – nicht die belehrende Predigt oder katechetische Unterweisung – als Erstes genannt wird. Der Unterschied etwa zu den atl. Propheten und Mohammed liege darin, dass im christlichen Glauben Jesus von Nazareth, dessen Worte wie dessen Leben (13), als „Gottes Wort in Person“ (10) gelte. Unterschiede wie diese zu beachten und stets zu fokussieren, hält Körtner für wesentlich: „Hat sich Gott nach christlicher Überzeugung letztgültig in der Person Jesu von Nazareth, in seinem Leben und Sterben offenbart, dann lässt sich von Gott nur reden, indem zugleich von Jesus von Nazareth gesprochen wird.“ (14) Für Körtner bleibt zudem ein hermeneutischer Zirkel unausweichlich, da sich das AT und das NT wechselseitig interpretierten und erklärten (26). Überlegungen wie diese zeigen, dass ein aufrichtiger interreligiöser Dialog von christlicher Seite aus eine beständige Aufgabe und Herausforderung für alle Beteiligten darstellt.

Die muslimische Islamwissenschaftlerin Juliane Hammer diskutiert Aspekte des „muslimischen und islamischen Feminismus“: „Islamischer Feminismus bedeutet, dass die Feministin sich aktiv an der Reformulierung des Islams beteiligt, während eine muslimische Feministin an Aktivismus beteiligt sein kann, aber nicht an der direkten Deutung des Koran oder anderer textlicher Traditionen.“ (31f) Sie schlägt „geschlechtergerechte Auslegungen“ (43) vor, die durchaus auch bestünden, sodass die „unaufgebbare Positivität der Schrift“ fragwürdig erscheinen müsse, „wenn die Berufung auf sie mit buchstäblicher oder wörtlicher Auslegung gleichgesetzt wird“ (48). Hammer schreibt: „Der Koran ist keine Benutzeranleitung für das Leben des muslimischen Gläubigen, aber er ist auch nicht nur ein Orientierungspunkt unter vielen anderen für ein ethisches muslimisches Leben.“ (48f) Die Wissenschaftlerin zeigt somit, dass jede einfache Zuweisung – in allen Religionen – Probleme mit sich trägt und auch Probleme schafft, und dass der historische Kontext sowie heutige Zeitumstände berücksichtigt werden müssen, damit die Schrift nicht zur Legitimation und Apologie von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Machtstrukturen in Geschichte und Gegenwart missbraucht wird.

Friederike Kunath diskutiert in dem Band später Formen der historisch-kritischen Bibelexegese und setzt sich mit der kanonischen Schriftauslegung auseinander. Sie fragt sich – und das wäre sicher ein Forschungsdesiderat –, ob auch innerhalb einer explizit so verstandenen „Koranexegese mit rein deskriptivem Anspruch“ nicht bereits ein kanonischer Anspruch formuliert werde, „um auf Augenhöhe mit islamischen Rechtsgelehrten etc. kommunizieren zu können“ (118). Daraus wird ersichtlich, dass jede Exegese auf gewisse Weise stets über die bloße Schriftauslegung hinausreicht. Summarisch lässt sich daher für Deutungen in Bezug auf Koran und Bibel erwägen, was Kunath über den „historischen Sinn der Schrift“ ausführt: „Vielmehr eignet sich jede Generation diesen Sinn neu an, erkennt ihre eigene Distanz dazu und kommt neu in Kontakt mit der ursprünglichen Stimme in den Texten.“ (123)

Von dieser Perspektive aus erweist sich der Blick auf die rabbinische Ethik als hilfreich, den Elisa Klapheck vorstellt: „Überspitzt gesagt hat der Text der Tora nicht so sehr das Ziel, harmonisierend in einer Gesellschaft zu wirken, sondern die Absicht, deren Konflikte als Teil der Offenbarung erkennbar und im Wege der Deutung lösbar zu machen. Die Funktion der hier präsentierten rabbinischen Ethik ist weniger, das Gute zu definieren, als Auswege zwischen den konfligierenden Positionen, Forderungen, Parteien herzustellen – natürlich immer auf dem Boden des Judentums.“ (142) Die „für den Talmud typische Vielstimmigkeit“ (143) wird aufgezeigt, der diskursive Prozess über heilige Schriften erscheint positiv: „Von der rabbinischen Warte her bleibt es entscheidend, dass der Konflikt als produktive Quelle religiöser Erkenntnis erkannt wird und in den ethischen Auswegen, die durch die Auseinandersetzung mit den Texten erschlossen werden, der Konflikt nicht gänzlich aufgelöst wird, sondern erkennbar bleibt.“ (146) Eine solche „kreative Beschäftigung“ (146) mit heiligen Schriften könnte anregend und belebend sicher nicht nur für das Judentum, sondern auch für andere Religionen sein.

Diesem lesenswerten, anregenden Aufsatzband ist eine breite Rezeption zu wünschen.

Normativität Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam.
Hg. v. Klaus VON STOSCH / Christiane TIETZ

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. 208 S. brosch. € 79,00

Editorische Anmerkungen

Thorsten Paprotny, Dr., war nach dem Studium der Philosophie und Germanistik und der Promotion als Dozent an der Leibniz Universität Hannover sowie als Autor etlicher Bücher tätig. Er ist heute publizistisch tätig und arbeitet zudem - verborgen vor der Welt - an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese.

Quelle: Theologische Revue, 119. Jahrgang, Dezember 2023. DOI: https://doi.org/10.17879/thrv-2023-5211