„Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berg des HERRN“ (Mi 4,2)

Die Bedeutung der Staatswerdung Israels für die Jüdisch-Christlichen Dialoggruppen.

Einführung

Die Adjektive ‚jüdisch‘ und ‚christlich‘ können bei Außenstehenden den Eindruck erwecken, es handele sich bei den Gruppen, Gesellschaften oder am Dialog Beteiligten, die das interreligiöse Gespräch führen, um solche, die einer rein religiösen Angelegenheit nachgehen. Nun verweist diese Annahme freilich zunächst auf ein Missverstehen des Religiösen als privatistische Angelegenheit, ist aber immerhin dadurch erklärbar, dass sich die Agierenden einer der beiden Glaubensgemeinschaften verbundenwissen. Allerdings wäre die Mutmaßung gänzlich verfehlt, und zwar insbesondere für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, falls man sie auf die Motivation und Zielsetzung bezöge. Jene waren und sind entschieden politisch bestimmt im Sinne einer aktiven Teilhabe an demokratischen Prozessen.Weiterhin sind sie immer mit der Mehrung und Weitergabe vonWissen und Bildung verbunden.[1] Gewiss gehören diese jüdisch-christlichen Gruppen und ihre Arbeit in das weite Spektrum der Auseinandersetzung mit den Verbrechen Deutschlands in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft, aber es ist nicht zu gering zu schätzen, dass auf Seiten der beteiligten Christen und Christinnen ein großes Interesse daran bestand, mehr über das Judentum zu lernen, weil es ihnen fast ausschließlich in der Verzerrung des Antisemitismus bekannt war. Dabei handelte es sich überwiegend um Personen, die nicht professionell in kirchlichen oder universitären Institutionen verankert waren, sondern als Laien gelten konnten. Insbesondere in der hierarchischen Struktur der römisch-katholischen Kirche war es zunächst eine Bewegung ‚von unten‘, die innerkirchlich nicht ohne Einfluss blieb, wie sich dann auf dem Vaticanum II (1962–1965) zeigte. Außerkirchlich wirkten diese Gruppen, deren Mitglieder mehrheitlich dem Bürgertum entstammten, in allen Belangen, die das Judentum betrafen, in nicht unerheblichen Maße auf die gesellschaftlichen Prozesse ein. Das Eintreten für den Staat Israel spielte dabei eine herausragende Rolle.

Im Folgenden soll aus dem breiten Spektrum der Beweggründe und Interessen ein Aspekt aufgegriffen werden, der in den späten Vierzigern und Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts die Wahrnehmung der Staatsgründung Israels beeinflusst hat. Näherhin geht es um eine geschichtstheologische Deutung, deren positive Aussageabsicht nicht die mitgegebene Ambivalenz aufheben kann.

Zum Hintergrund

Der jüdisch-christliche Dialog in seiner institutionalisierten Form[2] ist in Westdeutschland als Initiative der US-Besatzungsmacht entstanden. Die erste Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wurde am 9. Juli 1948 in München gegründet, mithin wenige Monate nach der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948. In Anlehnung an ähnliche Gruppen in den USA – das Modell der Gesellschaften war die 1927 gegründete National Conference of Christians and Jews (NCCJ)[3] – wurde die Form kleiner Gruppen gewählt, die auf die öffentliche Meinungsbildung und auf pädagogische Programme Einfluss nehmen sollten. Dementsprechend handelte es sich bei den ersten Mitgliedern um Vertreter und Vertreterinnen der, wie man formulierte, ‚gehobenen Schichten‘.

Dazu gehörten Kommunal- und Landespolitiker, Vertreter der Geistlichkeit primär aus den protestantischen Kirchen, Hochschullehrer und Angehörige freier Berufe. Von den nichtjüdischen Mitgliedern wurde erwartet, dass sie durch die Zeit des Nationalsozialismus ‚nicht belastet‘ waren, eine Forderung, die sich nicht immer durchsetzen ließ. Bei den jüdischen Mitgliedern handelte es sich um Überlebende, Zurückgekehrte aus der Vertreibung oder aus den Lagern. Sie nahmen oft Funktionen in den kleinen jüdischen Gemeinden wahr und entstammten ebenfalls mehrfach dem klassischen Bildungsbürgertum. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer etwa gehörten zur Frankfurter Gesellschaft.

Für die Wahrnehmung des Staates Israel in den Christlich-Jüdischen Gesellschaften ist freilich eines von besonderer Bedeutung: Die jüdischen Mitglieder hatten sich nach der Shoah entschieden, in Deutschland zu bleiben und nicht nach Israel zu gehen. Damit waren sie nicht nur in Deutschland eine Minorität, sondern standen auch unter einem ständigen Legitimationsdruck gegenüber anderen Jüdinnen und Juden hinsichtlich ihrer Entscheidung, die diese nicht nachvollziehen konnten.[4] Die Resolution des World Jewish Congress (WJC) auf seiner Sitzung im Frühsommer 1948 in Montreux gibt eine durchaus verbreitete Haltung wieder: „[…] the determination of the Jewish people never again to settle on the bloodstained soil of Germany“.[5] Juden, die in Deutschland nach 1945 lebten, stemmten sich in den Augen Anderer gegen das geschichtliche Geschehen und die Verheerung. Die Gesellschaften dagegen boten ihnen die Möglichkeit, sich in einem Kontext, von dem sie erwarten konnten, nicht ausgegrenzt zu werden, in die gesellschaftlichen Prozesse einzubringen. Denn Zielsetzungen der Gesellschaften waren neben der Mitwirkung am Aufbau demokratischer Formen in Deutschland insbesondere der Kampf gegen den Antisemitismus und die Überwindung nationalsozialistischer Anschauungen.

Zweifelsohne ist mithin dies zu bedenken: Das eigentliche Feld der Tätigkeit ist Deutschland selbst. Insofern international gedacht wurde, ging es primär darum, Deutschland nach dem Krieg und der Shoah Ansehen zu verschaffen, und zwar bei den westlichen Staaten.

Israel war im wahrsten Sinne des Wortes ein fernes Land. Gewiss hatten zahlreiche jüdische Mitglieder der Gesellschaften verwandtschaftliche Beziehungen zu Bürgern des neuen Staates, aber auch vielen von ihnen war eine Reise oftmals aus diversen Gründen unmöglich. Für christliche Deutsche war zu Anfang der 1950er Jahre eine Reise nach Israel fast außerhalb der Vorstellung, wobei die praktischen und bürokratischen Hindernisse gewiss eine nicht unbedeutende Rolle spielten. Es ging hier aber auch um eine Scheu vor der Konfrontation mit der eigenen deutschen Geschichte. Theodor Heuss hatte dafür den Begriff ‚Kollektivscham‘ geprägt, und zwar in einer Ansprache vor der Gesellschaft für christlichjüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden am 7. Dezember 1949.[6] Bevor sich in den 1960er Jahren Gruppenreisen nach Israel in den Gesellschaften etablierten, war der Staat Israel ein weitgehend imaginiertes Land, dessen Entwicklung man durch Medienberichte und Vorträge verfolgte.

Ein Indiz für die ambivalente Wahrnehmung des Staates zeigt sich nicht zuletzt im Gebrauch des Wortes ‚Israel‘ in den Publikationen der Gesellschaften. Vorrangig ist der Begriff biblisch-theologisch aufgeladen oder wird mit qualifizierenden Genitiven wie ‚Land der Bibel‘, ‚Land der Propheten‘ und eben ‚Land der Verheißung‘ verbunden. Dahinter verbirgt sich nicht nur eine Unkenntnis der realen Situation, sondern die bei vielen Christen und Christinnen nicht nur im Nachkriegsdeutschland vorhandene Unsicherheit angesichts der Staatsgründung Israels. Diese Unsicherheit war mentalitätsgeschichtlich in einem Konstrukt der eigenen Religion begründet.

Seit dem 3. Jahrhundert existierte im Christentum die Vorstellung, die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Verlust der staatlichen Autorität seien eine Strafe Gottes für die Kreuzigung Jesu gewesen. Auf diesem Konstrukt beruhte in nicht geringem Maße die Behauptung, das Christentum sei heilsgeschichtlich an die Stelle des Judentums getreten, dessen göttliche Verwerfung sich in der Diasporasituation bleibend manifestiere.[7] Wie verbreitet diese Vorstellung noch um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts war, kann man an kirchlichen Verlautbarungen ablesen, die selbst die Shoah von diesem Antijudaismus her deuteten.[8] Mit der Staatsgründung Israels wurde dieses Konzept radikal infrage gestellt und der Gedanke einer christlichen Überlegenheit über das Judentum erschüttert.

Auf Seiten der christlichen Mitglieder leitete die Staatsgründung mithin einen Trennungsprozess von traditionellen christlichen Wahrnehmungsmustern des Judentums ein. Dass dieser nicht unkompliziert verlief, zeigt sich in einem für Juden besonders empfindlichen Themenfeld, nämlichder Judenmission: Zwar verstanden sich die Gesellschaften explizit als religiös gleichberechtigt, das hinderte aber einige christliche Mitglieder nicht, solche Versuche sublim zu unternehmen.

Am Anfang der Christlich-Jüdischen Gesellschaften stand politisch eine völlige Bejahung des Staates Israel, die einher ging mit einer mentalen Verunsicherung insbesondere auf Seiten der christlichen Mitglieder. Ein Lösungsversuch für diese Situation findet sich in der Theologisierung des Staates Israel. Dass diese wiederum christlich geprägt ist, sei an einem Beispiel gezeigt, dem von Hermann Ludwig Maas.

Hermann Ludwig Maas und sein Reisebericht

Hermann Ludwig Maas, 1877 geboren und 1970 gestorben, war gewiss kein gewöhnlicher deutscher evangelischer Pfarrer.[9] Bereits 1903 hatte er am 6. Zionistenkongress in Basel teilgenommen, trat seitdem für die Gründung eines jüdischen Staates ein und unterhielt etliche Verbindungen zu jüdischen Institutionen und Personen. 1933 reiste er in das britische Mandatsgebiet und knüpfte dort zahlreiche Kontakte, die ihm dann bis 1939 dazu verhalfen, Verfolgten die Ausreise zu ermöglichen.

Er hielt, solange sie bestand, engen Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Heidelberg und besuchte demonstrativ deren Gottesdienste. Im Frühjahr 1943 wurde er in den Zwangsruhestand versetzt und ihm alle geistliche Tätigkeit untersagt. Im September 1944 wurde Maas zur Zwangsarbeit in Frankreich abkommandiert. Das Kriegsende erlebte er wieder in Heidelberg. Bereits im Jahre 1946 nahm er an internationalen Konferenzen in der Schweiz und in England teil und setzte seine Arbeit der interreligiösen Begegnung fort.

Hermann Ludwig Maas kann zweifelsohne als einer der wichtigsten Vordenker im Kontext des Dialogs und der Christlich-Jüdischen Gesellschaften gelten. Viele derer, denen Maas zur Flucht verholfen hatte, lebten in Israel. Nicht zuletzt ihrem Einfluss war es wohl zu verdanken, dass Maas als erster nichtjüdischer Deutscher bereits 1949 eine offizielle Einladung nach Israel erhielt, der er 1950 folgte. Im gleichen Jahr publizierte er einen Reisebericht über seinen siebenwöchigen Aufenthalt: Skizzen von einer Fahrt nach Israel.[10]

Maas hatte die Gelegenheit, das ganze Land zu bereisen; mit regierungsamtlicher Unterstützung konnte er zahlreiche soziale, pädagogische und wirtschaftliche Einrichtungen besuchen. Ihre Darstellung nimmt neben ausufernden Naturbeschreibungen einen Schwerpunkt ein; dazu treten Berichte über das Treffen mit Israelis, viele von ihnen ehemalige Bekannte und Freunde aus der Zeit vor der Shoah. Der ganze Text ist durchzogen von religiöser Interpretation. Nun dürfte das bei der Begegnung mit Geretteten bei einem gläubigen Christen nicht wirklich verwundern, doch betrifft es keineswegs nur solch emotional bewegende Kontexte. Eher verstärkt sich bei der Lektüre der Eindruck, dass die ganze Reise als eine Bejahung der angesichts der Modernität Tel Avivs gestellten Frage erfahren und gedeutet wird: „Und doch, sollte Gott nicht einmal die Geschichte so gewendet haben, daß die Auferstehung seines uralten Volkes auch in solch einer neuen Stadt sich offenbaren müßte?“[11] Jedenfalls gilt dies gewiss für seine Beschreibung des Lebens im Kibbuz. Die dortige Lebensform skizziert er voller Bewunderung, wobei er die Intention der Bewohner überhaupt nicht in den Blick nimmt:

Das Leben hier ist merkwürdig losgelöst von dem, was wir Geld nennen. Es ist eine neue Form, sowohl der Gemeinschaft als auch des innerenWollens und der geistigen Haltung. So wird das Kind hier von klein auf ganz unkapitalistisch erzogen ohne auf der anderen Seite auch nur in irgend einer Weise kommunistisch geführt zu werden.Wenn wir der Sache einen Namen geben wollten, müßte ich mir außer vielen Stellen im Alten Testament vor allem auch die Bilder aus der Urgemeinde des Neuen Testaments heranziehen.[12]

Für Maas handelt es sich nicht etwa um einen sozialistischen Lebensentwurf, sondern um einen gesamtbiblischen. Und er sieht darin Parallelen zu den Anfängen des Christentums nach Apg 2, 44f.: „Alle Glaubenden aber hielten zusammen und hatten alles gemeinsam; Güter und Besitz verkauften sie und gaben von dem Erlös jedem so viel, wie er nötig hatte.“

Ähnlich verklärt er die israelische Regierung. Ihre Mitglieder sind ihm „Handlanger Gottes“ und wirken an dem Kommen des Messias mit:

Sie weiß sich als Handlanger Gottes, der sein Volk sammeln will in dieser Stunde seiner Reich-Gottes-Geschichte. Diese Sammlung soll dem viel Größeren vorangehen, das wir heute noch nicht fassen und uns ausdenken und ausmalen können, was aber nur mit den Worten ‚Erlösung‘ und ‚Erfüllung‘ zu fassen ist, hinter denen groß und lebendig der Messias steht.[13]

Die Staatsgründung ist „der Beginn der Erlösung des jüdischen Volkes“, folglich nimmt Maas im Staat Israel bei all seinen gesellschaftlichen Kontakten eine neue intensive Religiosität wahr. Angesichts der damaligen Klagen der Orthodoxie verwundert diese Aussage doch ein wenig.

Die Probleme in Israel sind riesengroß, die Aufgaben übermenschlich, die Bedrohungen oft grausam, die Entbehrungen ohne Mitleid. Sie können nicht gelöst werden ohne den Glauben, die Hoffnung […] Für die meisten meiner Freunde ist der neue Staat und was heute geschieht, der Beginn der Erlösung des jüdischen Volkes. Darum geht ein großes Wundern und Danken durch die Herzen. Sie zitieren mit leuchtenden, oft tränenerfüllten Augen die Verheißungen der Propheten, die sich auf die Rückkehr Israels in sein Land beziehen und auf die Wiedererrichtung des jüdischen Staates im Land der Verheißung.[14]

Allerdings überträgt Maas bei diesen Beschreibungen das christlich-theologische Schema ‚Verheißung und Erfüllung‘ auf die jüdische Wahrnehmung:

Das Volk weiß, daß es am Scheidewege steht, amWeg zum Leben oder zum Tode. Es weiß, daß es sich entscheiden muß, Tag um Tag. Aber es sieht in dieser Tatsache kein zufälliges historisches Ereignis, auch keinen Mythus, sondern eine Tat Gottes, einen Schritt Gottes, der nicht nationalistische Logik, sondern tiefen Glauben verlangt und seherisches Ergreifen der Gottesstunde, Erfassen der Inspiration. Was am 5. Ijar 5708, am 14. Mai 1948 bei der Proklamation des selbstständigen Staates durch Ben Gurion, den jetzigen Ministerpräsidenten geschah, war etwas Unbegreifliches, und bedeutete eine Umkehr, eine Teschuwah, eine Antwort des Volkes auf die Antwort und Hinkehr Gottes zu seinem Volke, das aus tiefer Not flehende Hände, Seufzen und Stöhnen zu ihm hatte aufsteigen lassen. […] Als Gottesvolk fühlt sich Israel, als berufen zur Umkehr zum königlichen Priestertum, zum heiligen Volk, zum Volk des Eigentums. Nicht gesteigertes Nationalgefühl, sondern ein neuer Glaube an seine geheimnisvolle Berufung formt die Seele Israels. Das hilft, Parteigegensätze, nationalen Terrorismus und militärische Versuchungen überwinden und stärkt den inneren Widerstand gegen sie.[15]

Die Gründung des Staates Israel besitzt also auch für Christen eine theologischreligiöse Bedeutung und sie sind aufgefordert, darin das Handeln Gottes zu sehen und es als Beitrag zur Errichtung des Reiches Gottes zu erkennen.

Dann ist man erst so weit gekommen, dann fängt man wohl an zu sehen, was dieses Geschehen in Israel wei t e r gerade uns Christen zu sagen hat. Die Stunde, in der am 14. Mai 1948 der seltsame tapfere Mann, der allen seinen Ratgebern und den großen Mächten zum Trotz es wagten, die Selbstständigkeit des Staates Israel zu erklären, ist eine Gottesstunde. BenGurion ist nichts als ein Handlanger Gottes.Und nach dem,was ich von ihm gehört habe, weiß er darum. Wenn wir auch ganz stille sein müssen, wenn Gott redet und handelt, so dürfen wir doch nicht aufhören, nach den Zeichen der Zeit auszuschauen und ‚ja‘ zu seinem Tun zu sagen. Hier in dieser Stunde hat der ewige Gott seinem Volke eine Gelegenheit geschenkt, die zu erleben zu den größten Ereignissen in der Geschichte des Reiches Gottes gehört.[16]

Man begegnet an dieser Stelle einem in den 1920er Jahren nicht selten anzutreffenden Element des christlichen Philosemitismus und -zionismus. Es geht um die eschatologische Zeitenwende. Bei Maas ist jedoch bemerkenswert, dass es sich nicht mit missionstheologischen Aussagen verbindet; nicht die Hinwendung der Juden zum Christentum bedeutet Erlösung, sondern das Werden des Staates.

Eines muss noch erwähnt werden: Maas gedenkt der Shoah oder besser: wird in Israel an sie erinnert. Und dieser Befund trifft nicht nur dann zu, wenn er Freunde und Bekannte trifft, denen er zur Flucht verhalf. Sie ist vielmehr allgegenwärtig.

Dort hatten sie die Reste der Torarollen, die Kronen und Mäntel derselben, die Stäbe zum Lesen, andre Kultgegenstände und Teppiche von der heiligen Lade ausgestellt, die teils unversehrt, teils halb verbrannt bei dem furchtbaren Sturm auf die Synagogen in Deutschland und in anderen Ländern gerettet werden konnten. Es war einfach entsetzlich für mich, wie ich diese Leute, Männer, Frauen und Kinder, sich unter Tränen an diesen heiligen Resten beugen und sie küssen sah. Und wie ich sah, wie sie suchten nach den ihnen bekannten Namen. Dies Schluchzen und stille Weinen werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Eine furchtbare Anklage war’s mir, die nicht verstummen wird.[17]

Mass, das sei ausdrücklich festgehalten, gehört nicht zu denen, die die deutsche Verantwortung für die Shoah nicht wahrhaben wollten. Das unterscheidet ihn von vielen, auch Geistlichen beider Konfessionen der damaligen Zeit. Dennoch bleibt bemerkenswert oder auch irritierend, wie er die Begegnung mit Überlebenden der Shoa theologisch auflädt interpretiert: „Und um mich die Männer und Frauen, deren Angesicht wir zerstört, gequält haben. Nun hat sie die Gottesglorie über ihrer Heimat erfaßt […]“[18] Die Gottesglorie überleuchtet letztlich auch das „wir“ in der Aussage.

Zusammenfassung

An den Staat Israel hefteten sich von der Gründung an bedeutend mehr Konnotationen als an jeden anderen Staat, eben auch theologische. Diese Einschätzung mag als banal gelten, insofern sie sich auf Gesellschaften beziehen, die von Menschen jüdischen und christlichen Glaubens getragen werden. Dennoch sei hier eine Überlegung zur besonderen Funktion dieser religiösen Aufladung Israels innerhalb der deutschen Debatten angestellt. Ganz offensichtlich ist diese Deutung mit einer anderen verschränkt, nämlich mit der der Shoah. Hierbei geht es darum, dass die Vernichtung als in der Staatsgründung endend gedacht wurde. In kühnen und abwegigen geschichtstheologischen Konstruktionen wurden beide in eine Beziehung gesetzt. Shoah und Staatsgründung wurden als Geschehen gedeutet, die alleinig im Handeln Gottes gründeten. Sie waren letztlich menschlicher Einsicht nicht zugänglich. Mit dem Begriff Mysterium wurden sie dem Diskurs entzogen.

Auf eine sehr merkwürdige Weise trugen somit die Staatsgründung und ihre theologische Deutung zu einer gleichsam transzendenten Exkulpation der christlichen Deutschen bei. In den sechziger und siebziger Jahren wich dann in den Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, nicht zuletzt wegen enger Kontakte, die religiöse Apotheose Israels einer nüchternen Betrachtungsweise bei gleichbleibender Solidarität, wobei die Frage einer theologischen Deutung der Staatsgründung für christliches Denken virulent blieb.[19]

[1] Vgl. Münz, Christoph u. Rudolf W. Sirsch (Hrsg.): „Wenn nicht ich, wer? Wenn nicht jetzt, wann?“ Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR). Münster 2004.
[2] Zur Entstehungsgeschichte der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vgl. Foschepoth, Josef: Im Schatten der Vergangenheit. Die Anfänge der Gesellschaften für Christlich- Jüdische Zusammenarbeit. Göttingen 1993; vgl. weiterhin: Braunwarth, Esther: Interkulturelle Kooperation in Deutschland am Beispiel der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. München 2011; Münz u. Sirsch „Wenn nicht ich, wer?; Enzenbach, Isabel: Art. Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. In: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 5. Hrsg. von Wolfgang Benz. München 2012. S. 282–284; Erler, Hans u. Ansgar Koschel (Hrsg.): Der Dialog zwischen Juden und Christen.Versuche des Gesprächs nach Auschwitz. Frankfurt/Main 1999; Schulz-Jander, Eva Maria: Die Gesellschaften für Christlich- Jüdische Zusammenarbeit im Wandel von 50 Jahren. In: Kirche und Israel 13 (1998). S. 113– 119; Tuor-Kurth, Christina (Hrsg.): Das christlich-jüdische Gespräch. Standortbestimmungen. Stuttgart 2000.
[3] Vgl. Kraut, Benny: Towards the Establishment of the National Conference of Christians and Jews.The Tenuous Road to Religious Goodwill in the 1920s. In: American Jewish History 77 (1988). S. 388–412.
[4] Vgl. Diner, Dan: Im Zeichen des Banns. In: Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Hrsg. von Michael Brenner. München 2012. S. 15–66; Sinn, Andrea: „Und ich lebe wieder an der Isar“. Exil und Rückkehr des Münchner Juden Hans Lamm. München 2008. Insb. S. 47–92.
[5] World Jewish Congress: Resolutions Adopted by the Second Plenary Assembly of the World Jewish Congress, Montreaux, Switzerland. June 27th-July 6th 1948. London 1948. S. 7; vgl. dazu: Brenner, Michael: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950. München 1995. S. 99– 102; Geller, Jay Howard: Jews in post-Holocaust Germany, 1945–1953. Cambridge 2005. S. 62–65.
[6] Heuss, Theodor: An und über Juden. Aus Schriften und Reden (1906–1963) zusammengestellt u. hrsg.vonHans Lamm.Wien 1964. S. 121–127, hier S. 122; zur Kritik an dem Begriff vgl. Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein. Berlin 1987. S. 269–272.
[7] Vgl. Kampling, Rainer: Theologische Antisemitismusforschung. Anmerkungen zu einer transdisziplinären Fragestellung. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hrsg. von Werner Bergmann u. Mona Körte. Berlin 2004. 67–83; Das Kreuz, die Historie und die christliche Judenfeindschaft. Nachdenken über Ursprünge und Zusammenhänge. In: Gelebte Religionen. Untersuchungen zur sozialen Gestaltungskraft religiöser Vorstellungen und Praktiken in Geschichte und Gegenwart (FS Hartmut Zinser). Hrsg. von Hildegard Piegeler [u. a.].Würzburg 2004. S. 97–105.
[8] Wie hartnäckig sich Stereotypen des Antijudaismus hielten, kann man etwa an Romano Guardini ablesen; vgl. Kampling, Rainer: „Da hilft es nicht, zu vergessen oder zu tun, als ob nichts wäre …“. Anmerkungen zu Romano Guardinis „Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage“. In: Theologie und Verantwortung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich. Hrsg. von Lucia Scherzberg. Paderborn 2005. S. 153–162.
[9] Zu ihm vgl. Geiger, Markus: Hermann Maas – Eine Liebe zum Judentum. Leben und Wirken des Heidelberger Heiliggeistpfarrers und badischen Prälaten. Heidelberg 2016; Keller,Werner (Hrsg.): Leben für Versöhnung. Hermann Maas – Wegbereiter des christlich-jüdischen Dialoges. Neubearb./ erw. Aufl. Karlsruhe 1997.
[10] Maas, Hermann: Skizzen von einer Fahrt nach Israel. Karlsruhe 1950.
[11] Maas, Skizzen, S. 5.
[12] Maas, Skizzen, S. 10.
[13] Maas, Skizzen, S. 22.
[14] Maas, Skizzen, S. 61.
[15] Maas, Skizzen, S. 65.
[16] Maas, Skizzen, S. 70.
[17] Maas, Skizzen, S. 18.
[18] Maas, Skizzen, S. 56.
[19] Vgl. dazu: Bongardt, Michael, Christen können den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel respektieren, in: Kampling, Rainer u. Michael Weinrich (Hrsg.): Dabru emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003. S. 94– 102.

Editorische Anmerkungen

Rainer Kampling, Prof. Dr., war seit 1992 bis 2022 Universitätsprofessor für Biblische Theologie / Neues Testament am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin. Unter seiner Leitung wurde 2008 der Ernst-Ludwig-Ehrlich-Masterstudiengang Geschichte, Theorie und Praxis des jüdisch-christlichen Verhältnisses an der Freien Universität Berlin eingerichtet. Er ist Gründungsmitglied des Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Seit 2021 ist Prof. Dr. Rainer Kampling Verbundleiter des BMBF geförderten Projekts „Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus“, das an der Freien Universität Berlin, am Leibniz-Institut für Bildungsmedien – Georg-Eckert-Institut und mit den Evangelischen Akademien in Deutschland umgesetzt wird. Neben seinen Forschungen zur Rezeptionsgeschichte der Bibel gehören die Theologie, die Geschichte und Praxis der jüdisch-christlichen Beziehungen und die theologische Antisemitismusforschung zu seinen Forschungsschwerpunkten.

Quelle: Stefanie Fischer, Nathanael Riemer and Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): Juden und Nichtjuden nach der Shoah: Begegnungen in Deutschland. Verlag De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2019, S. 157-166. https://doi.org/10.1515/9783110570083-012