Jüdische und christliche religiöse Bildung im Dialog

Der vorliegende Sammelband. geht auf ein Dialogforum zurück, das 2021 an der Universität Koblenz-Landau stattfand, und gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden Grundlagen religiöser Bildung aus jüdischer und christlicher Perspektive skizziert, ehe unter der Überschrift „Religiöse Bildungsinhalte und Themen: Menschrechtlich angedacht im Dialog“ Einzelfragen in den Blick kommen. Ein Rück- und Ausblick auf „Perspektiven“ beschließt den Band, der sich als „Plädoyer für Dialog, gemeinsames Lernen und das Aufbrechen von Stereotypen“ (16) versteht, wie Shila Erlbaum in ihrem Geleitwort die kaum zu unterschätzende Relevanz des Themas auf den Punkt bringt.

Zunächst beleuchtet Wolfgang Urbany (21–34) die aktuelle Lage des christlichen RUs. Er erinnert etwa an die Bedeutung der Würzburger Synode sowie die zentralen Elemente der Korrelation und Elementarisierung. Sandra Anusiewicz-Baer (35–48) nähert sich der Trias Bildung – religiös – jüdisch an und stellt die Orte jüdischer religiöser Bildung heraus (Familie, Gemeinde, Schule, staatl. Schulen, Jugendzentren). Dabei macht sie deutlich, dass sich diese nicht auf Religion verengen lasse und profiliert den Begriff der jüdischen Praxis (47). Matthias Bahr (49–61) beschreibt die interreligiöse Ausrichtung des christlichen RUs sowie die Bedeutung der Menschenrechtsbildung. Er betont, dass deren Aneignung innerhalb des Katholizismus eine Entwicklung durchlaufen hat, ohne abgeschlossen zu sein. Bahr fordert eine „soziale Anthropo-Theologie“ (57), die nach der Katastrophe der Schoah erinnerungsgeleitet ist und Identität nicht auf Kosten von universaler Solidarität sichert (59). Bettina Reichmann (62–77) rezipiert die Ergebnisse gegenwärtiger Jugendstudien, um eine politische religiöse Bildung zu profilieren, „verstanden im tiefsten Wortsinn: die Gemeinschaft im Blick habend“ (67). Dabei lotet sie das Verhältnis von Identität und gesellschaftlicher Pluralität aus, wobei den Menschenrechten eine „Brückenfunktion“ (69) zukomme. Wolfgang Pauly (78–91) wirft die Frage auf, wie die Gottesfrage mit der Menschenrechtsthematik zu verzahnen ist. Im Blick auf biblische Erzählungen charakterisiert er den Menschen als Beziehungswesen, so dass Gott „keine lebensferne Formel“ sei, „sondern eine Wesensaussage des Menschen“ (86) bezeichnen könne. Davon ausgehend skizziert er, wie jüdisch-christliche Gottesrede einen Zugang zu den Menschenrechten inhaltlich (86–88), formal (88–90) und praktisch (90f) bereichern kann.

Den zweiten Teil des Bandes eröffnet Walter Rothschild (95–106) mit einer Lektüre der biblischen Schöpfungserzählungen, die um eine Antwort darauf ringen, was Menschsein ausmacht. Dabei hebt er hervor, dass sich die Texte jeder Verengung verweigern. Vielmehr können die Lesenden „die Wörter als Fragen verstehen“ (106) und sich von ihnen herausfordern lassen. Andreas Benk (107–119) fordert, die Geschichte christlicher Judenfeindlichkeit im Theol.studium zu thematisieren und auch bei der Schriftauslegung zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund reflektiert er das Potenzial der Schöpfungstexte im RU, menschenrechtliche Fragen zu thematisieren. Jehoschua Ahrens / Annette Theis / Reichmann (120–132) betrachten die biblischen Propheten in ihrer Rolle als „Meinungsäußerer“ (120). Ahrens (122–126) sieht im Wirken Jeremias einen Impuls zur Reflexion auf die Gefahren gesellschaftlicher Ungleichheit und bietet exemplarische Aufgabenstellungen an, die „Handlungsoptionen, auch und gerade für heute“ (126) verdeutlichen. Theis (127–132) zeigt am Beispiel der Tempelreinigung auf, wie sich Jesu Praxis in der prophetischen Tradition verorten lässt. Dies zeige die Verbundenheit von Christen- und Judentum und helfe zudem, die „menschenrechtlichen Dimensionen von Freiheit und Solidarität“ (129) zu betonen.

Christian Cebulj / Susanne Benizri (133–144) nehmen exemplarisch zwei jüdisch-christliche Lerngegenstände in den Blick: Anhand Michael Mathias Prechtls Gemälde „Hermann Kesten im Café“ (135–139) beschreiben sie die Verbindung von ästhetischem Lernen und Menschenrechtsbildung. In Auseinandersetzung mit dem Dokumentationsfilm „Jung, jüdisch, unorthodox“ (139–142) treten sie für ein „Erinnerungslernen“ (142) ein, das die „Geschichte von Befreiung und Rettung“ ebenso in den Blick nimmt wie „die Leidenden und die Toten der Geschichte“ (143). Oliver Dyma (145–165) thematisiert das Gewaltpotenzial biblischer Texte und grenzt seinen hermeneutischen Zugang gegen eine fundamentalistische und antijüdische Lesart ab. Dazu nähert er sich zwei für die Bildungsarbeit geeigneten Texten: einem Dokument der Päpstlichen Bibelkommission (159–161) und einem satirischen Brief (162–164), der zur Reflexion der eigenen Bibelhermeneutik anregt. Er weist zudem auf die bleibende Gefahr überbietender Darstellungen von NT-Texten in Schulbüchern (155f) sowie einer Typologisierung atl. Bilder in der Liturgie (158) hin. Joachim Reger (166–182) reflektiert auf die „humanisierende Kraft der Auferstehungshoffnung“ (167), die v. a. das persönliche Zeugnis der Lehrenden erfordere. Er adressiert mögliche Schwierigkeiten, die Auferstehungshoffnung auf das eigene Leben zu beziehen, die „Annahme einer symbolischen Verfasstheit des Seins“, die „Forderung nach Freiheit durch Bindung“ sowie die „Dynamik der Selbstüberschreitung“ (176). Diese Elemente können jedoch zugleich humanisierende Kraft entfalten und so mit den Menschrechtsdiskursen in Beziehung gesetzt werden. Shira Rademacher / Reichmann (183–192) widmen sich Pessach und Ostern als Festen der Freiheit, an denen „Erinnerung mit allen Sinnen“ (184) erlebbar wird und die Konsequenzen für die Weltgestaltung haben. Religionsdidaktisch wird überlegt, wie Lernende die Exodus- und Pessacherzählung auf ihr eigenes Leben beziehen und mit den Anliegen der Menschenrechtserklärung vermitteln können. Die Auferstehung Jesu wird als Appell verstanden, angstfrei das Leben im Sinne der Nachfolge Jesu zu gestalten (190).

Francesca Vidal (195-205) plädiert abschließend im exemplarischen Rückgriff auf Ernst Bloch für die „Notwendigkeit einer religiösen Alphabetisierung“ (195), die auch für eine ernstzunehmende Religionskritik notwendig sei. Zudem profiliert sie die Bedeutung der Erinnerung für gegenwärtige Menschenrechtsbildung. Reichmann / Urbany (206–213) blicken in einer Abschlussreflexion auf den Diskussionsprozess während der Tagung zurück und halten Gemeinsamkeiten sowie Desiderate für künftige Begegnungen fest.

Dem vorliegenden Sammelband gelingt es, die Arbeitsthemen der Tagung in verschriftlichter Form so zu transportieren, dass das gemeinsame Ringen um Antworten deutlich wird. Die besondere Stärke liegt dabei im dialogischen Zugang zu zentralen Themen jüdischer und christlicher religiöser Bildung, der authentisch eine interreligiöse Begegnung vermittelt. Dies kann Lesende animieren, in der religiösen Bildungsarbeit, so oft wie möglich, miteinander statt nur übereinander zu theologisieren. Für Lehrende an Schule und Univ. ist die Lektüre zudem bereichernd, weil exemplarische Aufgabenstellungen für den Unterricht vorgeschlagen werden. Da die einzelnen Beiträge von überschaubarer Länge sind, dienen sie als eine hilfreiche Erstorientierung für eine vertiefende Lektüre. Denn der Band selbst weist über sich hinaus. Gerade weil Menschenrechte universelle Geltung beanspruchen, fordert eine vertiefte Auseinandersetzung eine explizit säkulare Perspektive, die kritisch reflektiert, inwiefern religiöse Zugänge zu Menschenrechten jenseits des Binnenraums kommunizierbar sind, ebenso wie weitere religiöse Stimmen. So ist dem Fazit der Herausgeber/innen zuzustimmen, „dass ein derartiges Gesprächsforum auch Muslime beinhalten sollte“ (207) und „am besten trialogisch“ (212) zu führen sei – ein Desiderat, das besonders dort deutlich wird, wo alle drei Religionen eine Tradition teilen, etwa im Blick auf das „Lernen mit den Propheten“ (210).

Bettina REICHMANN / Wolfgang URBANY (Hrsg.):
Jüdische und christliche religiöse Bildung im Dialog.
Anstöße für eine menschenrechtliche Zukunft.

Ostfildern 2022
Grünewald Verlag
216 S.; € 28,00

Editorische Anmerkungen

Lukas Wiesenhütter, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie unter besonderer Berücksichtigung gesellschaftlicher Herausforderungen der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.

Quelle: Theologische Revue 120 (September 2024); https://doi.org/10.17879/thrv-2024-5871