Jüdische Perspektiven auf den christlich-jüdischen Dialog im Spiegel von Verlautbarungen und Dokumenten

Ein jüdischer Blick auf das christlich-jüdische Verhältnis im Spiegel von Verlautbarungen und Dokumenten folgt zwangsläufig auch einem unterschiedlichen Verständnis der christlich-jüdischen Beziehungen selbst. Das zeigt sich vor allem in drei Punkten: erstens die Art und Weise der jüdischen Theologie des Christentums, zweitens die Zeitpunkte und Brüche der Dialogbemühungen auf jüdischer Seite und drittens die Örtlichkeiten.

Art und Weise der jüdischen »Theologie« des Christentums

Die grundsätzliche Frage ist, was man überhaupt unter Theologie versteht. Aus jüdischer Sicht lässt sich nicht in derselben Weise von einer Theologie sprechen, wie dies die christliche Tradition als selbstverständlich voraussetzt.

Das Judentum hat keine systematische Theologie im christlichen Sinne entwickelt, sondern andere Reflexionsformen, die der Zentralität des Gesetzes gerecht werden. Das Christentum wird daher auf jüdischer Seite auch nicht, wie das Judentum in der christlichen Theologie, in einer Dogmatik behandelt, sondern im Rahmen von Rechtsdiskursen.[1]

Es sollte daher auch nicht verwundern, dass die ersten religionsrechtlichen Entscheidungen zum Christentum nicht etwa zu zentralen Glaubensfragen, sondern zum Wirtschaftsrecht getroffen wurden. Solange das Judentum wenig soziale und wirtschaftliche Kontakte mit Christen hatte, gab es auch keine Veranlassung seitens der Rabbiner, sich mit dem religionsrechtlichen Status des Christentums zu beschäftigen.

Als sich aber nach und nach beachtliche Zentren jüdischen Lebens in den christlichen Ländern etablierten, war eine Positionierung wichtig, denn sollte das Christentum Götzendienst sein und Christen Götzendiener, dann wäre ein soziales und wirtschaftliches Miteinander von Juden und Christen stark eingeschränkt. Daher also in Aschkenas die ersten Entscheidungen vor ca. 1000 Jahren, klarer dann im 12. Jahrhundert, als die Rabbiner den Grundsatzentscheid fällten, dass das Christentum trotz der Trinität kein Götzendienst ist, da Nichtjuden nicht auf die strengen Kriterien des jüdischen Monotheismusverständnisses verpflichtet sind.[2] Damit erschöpft sich aber schon nahezu die Diskussion im Bereich der Halacha (verbindliches Religionsrecht).

Viele weitere Äußerungen vor allem zu den Gemeinsamkeiten von Judentum und Christentum (die im Laufe der Jahrhunderte sehr zahlreich gemacht wurden), fallen eher in den Bereich der Haschkafa (Weltanschauung; Leitphilosophie). Hinzu kommt, dass Rechtsangelegenheiten im Judentum dezentral und individuell von Rabbinern entschieden werden, anders als durch den Papst, Konzilien oder Synoden auf christlicher Seite.

Daher sind eigentlich gemeinsame rabbinische Erklärungen zum Christentum, wie sie 2015 (Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen) und 2017 (Zwischen Jerusalem und Rom) veröffentlich wurden, ungewöhnlich.[3]Zwischen Jerusalem und Rom ist sogar die erste offizielle Verlautbarung aus dem Judentum überhaupt, mit den amerikanischen und europäischen (orthodoxen) Rabbinerverbänden und dem Oberrabbinat von Israel als Herausgeber.

Was ist also überhaupt die theologische Dimension des Dialogs im Judentum? Darüber wird weiterhin intensiv debattiert. Orthodoxe Rabbiner gehen grundsätzlich davon aus, dass Christentum und Judentum weiterhin eigenständige Religionsgemeinschaften bleiben. Daher wird es auch theologische Punkte geben, bei denen man keine Übereinkunft erzielt. Die genannten rabbinischen Erklärungen nennen entsprechende Beispiele (Christologie und Trinität). Trotz dieser Unterschiede ist der jüdischen Orthodoxie ein Dialog mit den Christen sehr wichtig, er darf aber nicht zur Aufhebung der eigenen Wahrheitsposition führen. Daher sucht ein theologischer Dialog aus jüdischer Perspektive nicht nach einer gemeinsamen Theologie, sondern nach einem besseren Verständnis der theologischen Konzepte des anderen.[4]

Zeitpunkte und Brüche der jüdischen Dialogbemühungen

Der christlich-jüdische Dialog wird von christlicher Seite vor allem nach 1945 verortet und mit einer Umkehr der Kirchen in dieser Zeit verbunden. Das ist natürlich grundsätzlich richtig, denn vorher hat in der Tat kein Dialog (mit ganz wenigen Ausnahmen) stattgefunden – selbst nach 1945 hat es noch einige Zeit gedauert, bis die Kirchen als Institutionen das Thema aufgenommen haben. Dabei werden aber leicht die Dialogbemühungen der jüdischen Seite vor 1945 und sogar kurz nach dem Zweiten Weltkrieg übersehen. Ein Dialog konnte vor allem deshalb nicht schon viel früher stattfinden, weil die christliche Mehrheitsgesellschaft und die Kirchen nicht interessiert waren und die jüdischen Bemühungen ignorierten.

Das zeigt: Ein Dialog kann nur dann gelingen, wenn sich die Mehrheit dazu entscheidet, mit der Minderheit ins Gespräch zu kommen. Da konnte der Wunsch auf jüdischer Seite nach einem Dialog und Partnerschaft mit Christen und den Kirchen noch so groß gewesen sein. Insbesondere in der Zeit der Aufklärung und der Emanzipation wuchs die Hoffnung auf jüdischer Seite, dass mit der staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden auch ein Dialog auf Augenhöhe im religiösen Bereich möglich sein würde. Basierend auf älteren Quellen entwickelten die Rabbiner eine positive Haltung zum Christentum, die den Weg zum Dialog ebnen sollte.[5]

Mitentscheidend für diese Entwicklung war der orthodoxe Hamburger Rabbiner Jacob Emden, der sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts in einem Sendschreiben über Jesus, Paulus und Christen äußerte. Er schrieb unter anderem über die Rolle von Jesus: »Die Autoren der Evangelien wollten nie sagen, dass Jesus kam, um das Judentum abzuschaffen, sondern nur, dass er kam, um von dieser Zeit an eine Religion für die Heiden zu gründen. Sie war auch nicht neu, sondern wirklich uralt; es sind die Sieben Gebote der Söhne Noahs, die vergessen wurden. Die Apostel Jesu setzten sie dann neu ein. Jedoch sind diejenigen, die als Juden geboren oder als Konvertiten zum Judentum beschnitten wurden, verpflichtet, alle Gebote der Torah ohne Ausnahme zu befolgen. Jesus ließ der Welt eine doppelte Güte zuteil werden. Einerseits stärkte er die Torah von Moses in majestätischer Art … und keiner unserer Weisen sprach jemals nachdrücklicher über die Unveränderlichkeit der Torah. Andererseits beseitigte er die Götzen der Völker und verpflichtete die Völker auf die sieben Noachidischen Gebote, so dass sie sich nicht wie wilde Tiere des Feldes aufführten, und brachte ihnen grundlegende moralische Eigenschaften bei und in dieser Hinsicht war er bekanntlich viel strenger mit ihnen als die Torah von Moses.«

Rabbiner Emden ist ein Vordenker auch in Bezug auf Paulus. Er argumentiert nicht nur, dass Paulus Jude war, sondern auch, dass er zeitlebens eine jüdische Perspektive beibehielt: »Nach den neutestamentlichen Schriftstellern darf kein Jude die Tora verlassen, denn so äußert sich Paulus in seinem Brief an die Galater: ›Ich sage euch, wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch der Messias nichts nützen; ich zeuge aber einem Jeden, der beschnitten ist, dass er alle Gesetze zu tun verpflichtet ist.‹ Aus diesem Grund warnt er auch im ersten Brief an die Korinther (7,18), dass der Beschnittene sich keine Vorhaut und der in der Vorhaut Berufene sich nicht beschneiden lasse. Daraus kann man verstehen, dass Paulus sich wegen seiner Beschneidung von Timotheus nicht widerspricht, denn letzterer war der Sohn einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters (Apostelgeschichte 16), und Paulus war ein Gelehrter, ein Schüler von Rabban Gamaliel dem Älteren, bewandert in den Gesetzen der Tora. Er wusste, dass das Kind einer jüdischen Mutter als Jude gilt, auch wenn der Vater ein Nichtjude sein sollte, wie es im Talmud und den Kodizes geschrieben steht. Er handelte daher ganz in Übereinstimmung mit der Halacha, indem er Timotheus beschnitt. Dies entspräche seiner Position, dass alle in ihrem eigenen Glauben bleiben sollten (1. Korinther 7).«

Das ist sehr interessant in Bezug auf die neueste Paulusforschung, denn argumentiert Emden doch, dass Paulus Jude durch und durch geblieben ist und so auch seine Aussagen zu verstehen sind. Über die zeitgenössischen Christen äußert sich Emden ebenfalls sehr positiv und ist wohl der erste jüdische Gelehrte, der in einem offiziellen Dokument von Christen als Brüder spricht: »Im Namen des Himmels, wir sind eure Brüder! Ein Gott hat uns alle erschaffen… Wir beten für das Wohl der ganzen Welt und besonders für das Wohl der Länder, in denen wir leben, die uns und die Einhaltung der Tora schützen... Ihr, Mitglieder des christlichen Glaubens, wie gut und angenehm wäre es, wenn ihr das befolgt, was euch von euren ersten Lehrern angeordnet wurde; wie wunderbar ist euer Anteil, wenn ihr den Juden bei der Einhaltung ihrer Tora helft. Ihr werdet eine Belohnung erhalten, als hättet ihr sie selbst erfüllt – denn wer anderen bei der Einhaltung hilft, ist größer als einer, der beachtet, aber anderen nicht dabei hilft… – der Jude, der die Tora beachtet, aber sie nicht unterstützt, zählt zu den Verfluchten und der Nichtjude, der die 613 Gebote nicht befolgt, aber sie unterstützt, wird als einer der Gesegneten angesehen.«[6]

Im 19. und 20. Jahrhundert wurden solche und ähnliche Texte in Bezug auf das Christentum immer wieder von führenden orthodoxen Rabbinern aufgenommen und weitergedacht.

Samson Raphael Hirsch, der einflussreiche Frankfurter Rabbiner und Begründer der Neo-Orthodoxie (heute moderne Orthodoxie genannt), hatte die Vision einer Symbiose von Deutschtum und Judentum und stellte Christen in allen Belangen auf eine Stufe mit Juden, auch in Bezug auf das Recht auf »aktive, brüderliche Liebe«.[7] Sein universales Menschheitsverständnis zeigt sich immer wieder in seinen Schriften, beispielsweise in seinem berühmten Torah-Kommentar oder auch in den 19 Briefen: »Findet Israel nicht sein Ziel in Allverbrüderung der Menschheit? Wird nicht fast auf jeder Seite selbst unserer heutigen Gebete um Förderung dieses Zieles gefleht? An Einem großen Bau arbeiten wir alle, alle Völker [...]: Alles Beitrag zu Einem Bau der Menschheit; Alle hinauferzogen zu Einem Gott!«[8]

Rabbiner David Zvi Hoffmann warb Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts für ein Miteinander von jüdischen und »christlichen Mitbürgern« und wies den Vorwurf, dass Christen aus jüdischer Sicht Götzendiener seien, scharf zurück: »Selbst die theoretischen, für die Praxis ganz unschädlichen Fremdengesetze wollten die Rabbinen ihren Landsleuten gegenüber (von Mitbürgern konnte ja bis in unsere Zeit nicht die Rede sein) nicht dulden, und so stellten sie – Allen voran und am Entschiedensten R. Menachem Meiri – schon im 13. Jahrhundert die These auf, daß alle jede Gesetze nur den barbarischen Heiden galten, daß aber gegen civilisierte Christen und Mohamedanern ganz so zu verfahren sei, wie gegen Israeliten. Diese These war unanfechtbar… Die ›Gojim‹ des Talmuds sind stets nur heidnische Römer oder Perser. – Was liegt nun näher als die Lehre, daß die alten Fremden-Gesetze gegen die Monotheisten keine Geltung haben? Diese Ansicht wurde nach und nach die im Judenthum alleinherrschende, besonders seit dem 17. und 18. Jahrhundert, seitdem durch den Einfluß des R. Moses Isserles ›ganz Israel‹ sich zu der Ansicht bekannte, daß das Judenthum gar keinen Grund habe, dem Christenthume feindlich gegenüberzustehen, da nach den Grundsätzen der christliche Cultus für Nichtjuden gar nicht verboten sei und der fromme Christ der ewigen Seligkeit theilhaftig werde. Ob einige spätere Rabbinen auch die Christen für Götzendiener hielten, ist für das Judenthum ganz gleichgiltig. Es ist das religionsgesetzlich ebenso maßgebend, wie etwa der Umstand daß in manchen mittelalterlichen rabbinischen Schriften Oesterreich Erez HaDamim (das Blutland) genannt wird. Und doch hat heute jeder Jude die wärmsten Sympathien für Oesterreich und das erlauchte österreichische Herrscherhaus. Das Oesterreich von jetzt ist eben nicht das Oesterreich von damals. Und das Christenthum hat sich seit R. Joseph Karo in gar nichts geändert?! Und das Urtheil der Juden über die heutigen Christen soll von dem über die mittelalterlichen Christen um kein Haarbreit abweichen?! Dies glaube, wer da will, wir glauben es nicht!«[9]

Trotz des Horrors der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg suchten orthodoxe Rabbiner, wie Chaim Zwi Taubes, 1930 –1936 Rabbiner des Pazmanitentempels in Wien und schließlich von 1936 –1966 Oberrabbiner von Zürich[10], weiterhin das Gespräch mit den Kirchen, was teilweise in der Schweiz auch gelang. Taubes wurde mit seinem Engagement nicht nur zu einem Pionier des christlich-jüdischen Dialogs in der Schweiz und international[11], sondern auch ein Vordenker des Trialogs. Für Taubes war der Rassismus der fundamentale Gegenpol zu den Religionen und der Zweite Weltkrieg daher auch ein Kampf zwischen diesen beiden Wertesystemen. Hier ist Rabbiner Taubes seiner Zeit schon weit voraus, denn er sah die Trennlinien nicht zwischen den Religionen, sondern zwischen dem Rassismus einerseits und den Religionen andererseits, die Verbündete sind gegen diese antireligiöse Ideologie. Für ihn kann der Rassismus nur dort gedeihen, wo die Religion an Kraft verliert, wie er in einem wegweisenden Essay schrieb, der auf einem Vortrag mit dem Titel Das gemeinsame in Judentum, Christentum und Islam basierte, den er am 10. Februar 1940 in Zürich hielt: »Der Rassismus in seiner dynamischen Aufmachung ist gewiss nicht alleine eine Frage der letzten Entscheidung für ein Volk, sondern eine Existenzfrage des Abendlandes. Da der… in krassem Gegensatz zur Religion steht, ist er auch nicht an ein bestimmtes Land gebunden, sondern findet überall dort Zündstoff für seine dynamischen Ausbrüche, wo die Religion des Abendlandes im Versickern ist, da sein Kampfplatz, trotz der beabsichtigten Täuschung, nicht der Nationalismus, sondern die Religion ist… Es handelt sich um einen Kampf des Baal gegen den wahren Gott.«[12]

Das Gemeinsame aller drei Offenbarungsreligionen war für Taubes »das Grunderlebnis der Lebensrettung und Lebensgewinnung« und das Aufheben des himmlischen Vernichtungsbeschlusses kurz vor dem Untergang. Das ist es, was sie auch in jener Zeit zusammenbringen sollte: »Nun ist auch jetzt eine ähnliche Stimmung über die Welt hereingebrochen. Diese steht an einer Wende der Zeiten. Präsident Roosevelt hat recht, wenn er die Religionen und Konfessionen auffordert, den kommenden Frieden vorbereiten zu helfen. Das neue Leben und das neue Licht kommt wiederum von der Religion.«[13]

In dieser Zeit erschienen dann auch bereits die ersten gemeinsamen, christlich-jüdischen Verlautbarungen, bspw. die Gründungserklärung des Council of Christians and Jews[14] in England 1941, die Three Faiths Declaration[15] in den USA 1943 und die Erklärung der Arbeitsgemeinschaft von Christen und Juden[16] in der Schweiz 1945.

Das alles zeigt, dass ein Band mit Dokumenten vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwingend notwendig ist (der vom Herausgeberkreis auch in Erwägung gezogen wird), damit diese wichtigen Beiträge zum Dialog nicht vergessen werden. Es zeigt auch, dass die neueste Entwicklung im Dialog in den 2000ern keinesfalls eine Neuorientierungen der jüdischen Orthodoxie ist, sondern eine Anknüpfung an die Traditionen vor 1945, die aber durch den Bruch derSchoah und die Weigerungen der Kirchen, daraus schnell Konsequenzen zu ziehen, zunächst unterbrochen wurde.

Gerade in der Zeit vor Nostra Aetate und ähnlichen Änderungen in der christlichen Lehre in den evangelischen Kirchen waren die Rabbiner skeptisch bis ablehnend gegenüber einem Dialog mit dem Christentum. Rabbiner Mosche Feinstein bspw., einer der führenden zeitgenössischen amerikanischen Rabbiner, lehnte den Dialog sogar explizit in einem Responsum[17] ab. Für ihn waren die positiven Entwicklungen in den Kirchen nur Ausdruck der alten Strategie im neuen Gewand. Rabbiner Joseph B. Soloveitchik, eine ebenso prägende Figur der amerikanischen Orthodoxie, rät in seinem berühmten Artikel Confrontation aus dem Jahr 1964 (also noch vor Veröffentlichung von Nostra Aetate) zwar vom theologischen Dialog mit Christen ab, setzte sich aber grundsätzlich für einen christlich-jüdischen Dialog ein, wie es eine Erklärung des orthodoxen amerikanischen Rabbinerverbands aus dem selben Jahr widerspiegelt:

»Mit Freude stellen wir fest, dass in den letzten Jahren sowohl in unserem Land als auch in der ganzen Welt der Wunsch entstanden ist, nach einem besseren Verständnis und nach gegenseitigem Respekt innerhalb der großen Glaubensgemeinschaften dieser Welt zu streben. Die gegenwärtige Bedrohung durch Säkularismus und Materialismus und das moderne atheistische Negieren von Religion und religiösen Werten macht die harmonische Beziehung der Mitglieder der einzelnen Glaubensrichtungen zu einem immer dringenderen Anliegen. Eine solche Beziehung kann jedoch nur wertvoll sein, wenn sie sich nicht im Konflikt mit der Einzigartigkeit einer jeden Glaubensgemeinschaft befindet, denn jede religiöse Gemeinschaft ist eine individuelle Einheit, die nicht mit einer Gemeinschaft zusammengeführt oder gleichgesetzt werden kann, die an einen anderen Glauben gebunden ist. Jede religiöse Gemeinschaft ist mit einer innewohnenden Würde und mit metaphysischem Wert ausgestattet.«[18]

Örtlichkeiten

Während vor der Schoah, insbesondere im 19. Jahrhundert, Europa das Zentrum jüdischen Denkens war und entsprechend viele wichtige Beiträge zu allen möglichen religiösen Themen und Entwicklungen von dort kamen bzw. ausgingen, verschob sich nach und nach der Schwerpunkt jüdischer Gelehrsamkeit nach Nordamerika und Israel, insbesondere nach der Schoah.

Nach neuesten Erhebungen leben über 90% aller Juden weltweit in Nordamerika und Israel. Die wichtigsten religiösen Institutionen haben dort ihren Sitz. Damit bestimmen sie heute auch viele Entwicklungen im religiösen Bereich, während Europa relativ wenig Bedeutung zukommt, trotz des reichen jüdischen Erbes. Gerade die Entwicklungen in Israel, auch im Bereich des interreligiösen Dialogs, werden zu wenig von Deutschland aus wahrgenommen, dabei hat sich gerade hier in den letzten Jahren enorm viel getan. Zwar hat zu Beginn des Staates der Dialog mit dem Christentum kaum eine Rolle gespielt, aber es gab zu jeder Zeit Stellungnahmen zum Christentum und anderen Religionen.[19]

Ein Beispiel ist die Stellungnahme von Oberrabbiner Jizchak Herzog, dem ersten Oberrabbiner Israels, zum Status der nichtjüdischen Religio - nen im Staat Israel 1952:

»So wie die Weisen sagten, dass Heiden außerhalb des Landes keine wirklichen Götzendiener sind – sondern ›sie [lediglich] die Bräuche ihrer Vorfahren beibehalten‹ (Chullin 13b) – so sind auch zeitgenössische Christen, sogar Katholiken, keine Götzendiener im Land, im ursprünglicher Sinn des Begriffs; vielmehr ist ihr Herz beim Himmel, obwohl sie den Widerspruch zwischen Monotheismus und der Trinität nach ihrer eigenen Lehre nicht auflösen können. Bezüglich ihres Gottesdienstes: Was die Protestanten betrifft, ist ihr Glau- be im schlimmsten Fall [nur eine Sache] der Hinzufügung zur Gottheit, und ihr Gottesdienst betrifft keine Statuen, sondern nur das Kreuz, das eindeutig kein Gegenstand von Anbetung ist, sondern ein Symbol. Doch selbst von den Katholiken wissen wir, dass sie Statuen nicht als Gottheiten anbeten, sondern die darin befindlichen Personen verehren.«

In seiner Amtszeit als Oberrabbiner von Tel Aviv äußerte sich Rabbiner Chaim David Halevi 1987 ausführlich in einem Responsum Über die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden zum Christentum:

»Keine Christen sind heutzutage tatsächlich Götzendiener, wie es die Heiden waren, die der Talmud während der talmudischen Zeit verurteilte… Christen glauben an den Auszug aus Ägypten, die Erneuerung der Welt und an die Grundprinzipien des Glaubens. Ihre ganze Absicht gilt dem Einen, der Himmel und Erde gemacht hat… Die gesetzliche Kategorie ›Götzendiener‹ gilt nicht für Nichtjuden unserer Zeit… Positive Interaktion mit Christen in allen Facetten des Lebens sind Akte von Kiddusch Haschem (Heiligung des Namens Gottes), die Israel auszeichnen... Alle Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, ob in Israel oder in der Diaspora, ob in gesellschaftlichen Beziehungen als Staat zu seinen nichtjüdischen Bürgern oder ob in persönlichen Beziehungen… müssen mit Fairness und Integrität geführt werden… und auf Grundlage der menschlichen ethischen Verpflichtung erfüllt werden.«

Ein anderes Beispiel ist eine Erklärung des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation (CJCUC), das mittlerweile seinen Sitz in Jerusalem hat und 2008 von Shlomo Riskin, Oberrabbiner von Efrat und seit Jahrzehnten im Dialog aktiv, gegründet wurde.[20] DasCJCUC veröffentlichte 2011 eine orthodoxe Stellungnahme zum Christentum mit dem Titel A Jewish Understanding of Christians and Christianity, in der es heißt:

»Jewish and Christian theologies are no longer engaged in a theological duel to the death and therefore Jews should not fear a sympathetic understanding of Christianity that is true to the Torah, Jewish thought and values. In today’s unprecedented reality of Christian support for the Jewish people, Jews should strive to work together with Christians toward the same spiritual goals of sacred history – universal morality, peace, and redemption under God – but under different and separate systems of commandments for each faith community and distinct theological beliefs… Jews and Christians must bear witness together to the presence of God and to His moral laws. If Jews and Christians can become partners after nearly 2,000 years of theological delegitimization and physical conflict, then peace is possible between any two peoples anywhere. That peace would be our most powerful witness to God’s presence in human history and to our covenantal responsibility to carry God’s blessing to the world. It is the very essence of what makes up the messianic dream.«[21]

Ein anderer wichtiger Faktor bei der Entwicklung des christlich-jüdischen Dialogs und Quelle zahlreicher Stellungnahmen und Verlautbarungen ist die bilaterale Kommission für den Dialog zwischen dem Oberrabbinat Israels und der Kommission des Heiligen Stuhls für religiöse Beziehungen zum Judentum, die 2002 eingerichtet wurde. Der Vorsitz der bilateralen Kommission wurde ursprünglich auf katholischer Seite von den Kardinälen Jorge Mejia und Georges Cottier und auf jüdischer Seite von Oberrabbiner She’ar Yashuv Cohen sel. A. geleitet. Später übernahmen Kardinal Peter Turkson und Oberrabbiner Razon Aroussi den Co-Vorsitz.[22]

Die Kommission stellte bereits auf ihrem vierten Treffen 2004 fest, dass Juden und Christen »nicht länger Feinde sind, sondern unwiderrufliche Partner bei der Artikulierung der wesentlichen, moralischen Werte für das Überleben und das Wohl der Menschheit.«[23] In einer Rede in München 2011 sagte Oded Wiener, zu diesem Zeitpunkt Generaldirektor des Oberrabbinats in Israel und Mitglied der Kommission: »The Jewish-Christian dialogue is a special one for Jews and is an imperative for Christianity. As the late Pope John Paul II described it, ›Christianity’s relationship with Judaism is unique and unlike the relationship that Christianity has to any other religion.‹ Beyond this most basic need for dialogue is the responsibility we have to the values we believe in. We have an obligation to engage others who believe in these values in order to pursue them together. Furthermore, the Jewish-Christian dialogue is essential for overcoming bigotry and prejudice. It is part of an imperative to work together for the values we share. We are blessed to live in a unique historic era in terms of the relationship between Jews and Christians, and the Jewish and Catholic communities in particular.«[24]

Nach Veröffentlichung von Zwischen Jerusalem und Rom erklärte die jüdische Seite auf der Kommissionssitzung 2017, dass es das Ziel der Erklärung ist, »eine Wertschätzung des Wandels zum Ausdruck zu bringen und die Partnerschaft zwischen der Katholischen Kirche und dem jüdischen Volk beim Kampf gegen gewalttätige Geißeln zu stärken, die unsere Welt von heute bedrängen, und auf diese Weise für eine bessere Welt für die ganze Menschheit zusammenzuarbeiten.«

Mit dieser innerhalb der jüdischen Welt wachsenden Wertschätzung »der strategischen Bedeutung der Beziehung zur Katholischen Kirche, und darüber hinaus für die theologischen wie auch moralischen Imperative zur Vertiefung dieser gegenseitigen Beziehung, wird die Gelegenheit zum Aufbau des Königsreichs der Himmel auf Erden« zur gemeinsamen Verpflichtung.[25]

Dass selbst bis weit ins ultraorthodoxe Spektrum der Dialog mit dem Judentum und anderen Religionen in Israel ein Thema ist, zeigt ein Beitrag des kürzlich verstorbenen einflussreichen Rabbiners Adin Steinsaltz, in dem er schreibt: »Einer der höchsten Grundsätze der noachidischen Gesetze ist der Glaube an den Einen Gott. Sowohl der Islam als auch das Christentum… erfüllen diese zentrale Forderung und ebnen den Weg für die jüdische Anerkennung dieser Religionen.«[26]

[1] Ahrens, Jehoschua; Hoff, Gregor-Maria (2020): »Brüder auf einer gemeinsamen Suche: Eine Analyse der jüdisch-orthodoxen Stellungnahmen zum Dialogkurs der Kirche«, in: Herder Korrespondenz, Bd. 74, Nr. 7, S. 25.
[2] Tosfot Kommentar zu bT Sanhedrin 63b und sinngemäß an weiteren Stellen.
[3] Zu Entstehung und Inhalt dieser Erklärungen ausführlich: Ahrens, Jehoschua (2017): »Revolutionäre Entwicklungen innerhalb der jüdischen Orthodoxie in Bezug auf den jüdischchristlichen Dialog«, in: ZfBeg, Nr. 3, S. 198–208.
[4] Ahrens, Jehoschua; Hoff, Gregor-Maria (2020): »Brüder auf einer gemeinsamen Suche«, S. 25.
[5] Ahrens, Jehoschua (2021): »Der jüdisch-christliche Dialog im deutschsprachigen Raum«, in: Levine, Amy-Jill; Brettler, Marc Zwi (Hg.): Das Neue Testament jüdisch erklärt, Stuttgart, S. 850.
[6] Rabbiner Jacob Emden, Seder Olam Rabba weSuta, 35–37.
[7] Rabbiner Hirsch, Samson Raphael: Beziehungen des Talmud zum Judentum und zu der sozialen Stellung seiner Bekenner; vgl. auch Morgenstern, Matthias (2015): »Rabbi. S. R. Hirsch and his Perception of Germany and German Jewry«, in: Aschheim, Steven E.; Liska, Vivian (Hg.): The German-Jewish Experience Revisited, Berlin; Boston.
[8] Hirsch, Samson Raphael (1836): Neunzehn Briefe über Judenthum, Altona, S. 69–70.
[9] Rabbiner Dr. Hoffmann, David Zvi (1894): Der Schulchan Aruch und die Rabbinen über das Verhältnis zu Andersgläubigen, Berlin, S. 173ff.
[10] Für eine ausführliche Biografie siehe Ahrens, Jehoschua (2020): Gemeinsam gegen Antisemitismus – Die Konferenz von Seelisberg (1947) revisited: Die Entstehung des institutionellen jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz und in Kontinentaleuropa, Münster; Wien; Zürich, S. 43–45.
[11] Vgl. ebd., S. 54–59 und S. 63ff.
[12] Religious Zionist Archives Jerusalem, Nachlass Taubes, 2-29-12, Essay »Judentum, Christentum und Islam«, 1940, S. 3.
[13] Ebd., S. 11.
[14] Abgedruckt in Braybrooke, Marcus (1991): Children of One God: A History of the Council of Christians and Jews, London, S. 18–19.
[15] Abgedruckt in The Living Church, Bd. 107, Nr. 16, S. 33–34 und The Ministry, Bd. 17, Nr. 1, S. 18–21.
[16] ETHZ AfZ, NL Paul Vogt/143, Erklärung der Arbeitsgemeinschaft von Christen und Juden, Walzenhausen, 25. November 1945.
[17] Iggrot Mosche Jore Dea 3,43.
[18] Englischer Orginaltext in: Tradition (6, 1964), S. 28f.
[19] Zum christlich-jüdischen Dialog in Israel ausführlich: Ahrens, Jehoschua (2017): Revolutionäre Entwicklungen, S. 198–208.
[20] Sandmel, David (2017): ›Who Do You Say I Am?‹: Jewish Responses to Nostra Aetate and Post-Holocaust Christianity, in: Cohen, Charles Lloyd; Knitter, Paul F.; Rosenhagen, Ulrich (Hg.): The Future of Interreligious Dialogue: A Multireligious Conversation on Nostra Aetate, New York, S. 212.
[21] CJCUC (2015): »A Jewish Understanding of Christians and Christianity«, online verfügbar unter: http://cjcuc.org/ 2011/05/24/cjcuc-statement-on-a-jewish-understanding-ofchristians- and-christianity/ [Zugriff: 24.06.2022].
[22] Rosen, David (2019): »Reflections on the recent Orthodox Jewish Statements on Jewish-Catholic Relations«, in: Bulletin of the Association of the Friends and Sponsors of the Martin Buber House, Nr. 1, S. 1– 6.
[23] Treffen der bilateralen Kommission der Delegation des Oberrabbinats von Israel und der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum des Heiligen Stuhls: »Gemeinsame Erklärung.« Grottaferrata, Italien, 17.–19. Oktober 2004. Online verfügbar unter: http://www.vatican.va/ roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/relations-jewsdocs/ rc_pc_chrstuni_doc_20041019_jointdeclaration_ ge.html [Zugriff: 24.06.2022].
[24] Wiener, Oded (2011): »Jews and Christians: from Dialogue to Friendship«, München, online verfügbar unter: https://archive.santegidio.org/pageID/2386/langID/de/text /425/JEWS-AND-CHRISTIANS--FROM--DIALOGUE-TOFRIENDSHIP- BY-by-Oded-Wiener.html [Zugriff: 24.06.2022].
[25] Treffen der bilateralen Kommission der Delegation des Oberrabbinats von Israel und der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum des Heiligen Stuhls: »Gemeinsame Erwägungen zur Erklärung ›Zwischen Jerusalem und Rom‹«, Jerusalem, 12.–14. November 2017. Online verfügbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/ chrstuni/relations-jews-docs/rc_pc_chrstuni_doc_20171114_ comunicato-congiunto_ge.html [Zugriff: 24.06.2022].
[26] Steinsaltz, Adin (2005): »Peace without Conciliation: The Irrelevance of ›Toleration‹ in Judaism«, in: Common Knowledge, Bd. 11, Nr. 1, S. 44.

Editorische Anmerkungen

Jehoschua Ahrens ist seit August 2023 Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde Bern. Er ist Initiator und Mitautor der Rabbinererklärung Den Willen unseres Vaters im Himmel tun.

Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), 1/2022.