Judentum ist nur mit Israel zu begreifen

Eine Delegation des Gesprächskreises "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und des Präsidiums des ZdK besuchte Anfang November gemeinsam Jerusalem. Die fünftägige, vom Auswärtigen Amt geförderte Reise bot die Gelegenheit, die gegenwärtige Rolle von Religion und das Verhältnis von Religion und Politik in Israel aus verschiedenen Blickwinkeln zu erfahren sowie die Kontakte zu jüdischen und christlichen Partnern zu festigen.

An der Reise nahmen jüdische und katholische Mitglieder des Gesprächskreises "Juden und Christen" beim ZdK sowie seitens des Präsidiums Präsident Prof. Dr. Thomas Sternberg, Vizepräsidentin Dr. Claudia Lücking-Michel, Vizepräsident Alois Wolf und Generalsekretär Dr. Stefan Vesper teil.

Am Anfang des umfangreichen Reiseprogramms stand die Erkundung der aktuellen Stadtentwicklung von Jerusalem mit dem langjährigen Nahostkorrespondenten Ulrich Sahm. Die deutschsprachigen IsraelkorrespondentInnen Gisela Dachs, Dr. Gil Yaron und Torsten Teichmann erläuterten in einem Gespräch im Anschluss, dass die Bedeutung von Religion(en) im israelischen Alltagsleben und in der Politik in den letzten Jahren noch einmal zugenommen habe.

Bei der Begegnung mit unserer rund 20-köpfigen Delegation in der Deutschen Botschaft in Tel Aviv unterstrich Botschafter Dr. Clemens von Goetze, wie gut die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland sind. Dies schlage sich in intensiven Handelsbeziehungen, kulturellen Begegnungen und einem regen Wissenschaftsaustausch nieder.

Die Vielfalt des Judentums in Israel

Durch zahlreiche Begegnungen mit jüdischen GesprächspartnerInnen, die in der Wissenschaft und in der Praxis des interreligiösen Dialogs engagiert sind, konnten wir unsere Kontakte im Land intensivieren und neue Gesprächsfäden für unsere Arbeit knüpfen. Dabei zeigte sich wieder einmal eindrücklich, wie vielfältig Judentum in Israel gelebt wird. Dass dabei auch gestritten wird, wer welche Autorität hat, unterstrich Rabbi Daniel Freelander, der uns in das Zentrum der Weltunion für das Progressive Judentum in Israel eingeladen hatte. Praktisch deutlich wurde das am Beispiel der israelischen Frauenrechtsorganisation "Women of the Wall", die seit fast 30 Jahren dafür kämpft, dass Frauen an der Westmauer beten, öffentlich aus der Tora lesen und Tallit tragen dürfen.

Die Unterscheidung von "orthodox-reform-liberal", mit der wir in Deutschland gewöhnlich arbeiten, reicht zum Begreifen der jüdischen Wirklichkeit in Israel (und weltweit) längst nicht mehr aus. Zudem ist Religion in Israel nicht zu verstehen, ohne die komplexe Situation im Land wahrzunehmen. Sensibilität für die Vielfalt und für unterschiedliche Kontexte des Jüdischen wird künftig auch für uns noch wichtiger werden. Denn auch in Deutschland wird das Judentum deutlich pluraler.

Gelebte christliche Ökumene in Jerusalem

Wir haben uns gefreut, bei dieser Reise auch zu erfahren, wie gut die ökumenischen Beziehungen zwischen den christlichen Kirchen in Jerusalem inzwischen gelebt werden. Beim Besuch im Lateinischen Patriarchat von Jerusalem berichtete Weihbischof William Shomali, dass man sich über Unterschiede hinweg mit Respekt begegnen kann. Nur so sei es beispielsweise möglich, dass die Grabeskirche – über Jahrhunderte Anlass des Streits zwischen den Konfessionen – heute in Absprache miteinander renoviert werden könne.

Studienprogramme als Chance

Ein weiterer Schwerpunkt der Reise war die Begegnung mit den Theologie-Studierenden der beiden deutschsprachigen Programme in Jerusalem, mit dem "Theologischen Studienjahr Jerusalem" in der Dormitio-Abtei und mit "Studium in Israel" an der Hebräischen Universität. Beiden Studienprogrammen gelingt es in eindrücklicher Weise, junge Leute für die Fragen des christlich-jüdischen Verhältnisses zu begeistern. Die jungen Theologinnen und Theologen, die sich ein Jahr lang mit den komplexen Fragen des interreligiösen Dialogs und mit den historischen, theologischen und politischen Dimensionen des jüdisch-christlichen und des deutsch-israelischen Verhältnisses vertraut machen, sind wichtige BotschafterInnen eines christlichen Glaubens, der sich seiner Wurzel im Judentum und seiner bleibenden Beziehung zu ihm bewusst ist.

Yad Vashem – Denkmal und Name

Die meisten aus der Gruppe kennen die Gedenkstätte und ihre Geschichte gut. Gleichwohl waren der gemeinsame Besuch des Museums der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte und der sich daran anschließende Gedenkakt in der Halle der Erinnerung ein Höhepunkt der Reise. Jana Marcus, Ehefrau des ehemaligen Gesprächskreismitglieds Rabbiner Marcel Marcus, hat uns geführt. Indem sie die Ausstellung mit ihrer eigenen Familiengeschichte verband und auf Exponate hinwies, die aus ihrer Familie stammen, wurde der Gang durch Yad Vashem zu einer gemeinsamen Vergegenwärtigung der staatlich organisierten millionenfachen Ermordung von Juden und Jüdinnen in Europa.

Nach dieser so eindringlichen Erinnerung an deutsche Täterschaft und jüdische Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus spürten alle in der Delegation, wie wenig selbstverständlich es noch immer ist, dass wir anschließend gemeinsam in der Halle der Erinnerung stehen und der Opfer gedenken. Die kurze Zeremonie wird stets aus Respekt vor dem Ort auf Englisch durchgeführt. Präsident Sternberg ließ die Flamme der Erinnerung aufflammen, dem folgte ein kurzer, von Jana Marcus gelesener Text. Rabbiner Edward van Voolen, Dagmar Mensink und Präsident Sternberg legten dann einen Kranz auf die Marmorplatte, die die Asche von Ermordeten aus verschiedenen Lagern bedeckt. Im Anschluss daran sprach Rabbiner Edward van Voolen das jüdische Totengebet.

Das gemeinsame Gedenken, Trauern und Beten an diesem besonderen Ort war ein zutiefst berührender Akt, der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die Reise hinaus verbinden wird.

Jerusalem ist die Heilige Stadt von drei Religionen

In nahezu allen in Israel geführten Gesprächen war die Gretchenfrage: "Wie haltet Ihr’s mit den Resolutionen?" Gemeint waren die kurz vor der Reise veröffentlichten beiden UNESCO-Resolutionen zum Tempelberg. Diese sprechen von ihm ausschließlich als muslimischer heiliger Stätte ("Haram-al-Sharif"). Die Tatsache, dass dort einst der jüdische Tempel stand, in dem auch Jesus gebetet hat, wird dadurch explizit ausgeblendet, ja verneint. Das ZdK-Präsidium und der Gesprächskreis distanzieren sich von dieser Einseitigkeit in aller Deutlichkeit. "Jerusalem ist eine heilige Stadt von drei Religionen. Dies zu verschweigen, ist eine absurde Geschichtsverfälschung. Bis heute ist die Westmauer des Tempelplatzes die heiligste Stätte des Judentums", erklärte Präsident Thomas Sternberg in der öffentlichen Stellungnahme des ZdK zum Abschluss der Reise.

Die gemeinsamen Erfahrungen dieser Tage in Jerusalem haben wieder einmal bewusst gemacht: Judentum ist ohne das Land Israel nicht zu begreifen. Was das heißt, wird uns auch beim 101. Deutschen Katholikentag in Münster 2018 beschäftigen, der unter dem Leitwort "Suche Frieden" stehen wird.


Der Gesprächskreis "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken / Hintergrund

Als Organ des Dialogs von Juden und Christen ist der seit über 45 Jahren beim ZdK bestehende Gesprächskreis das einzige Gremium in Europa, in dem Juden und Katholiken so kontinuierlich gemeinsam arbeiten. Der 1971 gegründete Gesprächskreis befasst sich mit theologischen Fragen, die das christlich jüdische Verhältnis betreffen, sowie mit ethischen und gesellschaftspolitischen Themen aus beiden Perspektiven. Seine Veröffentlichungen finden in Kirche und Öffentlichkeit im In- und Ausland weithin Beachtung. 2015 wurden der Vorsitzende des Gremiums, Prof. Dr. Hanspeter Heinz, und der Gesprächskreis für ihre Verdienste mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet. Professor Heinz, der den Vorsitz des Gesprächskreises seit 1974 inne hatte, übergab im Juli 2016 die Leitung an die Theologin Dagmar Mensink, Mitglied des ZdK (Frankfurt) und Rabbiner Prof. Dr. Andreas Nachama, Direktor der Stiftung Topographie des Terrors (Berlin). Damit wird der Kreis künftig durch eine jüdische und eine katholische Doppelspitze vertreten.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Salzkörner, 22. Jg., Nr. 6/2016.