Der vorliegende Sammelband reiht sich hier ein. Er geht im Wesentlichen auf ein Symposium zurück, das unter der Leitung der beiden Hg. Mariano Delgado und Volker Leppin vom 30.4. bis zum 2.5.2020, bedingt durch die Corona-Pandemie in digitaler Form stattfand. Die Besonderheit des Buches besteht darin, dass es einen interdisziplinären Zugang zum Gebet verfolgt. Zu Recht weisen die Hg. darauf hin, dass die kirchen-, kultur-, sozial-, kunst- und religionshistorischen Annäherungen neue Perspektiven auf das Thema ermöglichen.
Der Sammelbd. ist in drei Hauptkapitel gegliedert, wobei das erste Kapitel Beiträge zum biblischen Beten enthält, das zweite Kapitel das Beten in christlicher Tradition von der Antike bis in die frühe Neuzeit thematisiert und das dritte Kapitel das Beten in der Moderne im Christentum, Buddhismus, Neo- Sufismus und interreligiös untersucht. Während das erste Kap. nur drei Artikel umfasst, enthalten die beiden folgenden Kap. jeweils neun Beiträge. In einer vorgeschalteten Einleitung unter der Überschrift „Der betende Mensch“ führen die Hg. in das Gesamtthema und in den Inhalt der einzelnen Beiträge ein – geben gewissermaßen eine Lesehilfe für den vorliegenden Sammelbd. Ein Bibelstellenregister, ein Personenregister und ein Verzeichnis der Vf.:innen stehen am Ende des Buches.
Es kann aufgrund des begrenzten Umfangs der Rezension nicht um eine erschöpfende Darstellung und Würdigung des Werkes insgesamt gehen. Ich möchte nur einige, mir besonders wichtig erscheinende, Artikel näher thematisieren und die anderen lediglich nennen. Am Schluss finden sich Desiderata, die mir bei der Lektüre aufgefallen sind.
Das erste Kapitel des Buches enthält Überlegungen zum jüdischen Gebet (von Annette M. Böckler), zu Formen und Inhalten frühchristl. Gebets in den Evangelien und im Corpus Paulinum (von Michaela Stoßberg) und zum christlichen Beten mit dem AT am Beispiel der Psalmen von Ludger Schwienhorst-Schönberger. Letzterer interpretiert den Psalter als Spiegel und Reflexion des davidischen Königtums und zeigt auf, dass der Psalter konzipiert ist, um den Beter auf einem Weg von der Klage zum universalen Lobpreis Gottes anzuleiten. Der Versuch, neben der Interpretation der einzelnen Psalmen, diese im Gesamtzusammenhang des Psalters zu verstehen, leuchtet ein, zumal er auch gebetspraktisch eine Bereicherung darstellt. Bemerkenswert scheint mir auch die Erkenntnis, dass das monastische Psalmgebet ursprünglich als Lesung verstanden wurde und zum eigenen kontemplativen Beten hinführen sollte. Es erscheint plausibel, dass mit dem Verlust der kontemplativen Dimension auch das immerwährende Gebet im Alltag verschwand.
Im zweiten Kapitel stellt Michael Meyer-Blanck grundsätzliche und pädagogische Überlegungen zur Frage (danach) an, ob Beten hilft. Gregor Emmenegger arbeitet den theol. Streit um das Verständnis des immerwährenden Gebets bei den Kirchenvätern und im frühen Mönchtum auf. Dietmar Mieth stellt Einsichten Meister Eckharts über das Beten vor. Stefan Matter versteht den Hortulus animae als Archiv mittelalterlicher Gebetbuchliteratur. Nach franziskanischen Anleitungen zum Gebet im 13. Jh. fragt Mirko Breitenstein. Ein faszinierendes Kap. der Geschichte des Gebets schlägt Delgado auf, indem er die heftigen theol. Auseinandersetzungen um das kontemplative Gebet in der spanischen Mystik der Frühen Neuzeit thematisiert. Der von ihm gespannte Bogen reicht von den Alumbrados, den Recogidos, Ignatius von Loyola über Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz bis zu Miguel de Molinos. Dabei wird deutlich, dass das Gebet alles andere als bloß eine Angelegenheit der persönlichen Frömmigkeit im stillen Zimmer war. Christian M. Rutishauser untersucht die verschiedenen Gebetsweisen, die im Exerzitienbuch des Ignatius erkennbar werden. Mit Jonathan Reinert kommt die Rolle des Vaterunsers in der Reformationszeit in den Blick. Charakteristisch für die Gebetsauffassung der Vertreter und einer Vertreterin der Reformation ist ihre Vielstimmigkeit. Reinerts Verdienst besteht darin, dass er in seinem Beitrag mit Anhängern der Täuferbewegung und einer Frau, Katharina Zell aus Straßburg, vom Mainstream protestantischer Theol. übersehenen Vertreter:innen der Reformation eine Stimme verleiht. Den Schluss des zweiten Kapitels bildet eine lokale Tiefenbohrung: Martin Klöckner fragt nach der Bedeutung von Litaneien in der gottesdienstlichen Liturgie und im öffentlichen Raum am Beispiel von Freiburg im Üechtland im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit.
Das dritte Kapitel führt über die jüngere Vergangenheit bis in die Gegenwart und über den innertheol. bzw. -kirchlichen Raum hinaus bis in die säkulare Gesellschaft und zu den anderen Religionen. Margit Eckholt rekonstruiert das Gebetsverständnis Michel de Certeaus und zeigt, dass die Wichtigkeit von Gesten für das Gebet es nahelegt, es von einem Raum-Paradigma her zu verstehen. Irene Diller thematisiert das v. a. mit dem Namen Dorothee Sölles verknüpfte Politische Nachtgebet. Hier hätte es sich angeboten, die politisch weit wirksamer gewordenen Friedensgebete der DDR als Vergleich heranzuziehen. Immerhin haben sie ermöglicht, dass die Friedliche Revolution tatsächlich friedlich ausging. Simon Peng-Keller nähert sich in seinem Artikel der kontemplativen Dimension christlichen Betens an. Michael von Brück thematisiert das Gebet im Zen-Buddhismus, Johann Figl vergleicht Gebet und Meditation im Buddhismus in den westlichen Ländern und im Neo-Sufismus.
Die Bedeutung des interreligiösen Gebets für den zukünftigen menschlichen Umgang mit der Natur ist Thema des Beitrags von Ernst Fürlinger. Leppin unterzieht die Enzyklika Laudato si’ von Papst Franziskus einer wohlwollend-kritischen Relektüre. Dabei zeigt er, dass der Papst auf einen ethischen Appell abzielt, während im Sonnengesang des Heiligen Franz die Doxologie für sich spricht. Jean- Claude Wolf stellt die für manche sicher überraschende Frage, ob auch Agnostiker beten und führt dabei die hilfreiche Unterscheidung zwischen einem atheistischen Agnostiker und einem Agnostiker im eigentlichen Sinne ein. Den Abschluss des Kap.s stellt die Skizze einer Theol. des Gebets von Joachim Negel dar: „Als ob ich gegen eine Wand redete …“ – Von der Vergeblichkeit des Betens und dem Wunder der Erhörung. Beeindruckt hat mich, dass der Vf. dieses Paradox nicht auflöst.
Obwohl das Buch ökumenische Weite erkennen lässt, in einer Art interreligiösem Geist verfasst ist, fällt auf, dass die protestantische Sicht des Gebets hinter der röm.-kath. zurücktritt und die orthodoxe Perspektive höchstens ansatzweise vorkommt. Das ist bedauerlich, weil dadurch der Eindruck erweckt wird, als habe die ev. Spiritualität in ihrer Geschichte keinen eigenständigen inhaltlich-theol. Beitrag zum Gebet im Christentum geleistet. Das Gegenteil ist richtig. So kann Martin Luther mit Fug und Recht als Lehrer des kontemplativen Gebets verstanden werden, was besonders in seinem Büchlein Wie man beten soll. Für Meister Peter den Barbier von 1535 (neu hg. v. Ulrich Köpf / Peter Zimmerling, Göttingen 2011) erkennbar wird. Der Reformator entwickelt in seinem Gebetskurs konkrete Überlegungen, wie das kontemplative Gebet demokratisiert werden kann. Im Rahmen des Pietismus hat Philipp Jakob Spener (1635–1705) die freie Gebetsgemeinschaft, in der gegenseitige Fürbitte geübt wurde, als eigentlichen innovativen Beitrag zur Geschichte des Gebets im Protestantismus etabliert. Auch das ekstatische Beten in Form der Glossolalie im Rahmen der pfingstlich-charismatischen Bewegungen stellt seit dem Beginn des 20. Jh.s eine neue, weltweit praktizierte Form des Betens dar, die – ursprünglich im Raum des Protestantismus beheimatet – im vorliegenden Bd. bedauerlicherweise nicht berücksichtigt wird.
Mariano DELGADO / Volker LEPPIN (Hg.):
Homo orans. Das Gebet im Christentum und in anderen Religionen.
(Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte, 30)
Verlag Schwabe/W. Kohlhammer
Basel/Stuttgart 2022
545 S. - € 74,00
(zimmerling@theologie.uni-leipzig.de)