Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich

Die Frage des Glaubens der Menschen im Dritten Reich wird wissenschaftlich häufig auf die versagende Rolle der Kirchen in dieser Epoche reduziert. Doch wie stand es wirklich um die „religiöse Frage“ im Nationalsozialismus?

Der renommierte Historiker Manfred Gailus, ein ausgewiesener Experte der Analyse der Rolle des Protestantismus im Dritten Reich, ermöglicht durch diese Publikation eine differenziertere Sicht auf die Religiosität unterm Hakenkreuz. Dabei stellt er konventionelle Annahmen in konstruktiver Weise in Frage und vertritt die These, dass im Dritten Reich „gläubige Zeiten“ vorgeherrscht hätten. Es ist jedoch erschütternd zu sehen, wie leicht die Christen bereit waren, ihren eigenen Glauben aufgrund politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zu kompromittieren und zu verdrehen.

Eine Epoche extensiver Sehnsucht nach „Heil“

Die negativen Erfahrungen der Deutschen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, die Verarmung breiter Mittelschichten durch die Inflation und die Reparationslasten sowie der wahrgenommene Verlust an festen Werten und Orientierungen in der instabilen Weimarer Demokratie im Sinne eines Moderneschocks waren Faktoren, die dazu führten, dass die Bevölkerung empfänglich war für eine neue Art von Messiasfigur. Gailus zeigt, dass verschiedene religiöse Gruppen darum konkurrierten, Träger des wahren Heils für die Deutschen zu sein. Doch der herkömmliche Glaube und die politischen Institutionen nach dem Ersten Weltkrieg hatten keine überzeugenden Ideen und Visionen für die gebeutelten Menschen anzubieten. Die nationalsozialistische Partei stieß in das weltanschauliche Vakuum und verstand es, die psychische Krise des Landes für ihre Zwecke auszunutzen. Massiv übersteigerter Nationalismus und der Personenkult um Hitler hielten verschiedene Strömungen innerhalb der Partei zusammen. Gailus schreibt:

„In der Millionenpartei NSdAP standen ‚christliche Nationalsozialisten‘ und antichristliche ‚Gottgläubige‘ als diskrete religiöse Gesinnungsfraktionen nebeneinander“ (S. 81).

Zur Konkurrenz der beiden großen christlichen Konfessionen war das völkische Neuheidentum hinzugetreten. Aber obwohl die christlichen Kirchen diesen Paganismus als den „Antichristen“ wahrgenommen hatten, waren sie zu schwach, um eine ökumenische Allianz zur Verteidigung des Christentums zu schmieden. Historische Vorbehalte, fehlende institutionelle Voraussetzungen, aber auch fehlender Wille verhinderten eine solche Zusammenarbeit. Lediglich in privaten Initiativen wie dem Kreisauer Kreis konnten konfessionelle Grenzen im Widerstand überwunden werden.

Ein persönliches Beispiel für einen Gottgläubigen

Gailus‘ Buch besticht durch biographische Skizzen, die die Einstellungen von Vertretern der angesprochenen „Glaubens“richtungen sichtbar werden lassen. Matthes Ziegler war Sohn eines Werkmeisters aus Nürnberg und wurde in der Jugend durch seine Mitgliedschaft in nationalprotestantischen Jugendgruppen völkisch geprägt. Der Volkskundestudent schloss sich der NSdAP an und wurde vom protestantischen Erlebnis im Jahr der Machtergreifung ergriffen. Der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg nahm sich Zieglers an, dem auch ohne Studienabschluss sofort die Redaktion der Nationalsozialistischen Monatshefte anvertraut wurde. Für Ziegler schwächte die christliche Vorstellung der Sündhaftigkeit des Menschen die vitale Kraft des Lebens und des Volkes. Am Beispiel dieses NS-Karrieristen stellt Gailus in plastischer Weise dar, wie der Nationalprotestantismus den Boden für anti-christliche Lehren bereits bereiten konnte.

Die schwache Stellung der Kirche gegen den Antisemitismus

Die traurige Rolle der christlichen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus besonders in Bezug auf das Schweigen zur Judenverfolgung und -vernichtung ist wohlbekannt und wurde vom Verfasser auch bereits mehrfach plastisch dargestellt.[1] Die Kirchen waren selbstbezogen und, wenn überhaupt, beschwerten sie sich über die schlechte Behandlung der Kirchen als institutionelle Einheiten; das Schicksal der Juden wurde aus theologischen Gründen und oft genug auch menschlicher Ignoranz übersehen, wenn nicht sogar mit klammheimlicher Sympathie begleitet. Wie Gailus zeigt, wussten Kirchenvertreter frühzeitig über die systematische Vernichtung der Juden Bescheid. Die mutigen Individuen, die diesem einzigartigen Verbrechen an der Menschlichkeit vehement widersprachen, sind an einer Hand abzuzählen; Gailus nennt Helmut Gollwitzer, die Pädagogin Elisabeth Schmitz oder den Pfarrer Julius von Jan. Am deutlichsten sprach sich der reformierte Theologe Helmut Hesse von der Kanzel gegen den Holocaust aus. Er starb im Alter von 27 Jahren nach Misshandlungen im Konzentrationslager Dachau.

Die heidnische Religion bleibt ohne Wurzeln

Während der Kriegseuphorie, die durch die militärischen Erfolge entfacht worden war, verdrängte der Nationalismus tiefere weltanschauliche Dispute. Diese brachen jedoch desto stärker wieder hervor, je länger der Krieg dauerte und je mehr Opfer dieser forderte. Gerade die dauerhafte Konfrontation mit der menschlichen Endlichkeit durch die Tatsache, dass nahezu jede Familie kriegsbedingte persönliche Verluste erlitt, machte deutlich, dass der neuheidnische Glaube keine befriedigenden Antworten auf transzendentale Fragen anbieten konnte. Dies wird von Propagandaminister Joseph Goebbels in einer Notiz vom Oktober 1942 attestiert, den Gailus, wie folgt, zitiert:

„Man sucht sich eben in der seelischen Ausweglosigkeit der gegenwärtigen Kriegslage irgend einen Ausweg, und da wir selbst an jenseitigen Werten nicht allzu viel zu bieten haben, flüchtet man eben selbst aus deutschgläubigen Kreisen zum Teil wieder zur Kirche zurück.“ (S. 150f.)

Die Gefahren einer inhumanen Religiosität

Die Lektüre des Werkes löst Beklemmung aus, denn es stellt in anschaulichster Weise den Grad der Verblendung dar, dem breite Bevölkerungsteile, hierarchisch organisiert, anheimfallen können. Der Leser ist zusätzlich persönlich herausgefordert, darüber zu reflektieren, wie weit der eigene Glaube abstrakt bleibt oder wie weit er im Leben auch in schwierigen Situationen persönliche Früchte zeitigt. Es ist wenig bekannt, dass mit der Machtergreifung von 1933 eine Art religiöser Erweckung Hand in Hand ging; Gailus hat dieses Phänomen und dessen Folgen glänzend herausgearbeitet. Das Buch ist für Theologen und neuzeitliche Historiker fast eine Pflichtlektüre. Außerdem ist es wünschenswert, dass es von einer breiten interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen wird, denn es hilft, allzu selbstgerechte Urteile über Menschen im Dritten Reich in Frage zu stellen. Aber es verweist vor allem auf die Gefahren jedweder Form von Ideologisierung und ihrer Folgen für die Urteilsfähigkeit von Menschen.

Manfred Gailus:
Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich

Freiburg, Basel, Wien: Herder Verlag 2021
225 Seiten - 20.- €

[1] Z. B. Manfred Gailus, Friedrich Weißler. Ein Jurist und bekennender Christ im Widerstand gegen Hitler, Göttingen 2017, und ders. Gegen den Mainstream der Hitlerzeit. Der Wuppertaler Theologe Helmut Hesse (1916–1943), Wuppertal 2019.

Editorische Anmerkungen

Dr. Christoph Rohde, ist ehem.Lehrbeauftragter an der Hochschule für Politik in München, selbständiger Dozent im Bereich Volkswirtschaft und Medienpolitik für verschiedene Bildungsträger.
Quelle: theologie.geschichte, 17/2022. DOI: https://doi.org/10.48603/tg-2022-rez-3.