„Ewige Hauptstadt Israels“

Jerusalem in Geschichte, Theologie und Ideologie.

Für Prof. Dr. Gottfried Gerner-Wolfhard

INHALT:

1.    Ein geflügeltes Wort

1.1  Zur rechtlichen Situation Jerusalems

1.2  Zur Entstehung des Begriffs „ewige Hauptstadt“

1.3  „Ewige Hauptstadt Israels“ in christlichen Medien

2.    Jerusalem in Geschichte und Bibel

2.1  Die Ersterwähnung Jerusalems in der Biebel

2.2  Jerusalem in altorientalischen Texten

2.3  Die Anfänge Jerusalems als Teil der israelitischen Geschichte

2.4  Die Bedeutung Jerusalems in neutestamentlicher Zeit

3.    Jerusalem in der nachbiblischen jüdischen Tradition 

3.1  Die Zionslieder im Talmud

3.2  Jerusalem in sonstigen rabbinischen Texten

3.3  Jerusalem im religiösen Leben des Judentums

3.4  Ein berührendes Zeugnis für Jerusalemliebe

4.    Konsequenzen für die heutige Diskussion

1.    Ein geflügeltes Wort

Jerusalem als ewige Hauptstadt Israels ist mehr als ein geflügeltes Wort; es ist geradezu ein Grundbekenntnis des Staates Israel geworden.

Worauf gründet es? Hat es biblischen Ursprung? Ist es ein politischer Anspruch, der völkerrechtlich abgesichert ist? Oder ist es lediglich ein Anspruch, und ist die Christenheit aus Glaubensgründen oder gar die Völkerwelt aus völkerrechtlichen Gründen verpflichtet, diesen Anspruch anzuerkennen und gegen Widersprüche und Widerstände zu verteidigen und zu schützen?

1.1    Zur rechtlichen Situation Jerusalems

Wenden wir uns zunächst der Geschichte dieser Formulierung zu.

Den Staat Israel, um dessen Hauptstadt es geht, gibt es erst seit 1948 auf der Basis der UN-Resolution 181 vom November 1947. Bei dieser Resolution handelt es sich um die politische Aufteilung des britischen Mandatsgebietes „Palästina“. Darin heißt es in Teil I:

    „1. Das Mandat für Palästina endet so bald wie möglich und in jedem Fall spätestens am 1. August 1948. […]

    3. Zwei Monate nach Abschluß des Abzugs der Streitkräfte der Mandatsmacht, in jedem Fall spätestens am 1. Oktober 1948, entstehen in Palästina ein unabhängiger arabischer Staat und ein unabhängiger jüdischer Staat sowie das in Teil III dieses Plans vorgesehene internationale Sonderregime für die Stadt Jerusalem. Die Grenzen des arabischen Staates, des jüdischen Staates und der Stadt Jerusalem sind die in den Teilen II und III beschriebenen Grenzen.“1

Es folgen detaillierte Grenzbeschreibungen und rechtliche Regelungen für die in dem bisherigen Mandatsgebiet lebende Bevölkerung und der Beziehungen beider künftigen Staaten zueinander.

Schließlich heißt es in Teil III:

     „A. SONDERREGIME

    Die Stadt Jerusalem wird als corpus separatum unter einem internationalen Sonderregime errichtet und von den Vereinten Nationen verwaltet. Der Treuhandrat wird damit betraut, die Aufgaben der Verwaltungsbehörde im Namen der Vereinten Nationen wahrzunehmen.


    B. STADTGRENZEN

    Die Stadt Jerusalem umfaßt das derzeitige Stadtgebiet von Jerusalem sowie die umliegenden Dorf- und Stadtgemeinden, von denen die östlichste Abu Dis, die südlichste Bethlehem, die westlichste ‘Ein Karim (einschließlich des bebauten Gebiets von Motsa) und die nördlichste Shu‘fat ist, wie aus der beiliegenden Kartenskizze (Anlage B) ersichtlich.“2

Von Hauptstädten diese künftigen selbstständigen Staaten ist in dieser Resolution nicht die Rede. Zwar wird – was in der gegenwärtigen politischen Diskussion in aller Regel vergessen wird – ausdrücklich von einem „jüdischen Staat“ gesprochen, also von einem religiös bzw. national definierten Staat, nicht von einem neutralen Vielvölkerstaat, sowie von einem arabischen Staat, nicht von einem „palästinensischen Staat“, wie dies nach dem Sechstagekrieg von 1967 und dem Yom-Kippur-Krieg von 1973 in Mode kam, aber keineswegs davon, dass Jerusalem die Hauptstadt des jüdischen Staates sein solle. Im Gegenteil: Jerusalem, Bethlehem und einige sehr präzise benannte benachbarte Orte werden ausdrücklich als Treuhandgebiet der Vereinten Nationen, als „Sonderregime“, bezeichnet. Daher wird Jerusalem auch nicht in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 als Hauptstadt des neuen Staates Israel genannt. Denn diese Unabhängigkeitserklärung bezieht sich auf die UN-Resolution 181 als völkerrechtliche Grundlage.

Allerdings wurde weder diese Resolution noch der neu gegründete Staat Israel von der arabischen Welt jemals anerkannt, weshalb noch in der Nacht nach dessen Ausrufung ein militärischer Überfall erfolgte, der zu einem sog. „Unabhängigkeitskrieg“ mit mehreren Waffenstillständen für einzelne Frontabschnitte führte. Diese Waffenstillstandslinie wurde „Grüne Grenze“ genannt, weil sie von der Generalität mit einem grünen Stift in die Landkarte des ehemaligen Mandatsgebiets eingezeichnet wurde.

Auf diese Weise ergaben sich allerdings andere Grenzverläufe als im ursprünglichen Teilungsplan der Vereinten Nationen. Zwischen dem nördlichen und südlichen Teil Israels entstand entlang des Mittelmeeres eine Landverbindung, häufig nur „Wespentaille“ genannt, weil sie an manchen Stellen nur 15 km breit war, vor allem aber war es israelischen Truppen gelungen, wenigstens den westlichen Teil Jerusalems zu erobern. Der östliche Teil mit Altstadt, Felsendom und Klage- oder Westmauer und dem Ölberg sowie das als arabischer Staat vorgesehene Gebiet wurde von Transjordanien annektiert, das sich seither „Königreich Jordanien“ nannte. Auch dies war ein völkerrechtswidriger Akt, jedoch das Ergebnis des einjährigen Kriegs.

Erst seit diesem Unabhängigkeitskrieg gehören aufgrund eines Waffenstillstands Teile von Jerusalem de facto zum Staat Israel.

1.2    Zur Entstehung des Begriffs „ewige Hauptstadt“

Konkret bedeutet dies, dass Jerusalem, ähnlich wie damals auch Berlin, wenn auch aus ganz anderen Gründen, eine geteilte Stadt war. Die Grenze zwischen dem jordanischen und dem jüdischen Teil Jerusalems verlief in etwa entlang der Ostseite der historischen Stadtmauer, nur durch einen schmalen Streifen Niemandsland voneinander getrennt.

Während dieser Zeit war der rechtliche Status Jerusalems ungeklärt; denn die Bestimmungen der UN-Resolution konnten aufgrund der neuen Situation nicht auf Jerusalem übertragen werden und eine neue, rechtlich abgesicherte, war noch nicht geschaffen. Dies konnte auch nicht durch eine ministerielle Verordnung behoben werden; denn

    „1948 erließ der israelische Verteidigungsminister eine Verordnung, dass im Westen der Stadt wie in jedem Teil Palästinas, den er als von israelischen Truppen gehalten erklärte, israelisches Gesetz gelte.“3

Ein förmliches Jerusalemgesetz wurde erst 1980, einige Jahre nach dem Yom-Kippur-Krieg von 1973, beschlossen.

    „Das Jerusalemgesetz (Chok jesod: Jeruschalajim birat Jisra'el; Grundgesetz: Jerusalem Hauptstadt Israels) ist ein israelisches Gesetz. Es wurde von der Knesset, dem israelischen Parlament, am 30. Juli 1980 verabschiedet und bezeichnet das vollständige und vereinigte Jerusalem als Hauptstadt Israels. Faktisch bedeutete dies die Annexion Ostjerusalems.“4

Dieser Beschluss des israelischen Parlaments wurde allerdings von den Vereinten Nationen nicht anerkannt:

    „Am 20. August 1980 wurde in der Resolution 478 des UN-Sicherheitsrates das Jerusalemgesetz für null und nichtig ("null and void") erklärt. Daraufhin wurden sämtliche in Jerusalem verbliebenen Botschaften nach Tel Aviv verlegt.“5

Wer heute durch Tel Aviv fährt, kann diesen Sachverhalt auf Anhieb erkennen, da in der Straße, die parallel zu Küste verläuft, verschiedenste Nationalflaggen an fast nebeneinanderliegenden Gebäuden gehisst sind. Nicht alle Botschaften haben dort ihren Sitz; die Deutsche Botschaft residiert beispielsweise in der Daniel Frisch Str. 3, im 19. Stock – aber wie alle anderen in Tel Aviv, nicht in Jerusalem.

Wenn die US-Regierung unter Donald Trump die Verlegung der Botschaft nach Jerusalem erwägt, würde sie nicht unmittelbar gegen den Wortlaut dieser Resolution 478 verstoßen, aber gegen deren Sinn.

Allerdings kam der Begriff „ewige Hauptstadt Israels“ schon lange Jahre vorher in Gebrauch.

    „Ende 1949 erklärte Premierminister David Ben Gurion vor der Knesset Jerusalem zum untrennbaren Teil Israels und seiner ewigen Hauptstadt. Diese Position bestätigte das Parlament.“6

Es handelte sich um eine einseitige Erklärung Israels, ohne völkerrechtliche Anerkennung, eher also um eine Option, einen entschiedenen Wunsch, als um eine sichere Rechtsgrundlage. Ein solcher Wunsch ist nicht nur Ben Gurion gestattet, sondern jedem israelischen Bürger. Nur: ein Wunsch ist keine Rechtsgrundlage.

Zur Ideologie wird ein solcher Begriff allerdings, wenn so getan wird, als handle es sich dabei um eine objektive Tatsache, die zwar bestritten werden kann, weil es immer Unbelehrbare geben wird, die sich gegen die Wahrheit auflehnen, die aber dennoch nichts an Berechtigung und Wahrheit einbüßt.

1.3    „Ewige Hauptstadt Israels“ in christlichen Medien

Die Ausgabe April/Mai von Israel aktuell enthält ein „Dossier“7, das auf S. 1 unter der Überschrift, „Jerusalem, Stadt des Herrn und Brennpunkt der Geschichte“ einen einführenden Artikel von Tobias Krämer enthält. Dort heißt es:

„Jerusalem durchlebte eine wechselvolle Geschichte:

– zur ewigen Hauptstadt Israels bestimmt,

– zum Wohnort Gottes (Tempel) erkoren,

– von den Römern dem Erdboden gleichgemacht

–  über Jahrhunderte »von Nationen zertreten« (Lukas 21,24) blühte Jerusalem seit der Staatsgründung Israels 1948 zunehmend auf und ist seit 1967 (mit Ausnahme des Tempelbergs) wieder komplett unter israelischer Hoheit.“

Wieviel an diesen Aussagen ist Wahrheit, wieviel Ideologie? Dass sich hier historische und theologische Urteile mischen, ist mit Händen zu greifen. Dass Jerusalem im Jahr 70 und endgültig 135 von den Römern dem Erdboden gleich gemacht wurde, ist eine historische Tatsache. Dass die Kreuzfahrer in der allmählich wieder entstandenen Stadt wüteten, ebenfalls. Dies wird hier allerdings nicht genannt; oder sollte es in dem Zitat aus Lk 21 verborgen sein? Dies ist wenig wahrscheinlich. Dass Jerusalem nach der Staatsgründung 1948 wieder aufblühte, kann nur für das sog. Westjerusalem behauptet werden. Die Altstadt war davon unberührt. Sie war allerdings schon im 16. Jahrhundert unter Suleyman dem Prächtigen (1495-1566) aufgeblüht, dann allerdings im osmanischen Reich, an dessen Rand es lag, zunehmend zerfallen. Erst viele Jahre nach dem Jom Kippur-Krieg von 1973 wurde sie von dem damaligen Bürgermeister des gesamten Jerusalem, Teddy Kollek, allmählich saniert. In den Jahren danach wurde allerdings das Territorium des bebauten Raumes Zug um Zug erweitert. Da dies hauptsächlich auf Gelände erfolgte, das vor dem Sechstagekrieg  zum jordanischen Territorium gehörte, werden diese Stadtteile nach internationaler Terminologie als israelische Siedlungen gezählt.

Dass Jerusalem zur ewigen Hauptstadt Israels bestimmt sei, wirft sofort die Frage auf, wer dies bestimmt hat, wer etwas Derartiges überhaupt bestimmen kann und darf. Denkbar wäre grundsätzlich, dass dies die Völker der Welt in Gestalt der „Vereinten Nationen“ getan hätten. Sie könnten allenfalls einen solchen völkerrechtlich verbindlichen Beschluss fassen. Aber sie haben es aber weder getan, noch werden sie es wohl tun. Es ist eine einseitige Festlegung des Gründers des heutigen Staates Israel, David Ben Gurion.

Die Bezeichnung als „Wohnort Gottes“ ist jedoch eindeutig ein theologischer Terminus, kein historisches Urteil, die Behauptung, Jerusalem sei seit „1967 (mit Ausnahme des Tempelbergs) wieder komplett unter israelischer Hoheit“, ist nur bedingt richtig; denn man sollte wissen, wie es rechtlich um die Hoheit über den Tempelberg steht. So kann man etwa bei wikipedia lesen:

    „Der Tempelberg wird durch die Waqf-Behörde Jerusalem verwaltet, der nahezu vollständige Autonomie zugebilligt wurde.“8

Dies klingt schon etwas vorsichtiger; denn „nahezu vollständige Autonomie“ ist keine vollständige und die Passiv-Konstruktion „zugebilligt wurde“ lässt automatisch danach fragen, wer der Waqf-Behörde diese Teilautonomie zugebilligt hat. Darüber gibt wikipedia folgende Auskunft:

    „Einige Stunden nach der israelischen Eroberung der Jerusalemer Altstadt im Sechstagekrieg 1967 übertrug der Verteidigungsminister Mosche Dajan die Verwaltung der muslimischen Heiligen Stätten dem Waqf und verbot die Benutzung dieser Stätten für jüdische Gebete. Dieser Beschluss bildet bis heute die Grundlage für den Status quo auf dem al-Haram asch-Scharif.“9

Solche historischen und rechtlichen Details interessieren allerdings den Autor des Artikels in jenem Dossier nicht, für ihn sind dies alles „in Stein gemeißelte“ Tatsachen, die für alle gelten und zu gelten haben.

Er übersieht dabei sogar, dass die Definition des Tempels als Wohnung Gottes schon in der Bibel relativiert wird, und zwar im „Tempelweihgebet“ Salomos (1.Kön 8,27)

    „Aber sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“

Interessant ist daher eine Meinung eines israelischen Rabbiners über die christlichen Israelfreunde. „Rabbi Shlomo Aviner (geb. 1943) ist Chef der Ateret Yerushalayim Yeshiva und gehört zu den bedeutendsten Führern der religiösen zionistischen Bewegung.“10 Er teilt die Christenheit in drei Gruppen ein:

    „Katholiken, sagt er, sehen Israel als »die größte Katastrophe in der Geschichte«, weil Katholiken das wahre Israel sind (Verus Israel).

    Liberale Christen, die sich nicht viel für Katholiken interessieren, sind gegen Israel unter dem Vorwand, die Menschenrechte und Gleichheit zu verteidigen.

    Evangelikale, die die meisten Missionare schicken, unterstützen Israel, sehen aber den jüdischen Staat nur als Sprungbrett zum Kommen Jesu. Darum ermutigen sie Juden, nach Israel zu kommen, in Jerusalem zu leben und sogar den Tempel zu bauen.“ Aviner beharrt darauf, dass Evangelikale glauben, dass „nachdem fast alle Juden getötet sein werden, der Rest von ihnen zum Christentum konvertieren und der Friede kommen wird ... darum überschütten sie uns mit Liebe und Geld.“11

Dies ist ein hartes Urteil über die gesamte Christenheit, vor allem aber über die Israel-Liebe der Evangelikalen. Er sieht darin nur ein Mittel zum Zweck, eine Art Interims- oder Platzhalter-Theologie für die kommende messianische Herrschaft.

Ob Tsvi Sadan, der Autor dieses Artikels tatsächlich Aviners Absicht mit der Behauptung trifft, „Aviners Artikel sollte unendlich viele Christen beleidigen, die keine Belohnung für die Hilfe für Israel suchen“, kann dahingestellt bleiben. Es kann sich auch um die Konsequenz dieses Rabbiners aus manchen Äußerungen und Verhaltensweisen handeln, die er beobachtet. Insofern ist der mahnende Schlusssatz in Tsvi Sadans Artikel auf jeden Fall beherzigenswert: „Aber kann der Verdacht von Aviner als völlig unbegründet zurückgewiesen werden?“ Es geht also nicht nur um die Frage, wie ehrlich diese christliche Israelliebe tatsächlich ist, sondern auch darum, wie sie bei diesen „Geliebten“ ankommt.

2.    Jerusalem in Geschichte und Bibel


2.1    Die Ersterwähnung Jerusalems in der Biebel

Nach jüdischer Überzeugung wird Jerusalem erstmals in Gen 14,18 erwähnt. Dort wird im Zusammenhang mit einer Schlacht, von Völkern zwischen Mittelmeer und Zweistromland erwähnt, dass Abrahams Neffe Lot von einem dieser Heere verschleppt worden sei. Daraufhin wird der nomadisierende Hirte Abraham plötzlich zum erfolgreichen Kriegsherrn:

    „14 Als nun Abram hörte, dass seines Bruders Sohn gefangen war, wappnete er seine Knechte, dreihundertundachtzehn, in seinem Hause geboren, und jagte ihnen nach bis Dan 15 und teilte seine Schar, fiel des Nachts über sie her mit seinen Knechten und schlug sie und jagte sie bis nach Hoba, das nördlich der Stadt Damaskus liegt. 16 Und er brachte alle Habe wieder zurück, dazu auch Lot, seines Bruders Sohn, mit seiner Habe, auch die Frauen und das Volk.“

Nachdem zunächst von der Referenz die Rede ist, die der König von Sodom Abraham entgegenbringt, heißt es weiter:

    „18 Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein heraus. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten 19 und segnete ihn und sprach: Gesegnet seist du, Abram, vom höchsten Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat; 20 und gelobt sei Gott der Höchste, der deine Feinde in deine Hand gegeben hat. Und Abram gab ihm den Zehnten von allem.“

Dass in der christlichen Tradition aus Melchisedek ein christologischer Prototyp wurde, der bereits Abraham das Abendmahl spendete, indem er Brot und Wein aus seiner Stadt brachte, kann für unseren Zusammenhang außer Acht bleiben. Interessanter ist, dass erwähnt wird, Abraham sei denen, die Lot entführt hatten, bis Dan gefolgt, obwohl er ihnen dann anschließend bis in die Gegend von Damaskus nachjagte. Dan ist der nördlichste Teil des späteren Stämmegebietes Israels, und dies dürfte der Grund sein, warum es hier erwähnt wurde.

RASCHI setzt aber Dan mit Hoba gleich und interpretiert es theologisch: Er sieht darin ... einen Hinweis auf Dan: „es kommt sonst kein Ort vor, der Choba heißt, nur Dan nennt er Choba (Schuld) wegen des Götzendienstes der später dort war (Tanch.).“12

Auf die Bezeichnung „König von Salem“ geht RASCHI nicht ein, allerdings der Midrasch Bereschit Rabba:

    „V. 18. Malki-Zedek, der König von Schalem. In Verbindung mit Ps 45,13. Malki-Zedek usw. Der Ort machte seine Bewohner gerecht. Oder Malki-Zedek heißt soviel wie: Herr von Zedek. Mit demselben Namen wird auch Jerusalem benannt s. Jes 1,22. König von Schalem. Nach R. Jizchak dem Babylonier wurde derselbe gleichsam beschnitten geboren.“13

Wünsche merkt dazu an: „Die Vorhaut ist nach rabbinischer Anschauung ein Fehler am Menschen, derselbe wird erst vollkommen, wenn sie entfernt ist.“14 Leider gibt Wünsche dafür keine Belegstelle an. Interessant daran ist allerdings, dass offensichtlich die Bezeichnung Melchisedeks als [melekh schalem] zu sehr unterschiedlichen Deutungen Anlass bot: ist schalem ein attributives Adjektiv zu melekh (König) und bezeichnet ihn damit als intakten König, oder ist es ein substantivisches Attribut und bezeichnet damit eine Stadt bzw. einen Staat – und welches Gebiet konkret?

Die angeführten Bibelstellen führen allerdings nicht weiter; denn in Ps 45,13 ist von Tyrus die Rede,15 so dass ein Bezug zu Gen 14,18 höchstens darin gesehen werden kann, dass in beiden Fällen davon die Rede ist, dass jemand einem anderen Geschenke darbringt. In Jes 1,22 geht es vom Kontext her tatsächlich um Jerusalem; aber der Blick wird auf seine Niederlage gerichtet.16

Im Talmud kommt die Gleichsetzung Salem=Jerusalem nicht vor, allerdings in anderen rabbinischen Texten, so z.B. an einer weiteren Stelle im Midrasch Bereschit Rabba. Dort heißt es in Par LVI zu der Schlussbemerkung in der Erzählung von Isaaks Darbringung – nach jüdischer Bezeichnung „Bindung“ (Gen 22):

    „V. 14. ›Und Abraham nannte den Namen dieses Ortes: Der Ewige sieht.‹ Nach R. Jochanan sprach Abraham vor Gott: Herr der Welt! Als du mir sagtest: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, so hätte ich dagegen erwidern können: Gestern sagtest du mir, mit Jizchak soll dein Same genannt werden, und jetzt sprichst du zu mir: nimm deinen Sohn! aber Gott behüte! ich habe nichts erwidert, sondern mein Mitleid unterdrückt, um deinen Willen zu tun, deshalb bitte ich dich, Ewiger, unser Gott! wenn die Nachkommen Jizchaks in Sünden und böse Handlungen geraten, sei ihnen seiner Akeda (Opferwilligkeit) eingedenk und erbarme dich ihrer! Abraham nannte den Ort jir'é (s. hier und Gen 14,18). Schem nannte ihn Schalem. Da sprach Gott: Wenn ich ihn Schalem nenne, wie Abraham ihn nannte, so wird Schem, der Gerechte, darüber ungehalten sein, nenne ich ihn dagegen Schalem, so wird wieder Abraham, der Gerechte, sich darüber beschweren, ich will ihn Jerusalem nennen, wie ihn beide genannt haben. R. Berachja sagte im Namen des R. Chelbo: Als der Ort noch Schalem hieß, hatte sich Gott daselbst eine Hütte gemacht, worin er Andacht verrichtete s. Ps 76,3. Und was sagt er darin? Möchte ich doch mein Haus gebaut sehen! Oder: Aus den Worten lässt sich der Schluss ziehen, dass Gott das Heiligtum zerstört, aufgebaut, wieder zerstört und wieder aufgebaut zeigte.“17

Diese Stelle geht von einer Reihe von Voraussetzungen aus, die in der Tradition verankert sind und kurz erklärt werden müssen.

    1. Als selbstverständlich wird vorausgesetzt, dass der Berg, zu dem Abraham mit seinem Sohn Isaak zieht, mit dem Jerusalemer Tempelberg identisch ist, obwohl sich dies aus Gen 22 nicht ableiten lässt.

    2. Nach Gen 22,2 soll Abraham in das „Land Morija“ ziehen, obwohl er erst in V. 14 den Berg »Der HERR sieht« benennt.

    3. Nach V. 9 „band“ bzw. „fesselte“ er Isaak. Wünsches in der Klammer gegebene Erläuterung zu Akeda als „Opferwilligkeit“ entspricht nicht der Wortbedeutung, sondern einer Aggada, der zufolge sich die Engel darüber unterhalten, dass sich zwei Fromme dort auf dem Weg befinden, einer, der bereit ist, seinen Sohn zu opfern, und einer der bereit ist, sich opfern zu lassen.

    4. Die Erklärung des Namens „Jerusalem“ geht nicht von der grammatikalisch korrekten Schreibweise der Wörter aus, aus denen angeblich der Name der Stadt zusammengesetzt sein soll, sondern vom Klang. Denn im Namen der Stadt Jerusalem fehlt – wenn er so entstanden wäre – das [aleph], das aber beim Aussprechen nicht hörbar ist.

    Derartige „Volksetymologien“ sind durchaus bis heute üblich, etwa wenn der Name von heutigen Reiseleitern als „Friedensstadt“ gedeutet wird, als „Ir-schalom“, wobei man nicht darauf achtet, dass das Substantiv für Stadt [ir] zu Beginn mit einem [ajin] geschrieben wird, das im Namen Jerusalems nicht vorkommt.

Solche philologischen Überlegungen spielen allerdings bei solchen aggadischen Deutungen keine Rolle gegenüber der populären Tradition. Für unsere Überlegungen ist dagegen wichtig, wie weit sich die Gleichsetzung Salems mit Jerusalem zurück verfolgen lässt. Wenn R. Jochanan ohne weiteren Zusatz genannt wird, dürfte es sich um Jochanan b. Zakkaj handeln, einen Zeitgenossen der Zerstörung Jerusalems durch die Römer und Begründer der Gelehrtenschule von Jabne. R. Chelbo lebte dagegen um 300.

2.2    Jerusalem in altorientalischen Texten

Lange vor dem Entstehen biblischer Texte, sogar vor der Seßhaftwerdung Israels im verheißenen Land, wird Jerusalem allerdings bereits in ägyptischen Ächtungstexten und in den sog. Amarnabriefen erwähnt.

    „Seit den ältesten Bezeugungen auf den ägypt. Ächtungstexten (1900-1800a) oder den Amarnabriefen (1390-1340a) hieß die Stadt, die ja zu Beginn mit dem SO-Hügel deckungsgleich war, Uruschalimum oder Urusalim, was am ehesten »Gründung des (Gottes) Schalim«, eines Sohns des El, übersetzt werden kann.“18 

Im Jerusalemer stadtgeschichtlichen Museum am Jaffa-Tor kann man eine Nachbildung dieser ersten erhaltenen Bezeugung des Namens der Stadt Jerusalem besichtigen. Eine

    „Gruppe von Ächtungstexten stammt aus der früheren 12. Dynastie (ca. 1938–1759 v. Chr.) und ist auf Tongefäße geschrieben; eine etwas jüngere Gruppe ist auf Tonfigürchen geschrieben“. 19

Damit lassen sich alle modernen, vom Wortklang her erdachten Namenserklärungen ins Reich der Phantasie verweisen. Ähnliches gilt auch für die verschiedenen rabbinischen Versuche, den Namen dieser Stadt von hebräischen Begriffen her zu erklären bzw. zu deuten.

Allerdings dürften die Bezeugungen in den ägyptischen Texten darauf hinweisen, dass die Gleichsetzung von Schalem mit Jerusalem zutreffend ist, wobei dann allerdings „Schalem“ nicht von der hebräischen Wortwurzel schlm (die sowohl im Begriff „Friede“ als auch „bezahlen“ enthalten ist) abgeleitet werden darf, sondern auf eine alte orientalische Gottheit verweist, was durchaus glaubhaft klingt.

2.3    Die Anfänge Jerusalems als Teil der israelitischen Geschichte

a.    Jerusalems Eroberung 

Die Bibel lässt keinen Zweifel daran, dass Jerusalem nicht von Anfang an durch israelitische Stämme besiedelt wurde. Zwar erweckt Ri 1 diesen Eindruck:

    „4 Als nun Juda hinaufzog, gab der HERR die Kanaaniter und Perisiter in ihre Hände, und sie schlugen bei Besek zehntausend Mann 5 und fanden den Adoni-Besek zu Besek und kämpften mit ihm und schlugen die Kanaaniter und Perisiter. 6 Aber Adoni-Besek floh und sie jagten ihm nach. Und als sie ihn ergriffen, hieben sie ihm die Daumen ab an seinen Händen und Füßen. 7 Da sprach Adoni-Besek: Siebzig Könige mit abgehauenen Daumen an Händen und Füßen lasen auf unter meinem Tisch. Wie ich getan habe, so hat mir Gott vergolten. Und man brachte ihn nach Jerusalem; dort starb er. 8 Aber Juda kämpfte gegen Jerusalem und eroberte es und schlug es mit der Schärfe des Schwerts und zündete die Stadt an.“

Aber bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass hier nicht von einer Einnahme zwecks Besiedlung die Rede ist, sondern von der Vernichtung der Stadt durch Feuer. Das sog. „negative Besitzverzeichnis“ am Ende dieses Kapitels zieht dann eine sehr viel nüchternere und wohl auch realistischere Bilanz; dort wird Jerusalem als Interessegebiet des Stammes Benjamin bezeichnet:

    „21 Aber Benjamin vertrieb die Jebusiter nicht, die in Jerusalem wohnten, sondern die Jebusiter wohnten bei denen von Benjamin in Jerusalem bis auf diesen Tag.“

Jerusalem liegt an der Grenze des Stämmegebietes Judas im Süden und Benjamins im Norden. Deshalb wird es in Ri 1 auch im Zusammenhang mit beiden Stämmen erwähnt. Während Juda diesem Kapitel zufolge immerhin eine Zerstörung Jerusalems durch Brandlegung attestiert wird, was aber nie eine endgültige Vernichtung bedeutete, weil die Bevölkerung solcher Städte sich immer wieder baldmöglichst an deren Wiederaufbau machte, wie uns Tels mit ihren übereinander liegenden Schichten zeigen, wird bezüglich Benjamins bestätigt, dass es die Jebusiter nicht aus der Stadt vertreiben konnte. Auf welche Zeit sich die Bemerkung „bis auf diesen Tag“ bezieht, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Hertzberg geht jedenfalls davon aus, auch David „hat die Jebusiter nicht vertrieben, sondern sie dort wohnen lassen.“20

Damit ist allerdings der entscheidende Name im Blick auf Jerusalem als Stadt innerhalb Israels gefallen: David. Auch unter Saul, dem ersten König Israels, gehört Jerusalem noch nicht zum israelitischen Herrschaftsgebiet. Nach Sauls Tod wird David in Hebron zum König über den Stamm Juda gesalbt. Erst einige Jahre danach, als Sauls Sohn Isch-Boschet ermordet worden war und Jonathans Sohn Mefi-Boschet wegen seiner Behinderung nicht als Thronfolger in Frage kam, trugen die Oberhäupter der Stämme Israels David auch das Königtum über die anderen Stämme an. Für dieses Gebiet lag allerdings Hebron ungünstig; außerdem hätte eine Hauptstadt auf dem Gebiet eines der Stämme automatisch eine Hervorhebung dieses Stammes bedeutet. So erwies es sich als günstig, dass Jerusalem bisher noch keinem der israelitischen Stämme gehörte und zudem an der Nahtstelle zwischen Juda und den anderen Stämmen lag. Die Stadt galt allerdings wegen ihrer topografischen Situation als schwer einnehmbar.

Das ursprüngliche Jerusalem lag nämlich auf einen schmalen Felssporn, umgeben von (damals noch) tiefen Tälern; nur nach Norden hin ging das Gelände flach ansteigend in die angrenzende Landschaft über. Es war daher relativ leicht zu verteidigen, da es seine gesamte Abwehrkraft auf den Norden konzentrieren konnte.

Auch die Wasserversorgung war einigermaßen gesichert; denn die Hauptquelle am nordöstlichen Rand zum Kidrontal hin war schon zu jebusitischer Zeit in das Innere des Hügels geleitet worden, und konnte – wie man heute aufgrund intensiver archäologischer Grabungen feststellen kann – von der Stadt aus innerhalb der Umfassungsmauern erreicht werden. Die Bewohner hielten ihre Stadt daher mit einem gewissen Recht für uneinnehmbar und verhöhnten deshalb David (2.Sam 5,6):

    „Du wirst nicht hier hereinkommen, sondern Blinde und Lahme werden dich abwehren.“

Auf diesem Wassersystem und der Sorglosigkeit der jebusitischen Bevölkerung scheint Davids Eroberungsplan beruht zu haben:

   „8 Da sprach David an diesem Tage: Wer die Jebusiter schlägt und durch den Schacht hinaufsteigt und die Lahmen und Blinden erschlägt, die David verhasst sind, der soll Hauptmann und Oberster sein. Da stieg Joab, der Sohn der Zeruja, zuerst hinauf und wurde Hauptmann. Daher spricht man: Lass keinen Blinden und Lahmen ins Haus! 9 So wohnte David auf der Burg und nannte sie »Stadt Davids«.“

Nach dieser Schilderung ist die Einnahme Jerusalems einer verwegenen Heldentat des Zeruja-Sohnes Joab zu verdanken.21 Davon steht allerdings im hebräischen Original nichts; es wurde vielmehr nach der Parallele in 1.Chron 11,6 ergänzt.

    „Da stieg Joab, der Sohn der Zeruja, zuerst hinauf und wurde Hauptmann.

Aber auch die Auslobung Davids wird in der Lutherübersetzung nicht ganz korrekt wiedergegeben. Die katholische Einheitsübersetzung 2017 formuliert: „Wer die Jebusiter schlagen will, muss den Zinnor erreichen, …“. Zunz, „Wer schlägt den Jebusi, dass er an die Wasserleitung stößt …“,22 Buber-Rosenzweig: „Allwer einen Jebussiter erschlagen könnte, berühre ihm die Gurgel nur …“,23 Tur-Sinai (Torczyner): „Wer den Jebusäer schlägt, den trifft es mit dem Donnerkeil!“24

Diese Übersetzungsvarianten sind ein sicheres Zeichen für die große Unsicherheit bezüglich der Bedeutung der einzelnen hebräischen Wörter.

Für das Verb [wejiga‘] gibt das Köhlersche Wörterbuch als Grundbedeutung an: „mit Gewalt berühren“.25 Ob mit „muss berühren“ oder „wird berühren“ zu übersetzen ist, kann höchstens aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Jedenfalls klingt die Übersetzung „erreichen“ (EÜ 17, Luther 17) etwas zu harmlos. Die Übersetzung „hinaufsteigen“ (Luther 84) scheint aus der Ergänzung nach 1.Chr 11 erschlossen zu sein.

Daher scheint die Erschließung des Sinnes von der Bedeutung des Wortes [zinnor] abhängig zu sein. Hier lässt uns das Köhlersche Wörterbuch mehr oder weniger im Stich; denn zu 2.Sam 5,8 ist dort zu lesen: „Deutung umstritten“.26 Das Wort kommt an der Parallelstelle in 1. Chron 11,6 überhaupt nicht vor, nur noch in Ps 42,8. 27 Dort übersetzt Tur-Sinai „Flut ruft zu Flut / im Donner deiner Zacken / all deine Wogen, deine Wellen / sie gingen über mich.“28 Aber was soll dies heißen? Vielleicht sah er eine Verwandtschaft mit dem nur im Plural belegten Wort [zinnim] bzw. [zinnoth] = Stacheln, Dornen.

Luther hat dem Vers durch die Übersetzung  „8 Deine Fluten rauschen daher, / und eine Tiefe ruft die andere; alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.“ einen Sinn abzugewinnen versucht. Die EÜ 17 gibt den Vers wieder: „Flut ruft der Flut zu beim Tosen deiner stürzenden Wasser, all deine Wellen und Wogen zogen über mich hin.“ Alle diese Varianten hängen mit der Unsicherheit bezüglich der Bedeutung von [zinnor] zusammen.

Wir müssen daher im Blick auf die Eroberung Jerusalems sagen: irgendwie muss sie mit diesem Zinnor etwas zu tun gehabt haben, ohne dass man genau sagen könnte, worum es sich dabei handelte. Für das Mittelhebräische gibt Köhler die Bedeutung  „1) Rinne, Rohr; 2) Türband […]; 3) weibl. Scham; 4) Wasserstrahl, Speichel“29 an. Wahrlich eine große Bedeutungsvielfalt! Außerdem verweist er auf das syrische Wort sennarta = Haken.30

Bei einem Besuch in der seit einigen Jahren ausgegrabenen alten Davidsstadt und ihrer Vorgängerin kann man allerdings einen solchen Kanal feststellen, der nicht wie der später angelegte Hiskia-Tunnel auf die andere Bergseite führt, jedoch unter die Stadt. Vielleicht ging es David nicht darum, einen seiner Krieger in einem waghalsigen Manöver einen Schacht hochsteigen zu lassen und die Stadttore von innen zu öffnen, sondern einfach darum, an diesen Kanal zu gelangen und damit die Stadt von ihrer Wasserversorgung abzuschneiden, sie also damit gewissermaßen „auszutrocknen“. Weitere Klarheit werden wir wohl nicht erlangen können.

b.    Die Stadt Davids

Übereinstimmend verwenden allerdings 2.Sam 5,7 und 1.Chron 11,7 den Begriff Davids Stadt [ir david]; dies scheint also neben dem offiziellen Städtenamen „Jerusalem“ ein feststehender Begriff für diese Stadt gewesen zu sein, mit dem sie in verschiedenen Schreibweisen schon seit Jahrhunderten bezeichnet wurde.

In der Bezeichnung „Stadt Davids“ [ir david] wird zweierlei zum Ausdruck gebracht: negativ: es ist keine der Städte Israels oder eines seiner Stämme. Dies war angesichts der unterschiedlichen Entwicklungen der einzelnen Stämme ein wichtiger Gesichtspunkt; positiv: es ist die Stadt, die unmittelbar David untersteht, nicht der Jurisdiktion des Stämmebundes.

Dies hatte seine Auswirkungen bis in die spätere Königszeit. So kann etwa Siegfried Herrmann in seiner Geschichte Israels über den assyrischen Eroberungszug Sanheribs feststellen:

    „Sanherib hat zunächst das Land Juda besetzt, »46 der festen und ummauerten Städte und die kleinen Städte«, wie er sagt. Einige Städte haben Widerstand geleistet, unter ihnen Lachis (tell ed-duwer). Belagerung und Eroberung von Lachis hat Sanherib auf Reliefbildern in Ninive darstellen lassen. Es scheint also doch zu umfangreicheren Kämpfen in diesem Gebiet gekommen zu sein. […] Sanherib besetzt dieses Gebiet unter Absehung der Hauptstadt zuerst, offenbar, wie man meinen könnte, um daraus eine assyrische Provinz zu machen. Aber eigenartigerweise verfolgt jetzt Sanherib eine andere Politik. Er trennt die Gebiete von Jerusalem ab und verteilt sie diesmal an die treu gebliebenen Philisterfürsten in der Nachbarschaft […]. Es entsteht jedenfalls keine Provinz Juda. Die Neuartigkeit dieses Vorgehens ist nicht ganz zu durchschauen.“31

Nach einigen Überlegungen, welche Gründe den assyrischen Großkönig zu dieser Politik veranlasst haben könnten, stellt er dann fest:

    „Es blieb Jerusalem: Die Stadt mit ihrem König Hiskia wurde von den assyrischen Truppen eingeschlossen. Drastisch sagt Sanherib in der Prismainschrift: »Ihn selbst (Hiskia) schloss ich wie einen Käfigvogel in Jerusalem, seiner Residenz, ein. Schanzen warf ich gegen ihn auf und machte ihm das Hinausgehen aus dem Stadttor unmöglich.« Diese restlos isolierte Situation Jerusalems spricht nicht weniger deutlich aus dem Spruch Jesajas Jes 1,4-9, dass »die Tochter Zion übrig geblieben« sei »wie eine Hütte im Weinberg, wie ein Nachtquartier im Gurkenfeld«.“32

Aber ist diese Situation tatsächlich nicht zu durchschauen? Oder schlägt sich darin die rechtliche Situation Jerusalems nieder, dass Jerusalem, rechtlich gesehen, nie wirklich Bestandteil Judas war, sondern Stadt des Königs(hauses)?

Diese Unterscheidung zwischen Juda und Jerusalem hat sich sogar noch bis in den Sprachgebrauch der Prophetie Jeremias erhalten; m.a.W. noch in der Spätzeit des Königreichs Juda war dieser Unterschied bewusst, wenn etwa Jer 4,3 und in den unmittelbar folgenden Versen jeweils diese doppelten Adressaten genannt werden (kursiv: H.M.):

    „3 Denn so spricht der HERR zu denen in Juda und zu Jerusalem: Pflüget ein Neues und säet nicht unter die Dornen! 4 Beschneidet euch für den HERRN und tut weg die Vorhaut eures Herzens, ihr Männer von Juda und ihr Leute von Jerusalem, auf dass nicht um eurer Bosheit willen mein Grimm ausfahre wie Feuer und brenne, sodass niemand löschen kann. 5 Verkündet in Juda und schreit laut in Jerusalem und sprecht: »Blast die Posaune im Lande!« Ruft mit voller Stimme und sprecht: »Sammelt euch und lasst uns in die festen Städte ziehen!«.“

Man sollte über diese Formulierungen nicht vorschnell hinweggehen, sondern einen Ausdruck der tatsächlichen Rechtsverhältnisse sehen, die bereits in der alten Bezeichnung Jerusalems als Stadt Davids [ir david] ihren Ursprung hat. Heutige Archäologen identifizieren zwar einen bestimmten Sektor auf dem Territorium der ehemaligen Jebusiterstadt als Davids Palastbezirk. Eine sehr anschauliche Zeichnung bietet Küchler mit der dazugehörigen Bildunterschrift:

    „Zeichnerische Rekonstruktion der ez. Stadt Jerusalem auf den Osthügeln: Die Davidstadt auf dem SO-Hügel ist von zwei Stadtmauern umgeben, mit Befestigungs- und Wasseranlagen auf der O-Seite und dem mbz./davidischen Palastbereich auf der Kuppe s der Trennmauer. N davon erstreckt sich der aufgefüllte ›Ofel‹ und der unter Salomo errichtete Palast- und Tempelbereich auf dem NO-Hügel.“ 33

Auch wenn dies unter archäologischen Gesichtspunkten wohl eine durchaus zutreffende Beschreibung ist, muss nochmals genauer gefragt werden, was in 2.Sam 5,7 und 1.Chron 11,5 mit dem Begriff „Burg Zion“ [metzudat Zijon] gemeint ist. Dies wird wesentlich auch davon abhängen, wie 2.Sam 5,9 zu verstehen ist. Küchler verweist jedenfalls darauf, dass dies „mehrdeutig verstanden werden kann“.34

In einem etwas später folgenden gesonderten Teil-Artikel, „Was war und wo lag der biblische Millo?“ 35 geht Küchler dann sowohl auf die damit verbundenen terminologischen Fragen als auch auf den archäologischen Befund näher ein und hält als Ergebnis fest,

    „in jedem Falle liegt es nahe, den Millo mit dem vor-israelit. Terrassensystem – mit oder ohne getrepptem Steinmantel – zu identifizieren. […] Diese Identifikation ist jedenfalls plausibler als diejenige von B. Mazar und Y. Shiloh (BAT 1984, 456f), die im Millo den zwischen Davidsstadt und oberem Ofel gelegenen Sattel sahen, denn dort sind keine vergleichbar mächtigen Füllstrukturen gefunden worden.“36

Bedeutet dies, dass in der Tat nur der Palastbereich Davids bzw. eine zuvor an dieser Stelle gelegene jebusitische „Festung“ als „Stadt Davids“ zu bezeichnen wäre, nicht aber das gesamte Areal der Jebusiterstadt? Küchler räumt bezüglich der „Belegstellen“ im 2.Samuel- und 1.Königsbuch ein:

    „Allerdings spiegeln 2Sam 5,9b und 1Kön 9,15 und 11,25 nicht unbedingt die historische Realität der Zeit Davids oder Salomos, eher sind sie als jüngere Interpretationen eines alten Baubefundes zu verstehen. »Der Millo und sein Palast« bezieht sich wohl auf die Gesamtanlage von Glacis und Füllung, über der sich spätestens ab dem 9. Jh.a ein königlicher Palast erhob, der noch bis ins 6. Jh.a der Jerusalemer Stadtverwaltung gedient haben könnte.“37

Küchler erwägt sogar, dass der Begriff Millo sogar erst im 7. vorchristlichen Jahrhundert aufgekommen sein könnte, als man bei Erweiterungsarbeiten auf eine seit der frühen Eisenzeit bestehenden »Füllung« stieß. Dies alles sind jedoch Erwägungen, die sich im Anschluss an heutige Grabungsbefunde ergeben, ohne irgendwelche Anhaltspunkte in biblischen oder außerbiblischen Texten.

Hertzberg scheint vorauszusetzen, dass der Millo eine Art Schutzmauer im Norden gegen Angriffe von Seiten der höher gelegenen Umgebung war.

    „Das ›Millo‹ ist ein ›Füllsel‹, offenbar an der etwaigem Zugriff am leichtesten zugänglichen Nordseite des langgestreckten Burghügels gelegen. Ob David selbst dieses Fort errichtet bzw. zu einem strategisch brauchbaren Bestandteil der Befestigungsanlage ausbaute, macht sowohl der Wortlaut des Textes zweifelhaft (›vom Millo aus nach innen zu‹) wie auch die Tatsache, dass der eigentliche Erbauer des Millo wohl erst Salomo ist (1.Kön 9,15-24; 11,27). Jedenfalls war David nunmehr Herr einer gut zu verteidigenden Hauptstadt, die zudem, für ihn ungemein wichtig, genau auf der Grenze zwischen ›Juda‹ und ›Israel‹ lag und nach der Stammeszugehörigkeit exterritorial war, so dass keiner der beiden Partner des Reiches sich benachteiligt fühlen konnte.“38

Als Ergebnis bleibt: eine abschließende Klärung, was mit dem Begriff „Stadt Davids“ genau bezeichnet wird, ist wohl nicht mehr möglich. Dirk Bültmann vertritt allerdings die Auffassung: „Erst Josephus gebraucht den Ausdruck zur Bezeichnung ganz Jerusalems (JosAnt 7,65-67)39 Der entsprechende Text lautet in der Clementzschen Übersetzung:

    „… Allen zuvor aber kam Joab, der Sohn der Sarvia, der die Burg zuerst erstieg und dem Könige zurief, er solle ihm nun auch den verheißenen Oberbefehl geben.  David warf darauf die Jebusäer aus der Burg, setzte Jerusalem, das er jetzt Davidsstadt nannte, wieder in Stand und residierte hier während seiner ganzen Regierungszeit.“40

Dies stellt eine leicht kommentierte Kurzfassung des biblischen Berichts dar, ob aber ursprünglich die ganze Stadt Jerusalem oder nur die Zitadelle der alten Jebusiterstadt [metzudat Zijon] damit gemeint war, geht daraus nicht hervor, sondern lediglich die Meinung des Josephus, der den Begriff offensichtlich auf die gesamte Stadt bezieht.

2.4    Die Bedeutung Jerusalems in neutestamentlicher Zeit

a.    Stadt Davids

Der Begriff „Stadt Davids“ hält sich bis ins Weihnachtsevangelium durch, wenn es in Lk 2,11 heißt, „denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Darauf geht allerdings Walter Grundmann in seinem Kommentar mit keiner Silbe ein. Ihn interessieren nur die verschiedenen christologischen Hoheitstitel.41 Aber ist im Sinne des LkEv der Begriff „Herr in der Stadt Davids“ nicht ebenfalls als Hoheitsaussage gedacht? Dient diese nähere Bezeichnung nicht als inhaltliche Kennzeichnung des Christus, von dessen Geburt hier die Rede ist? Umso auffälliger ist es, dass auch Billerbeck sich dazu ausschweigt.42 Letzteres mag u.a. auch daran liegen, dass der Talmud weder auf 2. Sam 5,7 noch auf 2. Chron 11,7 eingeht.43

Walter Schmithals umgeht ebenfalls eine Erläuterung, er zieht sogar in seiner Übersetzung die Erwähnung der „Stadt Davids“ nach vorn, indem er V. 11 übersetzt: „Heute wurde euch in der Stadt Davids ein Retter geboren, nämlich Christus, der Herr.“44 Hier handelt es sich um eine eigenwillige Übersetzung, die zwar berücksichtigt, dass auch im griechischen Text, bei [sotér] „Retter“ kein Artikel steht, der allerdings auch nicht notwendig ist, weil die genauere Determination durch die anschließende Bezeichnung als „Christus“ und „Herr“ erfolgt. Lediglich Hans Klein geht wenigstens in einer kurzen Bemerkung darauf ein:

    „Die Geburt in der Davidstadt kennzeichnet Jesus als Messias und Herrn (wie Apg 2,36), als den, der jetzt auf die Erde kommt, grundsätzlich aber von den Christen als Herr angebetet wird. Die Armseligkeit der Krippe bildet den Kontrapunkt zu den Titeln.“45

Allerdings kann der Verweis auf Apg 2,36 nur das gemeinsame Vorkommen der Titel „Herr“ und „Christus“ belegen, sagt jedoch nichts über den Begriff „Davidstadt“ aus. Im gesamten Textzusammenhang der Weihnachtsgeschichte ist auch eindeutig nicht Jerusalem mit dieser „Davidstadt“ gemeint, sondern Bethlehem, offensichtlich als Bezugnahme auf Mi 5,1: „Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.“ 46 Im hebräischen Text lautet der im Deutschen mit „Herr“ wiedergegebene Begriff [moschel], d.h. der Herrschende.

Zumindest für Lukas ist offensichtlich der Begriff „Stadt Davids“ nicht mehr mit Jerusalem verbunden, wie er überhaupt innerhalb des Neuen Testaments nur an dieser einen Stelle vorkommt. In den weiteren frühchristlichen Schriften taucht der Begriff ebenfalls nicht auf. Meliton von Sardes beschuldigt zwar Jerusalem des Mordes an Jesus, aber er verwendet für Jerusalem in seiner rhetorisch effektvoll angelegten Passa-Homilie andere Bezeichnungen:

    „(94) Höret es, alle Geschlechter der Völker und sehet:

    Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalems

    in der Stadt des Gesetzes,

    in der Stadt der Hebräer,

    in der Stadt der Propheten,

    in der Stadt, die für gerecht galt!“47

Hier wird eine Reihe von  Begriffen verwendet, die allesamt eine Beziehung zu Israel haben; die Bezeichnung „Stadt Davids“ kommt dabei jedoch nicht vor.

b.    Jerusalem im Leben Jesu

Jesus selbst hat jedenfalls nach den synoptischen Evangelien nie in Jerusalem übernachtet. Wenn Jerusalem in Reiseführern und christlichen Publikationen oft als „Stadt Jesu“ bezeichnet wird, entspricht dies demnach nicht der Darstellung der Evangelien. Markus erzählt unmittelbar nach Jesu Einzug in Jerusalem, ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, nur (Mk 11,11):

    Und Jesus ging hinein nach Jerusalem in den Tempel und er besah ringsum alles,

und spät am Abend ging er hinaus nach Betanien mit den Zwölfen.   

Betanien, auf der Rückseite des Ölbergs gelegen, war also Jesu Unterkunft während seiner Jerusalemer Tage. Daher geht es folgerichtig weiter:

    12 Und am nächsten Tag, als sie von Betanien weggingen, hungerte ihn.

Nach einer kurzen Episode mit einem Feigenbaum wird die Austreibung der Händler aus dem Tempelvorhof erzählt; an sie schließt sich wieder an:

    19 Und abends gingen sie hinaus vor die Stadt.   

V. 27 berichtet erneut von einem Besuch Jesu in der Stadt, an den sich zwei Kapitel mit Gleichnissen, Diskussionen und Reden anschließen. In Kap 14,3 ist Jesus allerdings wieder in Betanien.

    3 Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf sein Haupt.

Nach dem Ablauf des MkEv bleibt Jesus bis zum „ersten Tag der ungesäuerten Brote“ in Betanien und gibt erst dann den Jüngern den Auftrag, „in der Stadt“ das Passamahl vorzubereiten.

    13 Und er sandte zwei seiner Jünger und sprach zu ihnen: Geht hin in die Stadt, und es wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Krug mit Wasser; folgt ihm 14 und wo er hineingeht, da sprecht zu dem Hausherrn: Der Meister lässt dir sagen: Wo ist der Raum, in dem ich das Passalamm essen kann mit meinen Jüngern? 15 Und er wird euch einen großen Saal zeigen, der mit Polstern versehen und vorbereitet ist; dort richtet für uns zu.    

    16 Und die Jünger gingen hin und kamen in die Stadt und fanden‘s, wie er ihnen gesagt hatte, und bereiteten das Passalamm.

Da es uns hier nur um die Frage geht, ob und wie oft Jesus in Jerusalem übernachtete, können wir die Spekulationen, die an diese Passage schon angeschlossen wurden, vernachlässigen. So hat man z.B. schon überlegt, ob Jesus bereits vorher eine entsprechende Abmachung mit dem Besitzer dieses „Saales“ getroffen hatte. Da aber eine ähnliche Situation auch mit dem Esel geschildert wurde, auf dem Jesus in Jerusalem einzog (11,2), kann dies als erzählerisches Stilmittel des Evangelisten angesehen werden, der auf diese Weise nicht nur das Vorherwissen Jesu schildern will, sondern auch dass Jesus in all diesen Einzelheiten „Herr der Lage“ war, nicht willenloses Objekt seiner Gegner.

Noch abenteuerlicher liest sich die Annahme des früheren Benediktiner-Paters Bargil Pixner, bei jenem Gastgeber müsse es sich um einen Essener gehandelt haben, da im Allgemeinen das Tragen von Wasserkrügen Frauenarbeit war. Für diese Theorie ist eine ganze Hypothesenkette erforderlich: die Essener seien eine Art Mönchssekte gewesen, zu der keine Frauen gehörten, weshalb diese traditionellen Frauenarbeiten von Männern erledigt werden mussten. Auf diese Weise wollte Pixner den Nachweis erbringen, dass die frühe Jesusbewegung aus den Essenern hervorgegangen sei. Aber gegen diese These sprechen sowohl literarische als auch archäologische Belege. So setzen einige Texte, darunter die sog. Gemeinschaftsregel 1QSa ganz selbstverständlich voraus, dass auch Frauen zu der Gemeinschaft gehörten; außerdem fand man auf dem Plateau von Qumran am NW-Rand des Toten Meeres auch Frauen- und Kindergräber. Der falsche Eindruck, es habe sich bei den Essenern um eine Art Mönchsorden gehandelt, entstand schon in der Antike dadurch, dass in der Tat der überwiegende Teil solitär lebte, weil es zu den Grundsätzen der Gemeinschaft gehörte, dass ein Mann während seines ganzen Lebens nur eine einzige Frau haben durfte, also im Falle ihres Todes für den Rest seines Lebens Witwer bleiben musste, was bei der hohen Sterblichkeitsrate bei Geburten sehr häufig vorkam. 48 Hinzu kommt, dass die ersten Erforscher der 1947 entdeckten Texte Mönche der E´cole Biblique in Jerusalem waren und demgemäß von ihrer Lebensform auf die der Qumran-Essener schlossen. Während meiner Studienzeit sprach man noch ungeniert von den „Mönchen“ von Qumran oder vom „Kloster Qumran“, obwohl es auch damals schon ernst zu nehmende Einwände gegen diese Bezeichnungen gab.

Für unsere Fragestellung nach dem Verhältnis Jesu zu Jerusalem bedeutet dies, dass jedenfalls das MkEv den Eindruck erweckt, Jesus habe Jerusalem geflissentlich gemieden und sei immer nur zu bestimmten Vorhaben an einzelnen Tagen in die Stadt gekommen, ohne jedoch dort zu übernachten.

Dies ist natürlich kein belastbarer historischer Beweis. Es kann sich dabei ebenso um ein theologisches Konstrukt des Evangelisten handeln; aber Gegenbeweise gibt es ebenfalls nicht. So werden wir mit dieser Sicht des ältesten Evangelisten leben müssen und jedenfalls vorsichtig und zurückhaltend mit der Bezeichnung Jerusalems als „Stadt Jesu“ umgehen müssen.

Nicht ganz eindeutig ist die Bezeichnung Jerusalems als „Stadt des Herrn“ in dem oben zitierten Dossier49: worauf bezieht sich die Bezeichnung „Herr“? Ist damit Gott gemeint oder Jesus oder beide?

Jedenfalls behauptet Harald Eckert in seinem Artikel „Jerusalem in biblischer Geschichte und Prophetie“

    „Die Verbindung von Jesus mit der Stadt Jerusalem war sehr eng – insbesondere unter heilsgeschichtlichen Gesichtspunkten.“50

Was soll dies eigentlich heißen? Eine Verbindung kann doch nur unter realen geschichtlichen Gesichtspunkten eng sein, sei es durch den Wohnsitz oder häufige Besuche oder durch entsprechende Äußerungen über die Stadt.

Nach dem ältesten Evangelium hat Jesus, wie wir gesehen haben, nie in Jerusalem übernachtet, sondern ist während dieser letzten Tage immer wieder nach Betanien gezogen, immerhin etwa 2 Stunden Fußweg. Warum? Fürchtete er Auseinandersetzungen mit den in Jerusalem herrschenden Kreisen, sei es die römische Besatzungsmacht oder die jüdische Tempelhierarchie? Der erste Spruch Jesu nach dem das MkEv, in dem Jerusalem vorkommt, könnte in diese Richtung weisen. Es gehört zur sog. dritten Leidensankündigung Jesu (Mk 10):

    „33 Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird überantwortet werden den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, und sie werden ihn zum Tode verurteilen und den Heiden überantworten. 34 Die werden ihn verspotten und anspeien und geißeln und töten, und nach drei Tagen wird er auferstehen.“

Wir haben es hier eindeutig mit einer frühchristlichen Formel zu tun, in der wesentliche Elemente des Bekenntnisses enthalten sind. Aber selbst wenn es sich dabei um ein historisches Jesuswort handelte, wäre es eine höchst negative Beziehung zu dieser Stadt. Erst in den späteren Evangelien wird davon ausgegangen, dass Jesus mehrmals zu den großen jüdischen Festen in Jerusalem war. – Dies dürfte auch dem historischen Sachverhalt entsprechen; aber es spielt für das Selbstverständnis Jesu und seine Botschaft keine Rolle.

c.    Jerusalem in der frühesten Christenheit

Dass Jesus in Jerusalem gekreuzigt wurde, dürfte unbezweifelbar feststehen. Daher spielen sich auch die Geschichten vom leeren Grab in Jerusalem ab. Aber sie gehören nicht zur ältesten Tradition der Auferstehungsbotschaft. Die nachweisbar älteste diesbezügliche Bekenntnisformel (1.Kor 15,3-5) geht gar nicht auf Ereignisse um ein leeres Grab ein:

    3 Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift;

4 und dass er begraben worden ist;

und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift;

5 und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.  

Diese in Sinnzeilen gegliederte Wiedergabe macht deutlich sichtbar, worum es sich dabei handelt und worauf es ankommt.

Zunächst weist Paulus darauf hin, dass es sich nicht seine persönliche Deutung des Todes Jesu handelt, sondern um eine Botschaft, die er bereits übernommen hat und so weitergibt. Dies ist also ein gemeinsames Band, das die gesamte Gemeinschaft der Glaubenden in ihrer unterschiedlichsten Herkunft und Prägung verbindet, ob sie ursprünglich Juden oder Hellenen sind.

Als zweites fällt auf, dass zwei der vier Zeilen dieser Bekenntnisformel mit dem Zusatz versehen sind „nach der Schrift“. Es lohnt sich, der Frage nachzugehen, was das Besondere an den Aussagen dieser beiden Zeilen ist. Dabei wird man feststellen, dass es sich um Aussagen handelt, zu denen man nicht durch den bloßen Augenschein gelangen kann. Dass Jesus gestorben ist und begraben wurde, lässt sich durch Augenschein feststellen. Dass er aber für unsere Sünden gestorben ist, stellt eine Deutung dar, die man der Schrift entnahm, wahrscheinlich Jes 53. Dass einige aus seiner Anhängerschaft (Männer und/oder Frauen) Visionen hatten, ist ebenfalls ein Sachverhalt; was dieser jedoch bedeutet, verlangt nach Interpretation: sind es Einbildungen aufgeschreckter Seelen, Wunschträume oder sonst etwas Derartiges? Aus der Schrift gewann man die Überzeugung, dies sei ein Beleg für seine Auferweckung; wahrscheinlich entnahm man diese Überzeugung ebenfalls Jes 53, vielleicht aber auch anderen entsprechend gedeuteten Schriftstellen.

Wovon in diesem Zusammenhang allerdings nicht die Rede ist, sind Geschichten um das leere Grab Jesu. Und mit von dieser Beobachtung geschärften Sinnen erkennt man auch, dass die älteren Grabesgeschichten in den Evangelien nach Galiläa verweisen – weg von Jerusalem. Denn was die Frauen nach dem MkEv am Grab Jesu sehen, ist ein Deuteengel, der ihnen den Tatbestand erklärt und sie nach Galiläa verweist:

    … Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. 7 Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.

Nach Mk und Mt entfernen sich die Frauen eilends von diesem Grab; aber damit enden bereits die Gemeinsamkeiten. Während sie bei Mk mit Furcht und Zittern fliehen und niemand etwas von ihrer Erscheinung erzählen, entfernen sie sich zwar auch nach Mt mit Furcht, aber zugleich mit großer Freude. Ja, Mt weiß sogar etwas davon, dass ihnen Jesus selbst entgegen gekommen sei, sie aber, nachdem sie sich vor ihm niedergeworfen und seine Füße ergriffen hatten, nach Galiläa verwiesen habe; dort werde er seinen Jüngern erscheinen.

Wir sehen also bereits am Vergleich zwischen Mk und Mt nicht nur erste Stufen eines Wachstums der Grabesüberlieferungen mit der Tendenz auch in Jerusalem bzw. unmittelbar vor dessen Toren Auferstehungserscheinungen zu lokalisieren. Bei Lk schließlich finden alle Erscheinungen des Auferstandenen in Jerusalem statt. Diese Tendenz setzt sich im JohEv fort. Erst in Kap 21 werden dann Ereignisse in Galiläa, am See Genezaret nachgetragen.

Damit dürfte erwiesen sein, dass die Erscheinungen ursprünglich in Galiläa verortet waren, aber zunehmend mit Jerusalem in Verbindung gebracht wurden. Dies muss einen bestimmten Grund haben.

Sehr früh muss sich in Jerusalem eine Gemeinschaft der Jesusanhänger gebildet haben. Vielleicht sind einige der Jünger nach den ersten Erscheinungen in Galiläa nach Jerusalem zurückgekehrt und haben dort das Ende der gegenwärtigen Weltzeit erwartet. Da die biblischen Nachrichten hierüber nicht einheitlich sind, verzichten wir auf weitergehende Spekulationen. Aus den Paulusbriefen, den ältesten erhaltenen urchristlichen Schriften, genauer: aus dem Galaterbrief, wissen wir, dass es wenige Jahre51 nach Jesu Kreuzigung eine Jerusalemer „Gemeinde“ unter Leitung des Jakobus, des Bruders Jesu gab, der anscheinend Simon Petrus, den ursprünglichen Anführer abgelöst hatte. Denn es fällt auf, dass Paulus seinen ersten Jerusalemer Besuch in Gal 1,18 begründet: „Danach, drei Jahre später, kam ich hinauf nach Jerusalem, um Kephas kennen zu lernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm.“ – Es handelte sich also um einen Besuch bei Petrus. In 2,9 nennt er eine andere Reihen- und damit Rangfolge: „da sie die Gnade erkannten, die mir gegeben war, gaben Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen werden, mir und Barnabas die rechte Hand und wurden mit uns eins, dass wir unter den Heiden, sie aber unter den Juden predigen sollten“. Bei diesem Treffen ging es also um eine Anerkennung seiner Völkermission durch die Jerusalemer Apostel und eine Aufteilung der Aufgabenbereiche bzw. Arbeitsfelder. Dennoch war nicht alles „Friede, Freude, Eierkuchen“. Offensichtlich wenige Zeit danach wurde deutlich, dass damit längst nicht alle Fragen geklärt waren. Paulus wirkte in der Gemeinde von Antiochien; Kephas, wie er Petrus mit dessen aramäischen Ehrennamen fast immer nennt, nimmt an den gemeinsamen Mahlzeiten der Gemeinde teil, bis Abgesandte des Jakobus aus Jerusalem kamen und Kephas und einige andere „Judenchristen“ die Mahlgemeinschaft mit den Christen aus der Völkerwelt aufkündigten. Für Paulus war dies Heuchelei, die er folgendermaßen kommentiert: „14 Als ich aber sah, dass sie nicht richtig handelten nach der Wahrheit des Evangeliums, sprach ich zu Kephas öffentlich vor allen: Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, warum zwingst du dann die Heiden, jüdisch zu leben?“

Für unsere Fragestellung ist dieser Vorfall insofern von Belang, als er zeigt, dass die Jerusalemer Gemeinde offensichtlich um die Mitte des 1. Jh. unserer Zeitrechnung schon so etwas Ähnliches wie eine Vormachtstellung und Oberhoheit beanspruchte. Dies passt zu dem Bild, das wir von der allmählichen Verlagerung der Erzählungen von Ostererscheinungen nach Jerusalem gewonnen haben. Der Grund könnte in der zunehmenden Bedeutung der Jerusalemer Gemeinde für die Christen jüdischer Herkunft liegen.

Eusebius von Cäsarea beschreibt in seiner Kirchengeschichte die Verhältnisse in der Jerusalemer Gemeinde bereits im Stil einer „Urgemeinde“, d.h. einer Keimzelle des gesamten Christentums, und zwar deutlich aus der Sicht späterer kirchlicher Verhältnisse.

    „Jakobus, dem die Alten wegen seiner sittlichen Vorzüge den Beinamen »der Gerechte« gaben, erhielt damals, wie die Geschichte überliefert, als erster den Bischofsstuhl der Kirche von Jerusalem.

    Klemens schreibt im sechsten Buch der Hypotyposen: »Petrus, Jakobus und Johannes sollen nach der Himmelfahrt des Heilands, weil sie schon vom Heiland mit besonderen Ehren ausgezeichnet worden waren, nicht um Geltung gestritten, sondern Jakobus den Gerechten zum Bischof von Jerusalem gewählt haben«.“52

Eine völlig unhistorische Retrospektive stellt selbstverständlich die Bezeichnung „Bischofsstuhl“ dar; so konnte man im 4. Jh. reden, aber nicht in der Zeit unmittelbar nach Jesu Tod. Auch die Bemerkung, Petrus, Jakobus (gemeint ist wohl der Zebedäussohn) und Johannes hätten „nicht um Geltung gestritten“, klingt sehr harmonisierend und scheint tatsächlich stattgefundene Machtkämpfe überdecken zu wollen, zumal von Eusebius Jakobus der Gerechte, nicht Petrus als erster Leiter der Gemeinde genannt wird. Hinter solchen Betonungen sind in aller Regel Korrekturen der tatsächlichen Abläufe zu vermuten. Wichtig für unsere Fragestellung ist allerdings die Feststellung, dass Jerusalem ganz selbstverständlich als Gründungsort der Gemeinde vorausgesetzt wird.

Selbst den Gedanken einer Art „Amtsgnade“ führt Eusebius auf Klemens zurück:

    „Im siebten Buch des gleichen Werkes erklärt er auch noch über ihn: »Der Herr gab nach seiner Himmelfahrt Jakobus dem Gerechten, Johannes und Petrus die Gnosis, welche diese den übrigen Aposteln, die übrigen Apostel den Siebzig, unter denen auch Barnabas war, weitergaben. Es gab aber zwei Männer mit Namen Jakobus. Der eine war Jakobus der Gerechte; dieser wurde von der Zinne des Tempels hinabgestürzt und von einem Walker mit einem Stück Holz totgeschlagen. Der andere wurde enthauptet«.“53

Dieses Zitat gibt im Zeitraffer einen Einblick in Jerusalemer Lokaltraditionen, lässt aber nichts von der allmählichen Entwicklung erkennen. Klemens und Eusebius sind an den urchristlichen Heroen interessiert, nicht am tatsächlichen sich über Jahrzehnte erstreckenden Klärungs- und Entwicklungsprozess.

3.    Jerusalem in der nachbiblischen jüdischen Tradition 

Der Untersuchung einzelner signifikanter Belege müssen wir eine methodische Überlegung vorausschicken. Es ist schwer, die gesamte rabbinische Literatur zu überblicken; daher werden hier zwei Zugangswege exemplarisch ausgewählt. Zunächst einmal ist es naheliegend, die talmudische Rezeption der sog. Zionslieder im Psalter zu überprüfen; denn diese stehen dem Gedanken Jerusalems als einem beständigen Zentrum Israels – um einen staatspolitischen Begriff wie „Hauptstadt“ zu vermeiden –  am nächsten. Dazu kann mein Bibelstellenregister  zum Talmud54 gute Dienste leisten. Als zweiter Zugang sollen die bei Str.-Billerbeck55 unter den Stichworten „Zion“ und „Jerusalem“ genannten Belege darauf überprüft werden, inwiefern in ihnen der Gedanke an Jerusalem als ewiges Zentrum Israels enthalten ist oder daraus abgeleitet werden kann.

Eine weitere Vorbemerkung betrifft die Terminologie. „Hauptstadt“ heißt im modernen Ivrit [birah]. 56 Dieser Begriff ist biblisch nur in späten Schriften belegt, und zwar in Est 1,2 bis 9,12 insgesamt 10mal als Bezeichnung für Susa, die damalige Hauptstadt des Perserreiches. Die Lutherbibel übersetzt den Begriff mit „Festung“, was wohl der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes entspricht.57 In Dan 8,2 und Neh 1,1 ist der Begriff in gleicher Bedeutung für diese Stadt belegt, in Neh 2,8 und 7,2 allerdings für die „Burg“ in Jerusalem, m.a.W. für die Akropolis der Stadt, in 2.Chr 17,12 und 27,4 für „Burgen“ im ganzen Land, in 1.Chr 29,1 sogar für die „Wohnung Gottes“ („denn es ist nicht die Wohnung eines Menschen, sondern Gottes, des HERRN“). Die Bedeutung „Hauptstadt“ ist also modernen Ursprungs und entspricht der Vorstellung, dass ein Land von einer Zentrale aus regiert wird, in der alle politischen Fäden zusammenlaufen.

Ebenso entspricht der Begriff „ewig“ nicht hebräischem Denken. Das hebräische Äquivalent lautet [leolam] und wird am besten „für immer“ übersetzt, wobei zu bedenken ist, dass auch der Begriff [olam] einen begrenzten Zeitraum bezeichnet, eine Epoche; so gibt es einen [olam hassäh] und einen [olam habbah], diese Weltzeit und die kommende Weltzeit; eine „ewige Hauptstadt wäre demnach eine „Hauptstadt für die Dauer dieser Weltepoche“.

3.1    Die Zionslieder im Talmud

Was versteht man darunter? „Wird der Zion in den poetischen Dichtungen des AT auch vielfältig gerühmt und besungen, so gelten nur die Psalmen 46, 48 und 76 als Z. im engeren Sinne. Doch auch hier wird man noch genauer differenzieren müssen“, schreibt Peter A.H. Neumann im Calwer Bibellexikon.58 Er kommt dabei zu dem Ergebnis:

    „Hebt man die Überarbeitungen und Fortschreibungen dieser Psalmen ab, so zeigt sich, dass allein Ps 48 in seinem Grundbestand (in den Versen 2-7.9*.13-15*) als Zionspsalm aus vorexilischer Zeit bezeichnet werden kann. Hier werden kanaanäische Vorstellungen aufgenommen und auf den Großkönig JHWH übertragen. Er ist der Gott des Heiligen Berges (Zion), der durch seine Anwesenheit der Stadt Wohlfahrt und Schutz gegen Katastrophen und gegen die Feinde (Chaos- und Völkerkampfmotiv) garantiert. Ps 46 und 76 – letzterer dürfte wegen der vorausgesetzten Krise Jerusalems am ehesten in exilischer Zeit entstanden sein – sind später anzusetzen. Die drei genannten Psalmen (Ps 46; 48; 76) weisen keinerlei gemeinsame Gattungsmerkmale auf, sondern lassen sich lediglich inhaltlich dahingehend zusammenstellen, dass die die Präsenz JHWHs in der Gottesstadt und/oder auf dem Zion thematisieren.“59

Wenn Neumann außerdem darauf hinweist, dass Ps 46 und 48 vielleicht in Verbindung mit dem Heiligtum in Dan standen und u.a. dafür anführt, dass_das Motiv vom »(heiligen) Strom und seinen Bächen«“ wahrscheinlich den Jordan meine, und dass „die Lokalisierung des Zionbergs »im äußersten Norden«“ (Ps 48,3)  „in dieselbe Richtung“ weise, so sollte nicht übersehen werden, dass es im Norden des heutigen Staates Libanon tatsächlich einen Berg namens Zaphon (= Norden) gibt, der schon aufgrund seiner ins Meer ragenden Position in der Antike als Götterberg angesehen wurde. Von hier aus lässt sich auch erklären, wie das Motiv der im Sturm zerbrechenden Schiffe (V. 8) in einen Zionspsalm gelangt. Hier wie in ähnlichen Fällen kann man jedoch aus solchen Begriffen nicht zwangsläufig auf die ursprüngliche Lokalisierung eines Psalmes schließen, sondern sollte durchaus damit rechnen, dass sich ein bestimmtes Vokabular allmählich verselbstständigt hat und dann generell entsprechende religiöse Assoziationen hervorrufen soll.

Auch die Feststellung ursprünglich kanaanäischer Traditionen ist ein zurückhaltend zu bewertendes Echtheitskriterium für einen „Zionspsalm“; warum sollten Elemente, die eindeutig auf die Zeit nach dem salomonischen Tempelbau verweisen, gegen ein echtes „Zionslied“ Israels sprechen; hier wird stillschweigend vorausgesetzt, dass echte Zionslieder nur Dichtungen sein können, die auf vorisraelitische Tradition zurückgehen. Dies ist eine sehr enge Definition; dennoch wollen wir uns zunächst einmal darauf einlassen.

In der Tat geht der Talmud an mehreren Stellen auf Verse von Ps 48 ein, die von Neumann zum ursprünglichen Zionslied gerechnet werden. Zu Ps 48,2 „Groß ist der HERR und hoch zu rühmen in der Stadt unsres Gottes, auf seinem heiligen Berge“, zitieren die Traktate RH 31 a sowie Tamid 33b nur die erste Zeile, und zwar als Lobpreis, der am zweiten Tag der Woche, dem Montag, gesungen wurde; Begründung: „Weil er an diesem [Tag] seine Werke teilte und über sie herrschte“.60 Die Gottesstadt spielt dabei keine Rolle. Dasselbe gilt für V. 3, „Schön ragt empor der Berg Zion, daran sich freut die ganze Welt, der Gottesberg fern im Norden, die Stadt des großen Königs.“ Obwohl hier die „Stadt des großen Königs“ besungen wird, dient der Vers zur Erklärung sprachlicher Eigentümlichkeiten in ausländischen Gegenden, z.B. in der Gegend von Aleppo. 

Sprachliche Beobachtungen spielen auch im Traktat Erubin 54 a eine Rolle. Hier werden bestimmte häufiger verwendete formelhafte Ausdrücke als Hinweis auf Dauerhaftigkeit gedeutet:

    „In der Schule des R. Eliezer b. Jaqob wurde gelehrt: Alles, wobei [die Worte] neçah, selah und vaed gebraucht werden, hat ewig keinen Aufhör. Neçah, denn es heißt [Jes 57,16]: denn nicht auf immer will ich hadern, noch ewig [neçah] zürnen. Selah, denn es heißt [Ps 48,9]: wie wir es gehört haben, so haben wir es gesehen in der Stadt des Herrn der Heerscharen, in der Stadt unseres Gottes; Gott lasse sie ewig feststehen, Selah. Vaed, denn es heißt [Ex 15,18]: der Herr ist König auf immer und ewig [vaed].61

Über die Stadt selbst wird in diesem Zusammenhang nicht reflektiert. Könnte es daran liegen, dass zur talmudischen Zeit Jerusalem darniederlag? Wenn es sich bei R. Eliezer b. Jaqob um den älteren der beiden unter diesem Namen bekannten Lehrer handelte, so liegt seine Wirkungszeit unmittelbar nach der Tempelzerstörung. Vielleicht getraute man sich deshalb auch nicht, öffentlich von der Wiedererrichtung und dem ewigen Bestehen Jerusalems zu sprechen, und verbarg eine dezidierte Aussage hinter der Reflexion über die Bedeutung des Wortes Selah.  Aber auch dies kann nur eine Spekulation sein. 

Etwas weiter führt in dieser Hinsicht die kabbalistisch-mystische Schrift Sohar.

    „Und Rabbi Jehuda fuhr fort [Ps 48,3]: »Schön Ragende, Freude der ganzen Erde, Zion an der Seite des Nordens, Stadt des mächtigen Königs«. Merke das Folgende: Als der Allheilige die Welt erschuf, setzte er einen kostbaren Stein unter seinen Thron und tauchte ihn in die Tiefe. Ein Haupt des Steines stach in den Abgrund, das andere ragte in die Höhe. Und dieses Haupt in der Höhe ist ein Punkt, der in der Mitte der Welt steht, von wo sich die Welt nach rechts und links und allen Seiten breitet, und hat durch diesen Mittelpunkt Bestand; dieser Stein ist genannt Stein der Grundsetzung, weil Er von hier aus die Welt nach allen Seiten pflanzte. […] In drei Weisen breitet sich die Erde um jenen Punkt. In der ersten Ausbreitung wohnt alle Helligkeit und Reinheit der Erde. Sie befindet sich über der Erde rings um jenen Punkt. Die zweite Ausbreitung umgibt die erste, ist nicht so hell und rein wie diese, aber dennoch fein und hell, in hellerer Stofflichkeit als jeder andere Stoff. Die dritte Ausbreitung ist dunkler und gröber; sie erst umgibt das Wasser des Meeres, der weltumschlingende Ozean. So steht jener Punkt in der Mitte und alle Arten der Ausbreitung umringen ihn. Die erste: »Das Haus des Heiligtums«, alle jene heiligen Gemächer und Hallen mit all ihrer Einrichtung, Jerusalem, die ganze Stadt innerhalb der Mauern. Die zweite Ausbreitung das ganze Land Israel, das Heiligkeit in sich trägt. Die dritte Ausbreitung: die ganze übrige Erde, der Wohnkreis aller anderen Völker. Und der Ozean umschließt das Ganze. Es ist das Geheimnis der Kreise im Auge, welche den mittelsten Punkt umgeben, der eigentlich das Sehen des ganzen Auges bildet. Diesem Punkte gleich steht in der Mitte das Allerheiligste mit der Bundeslade und der Decke, welche die Schau des Ganzen bilden. Es bedeutet dieser Punkt die Schau der ganzen Welt. Deshalb ist geschrieben [Ps 48,3]: »Schön Ragende, Freude der ganzen Erde« … »Schön«: diese Schau und Wonne des Alls, »ragend« wie die Emporragung des herrlichsten Baumes. Und merke: Die Schönheit der Welt und die Schau der Welt werden nicht früher in der Welt sichtbar, als bis die »Wohnung« gebaut und errichtet ist und die Lade in das Heiligtum eingezogen. Von dieser Stunde an wird alles in der Welt sichtbar und die Welt erst richtig eingerichtet. Sie gehen mit dieser Wohnung und mit dieser Lade bis man an jenen Punkt kommt, welcher der „schön ragende“ ist, die Wonne des Alls. Ist man aber dorthin gekommen, dann beginnt die Lade zu sprechen [Ps 132,14]: »Dies ist meine Ruhe für ewig, hier will ich bleiben, denn ich habe darnach begehrt.« Rabbi Jesse sagte: »Diese Worte spricht die Gemeinschaft Israels in der Stunde, da das Heiligtum erbaut und die Lade an ihren Ort gekommen ist«. Rabbi Chija sagte: »Der Allheilige spricht sie von der Gemeinschaft Israels, wenn Israel seinen Willen tut, denn dann sitzt der Allheilige auf seinem kotbaren Thron und hat Erbarmen mit der Welt und da erquellen Segen und Friede und Liebe zu allem«. Und dann sagt Er: »Dies ist meine Ruhe für ewig«."62

Dieses Zitat wurde so ausführlich wiedergegeben, weil nur so ersichtlich wird, innerhalb welcher mystischen Weltvorstellung diese Aussagen gemacht werden. Hier wird tatsächlich über die Stadt Jerusalem reflektiert, allerdings nicht im politischen Sinn als „ewige Hauptstadt Israels“, sondern als Zentrum der Welt, jedoch unter einigen Vorbehalten: es kann diese Funktion erst wahrnehmen wenn die heilige „Wohnung“ – [mischkan] war in der Wüstenzeit die die Bezeichnung für das Zelt, später für den Jerusalemer Tempel – und die Bundeslade gewissermaßen als sichtbares Zeichen der Anwesenheit Gottes in der Stadt angelangt sind, bzw. mit R. Chija: wenn Israel den Willen Gottes tut. Hier wird erkennbar, wie man sich nach der Tempelzerstörung durch die Römer um 200 unserer Zeitrechnung die Gegenwart Gottes in der Stadt vorstellen konnte. Dabei von „pharisäischer Gesetzlichkeit“ zu sprechen, wäre eine völlige Verkennung der Motivation solcher Aussagen: es geht um die Präsenz Gottes innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, nachdem eine dingliche Vergegenwärtigung durch das Vorhandensein des Tempels und seiner Geräte und rituellen Praktiken nicht mehr möglich war.

Auch wenn nicht von einer „Hauptstadt“ oder gar Festung bzw. Zitadelle die Rede ist, wird dennoch die zentrale Bedeutung Jerusalems für Israels Selbstverständnis deutlich.

Nicht anders ist es um Ps 46 bestellt. Die Verse 5 und 6 dieses Psalms handeln von der „Gottesstadt“:

    „5 Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. 6 Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie festbleiben; Gott hilft ihr früh am Morgen.“

So lautet die vertraute und dichterisch schöne Lutherübersetzung, die allerdings den hebräischen Wortlaut nicht korrekt wiedergibt.

Torczyner übersetzt diese beiden Verse:

    „Des Stromes Arme – sie erfreuen Gottes Stadt / geheiligt für des Höchsten Wohnstatt. / Gott ist in ihr, sie wanket nicht! / Gott hilft ihr, dass der Morgen naht.“63

Auch die katholische Einheitsübersetzung 2017 hält sich enger als Luther an die hebräische Vorlage:

    „5 Eines Stromes Arme erfreuen die Gottesstadt, des Höchsten heilige Wohnung 6 Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken. Gott hilft ihr, wenn der Morgen anbricht.“

Hier handelt es sich um deutliche Anknüpfungspunkte für eine Reflexion über die Bedeutung Jerusalems; denn ungeachtet älterer darin verarbeiteter Traditionen ist innerhalb des biblischen Gesamtzusammenhangs eindeutig Jerusalem mit dieser „Gottesstadt“ gemeint. Umso erstaunlicher ist daher, dass im Talmud zwar auf Vers 3 und 9 Bezug genommen wird, nicht aber auf diese beiden Verse. Dabei wird im Traktat Berachot 7b sogar eine Korrektur der masoretischen Vokalisation vorgenommen, wenn es heißt:

    „Woher, dass Namen vorbedeutend sind? R. Eleazar erwiderte: Es heißt [Ps 46,9]: gehet, schauet die Werke des Herrn, der Verwüstungen auf Erden gemacht; Lies nicht Samoth [Verwüstungen], sondern Semoth [Namen].“64

Diese „Korrektur“ ist wohl vom Zusammenhang des Traktates her so zu verstehen, dass Gott den Personennamen symbolische Bedeutung verliehen hat. Für die Frage nach Jerusalem bringt dies jedoch nichts; denn über deren Namen und dessen symbolische Bedeutung wird nicht reflektiert.

In einem völlig überraschenden Zusammenhang geht der Talmud auf Ps 46,3 ein: „Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken“. Ist dies im logischen Zusammenhang des Psalms der Hintergrund für die Aussagen über die Gottesstadt, so wird dieser Vers im Traktat Sanhedrin 92b als Begründung für eine individuell-eschatologische Aussage zitiert:

    „Wenn du aber fragst, was denn die Frommen machen werden, während der Jahre, in denen der Heilige, gepriesen sei er, seine Welt erneuern wird, wie es heißt [Jes 2,11]: und der Herr allein wird an jenem Tage erhaben sein? Der Heilige, gepriesen sei er, wird ihnen Flügel machen, gleich den Adlern, und sie werden über dem Wasser schweben, denn es heißt [Ps 46,3]: darum fürchten wir uns nicht, wenn sich die Erde verwandelt, wenn die Berge mitten im Meer wanken. Vielleicht glaubst du, es werde eine Qual sein, so heißt es [Jes 40,31]: die auf den Herrn hoffen, gewinnen neue Kraft, sie erheben ihre Schwingen wie die Adler, sie laufen und werden nicht matt, sie gehen und werden nicht müde. – Sollte man doch von den Toten folgern, die Jehezqel belebt hatte!? – Er ist der Ansicht desjenigen, welcher sagt, es sei in Wirklichkeit nur eine Dichtung. Es wird nämlich gelehrt: R. Eliezer sagte: Die Toten, die Jehezqel belebt hatte, stellten sich auf ihre Füße, stimmten ein Lied an und starben. Welches Lied stimmten sie an? – Der Herr tötet in Gerechtigkeit und belebt in Erbarmen. R. Jehosua sagte: Sie stimmten folgendes Lied an [1.Sam 2,6]: Der Herr tötet und macht lebendig, er stürzt in die Unterwelt und führt herauf.“65

Dabei spricht der hebräische Wortlaut von Ps 46,3 nicht so hochdramatisch wie Luther von einem „Weltuntergang“, sondern vielleicht von einem starken Erdbeben, denn [behamir arætz] leitet sich ab von [mûr] = (hif.) vertauschen, sich ändern oder (nif.) schwanken. In jedem Fall geht es also um eine Erschütterung oder gar Umwandlung, so dass auch die im Talmud vorausgesetzte Bedeutung zu rechtfertigen ist. Torczyner übersetzt, „ob die Erde sich wendet“66 Kraus67 erwägt Textemendationen, auf die wir allerdings in unserem Zusammenhang nicht näher eingehen müssen.

In Ps 76 stellt nur V. 3 einen Bezug zu Jerusalem her: „2 Gott ist in Juda bekannt, in Israel ist sein Name herrlich. 3 So erstand in Salem sein Zelt und seine Wohnung in Zion.“ Im Talmud wird darauf jedoch nicht Bezug genommen, so dass wir uns einem weiteren „Zionslied“ zuwenden können, das uns in den prophetischen Schriften zweimal fast identisch überliefert wird, und zwar Jes 2 und in Mi 4. Auf Mi 4 nimmt der Talmud nicht Bezug.

Jes 2,2 spielt eine Rolle im Traktat BB 4a im Zusammenhang mit einer recht stilisiert wirkenden anekdotischen Erzählung über eine Verfolgungsaktion des Herodes gegenüber den Gelehrten. Dieser habe alle außer Baba b. Buta hingerichtet, ihn aber auf grausame, sadistische Weise geblendet. Als Herodes ihn einmal aufsuchte, soll dieser zu ihm gesagt haben:

    „Du hast das Licht der Welt68 ausgelöscht, wie es heißt [Spr 6,23]: denn eine Leuchte ist das Gebot und das Gesetz ein Licht, geh und befasse dich nun mit dem Licht69 der Welt, wie es heißt [Jes 2,2]: strömen70 werden zu ihm alle Völker. Manche sagen, er habe ihm wie folgt erwidert: Du hast das Auge der Welt geblendet, wie es heißt [Num 15,24]: wenn von den Augen der Gemeinde,71 geh nun und befasse dich mit den Augen der Welt, wie es heißt [Hes 24,21]: fürwahr, ich entweihe mein Heiligtum, den Gegenstand eurer stolzen Hoffahrt, die Lust eurer Augen.“

Setzt man bei dem letzten Zitat ein, fällt vor allem die Qualifizierung des Jerusalemer Tempels als „Gegenstand eurer stolzen Hoffahrt“ und „Lust eurer Augen“ auf. Dies stimmt in der Tat mit dem Eindruck überein, den der herodianische Tempel auf damalige Betrachter gemacht hatte. So ist etwa im Traktat Sukka 51b folgende Redensart überliefert:

    „Die Rabbanan lehrten: ... Wer Jerusalem in seiner Pracht nicht gesehen hat, hat im Leben keine herrliche Großstadt gesehen. Wer den Tempel in seinem Bestande nicht gesehen hat, hat im Leben kein prächtiges Gebäude gesehen. – Welchen? Abajje, nach anderen R. Chisda erwiderte: Den von Herodes erbauten. Woraus baute er ihn? Rabba erwiderte: Aus Alabaster- und Marmorstein. Manche sagen, aus Alabaster-, Stibium- und Marmorstein;72 eine Reihe einwärts, eine Reihe hervorstehend, damit der Kalk halte. Er wollte ihn auch mit Gold verkleiden, da sprachen die Gelehrten zu ihm: Lass dies, so ist es schöner, denn es sieht wie die Wellen73 des Meeres aus.“74

Angesichts einer solchen Beschreibung ist nachvollziehbar, dass diese Tempelanlage als „Gegenstand eurer stolzen Hoffahrt“ und „Lust eurer Augen“ bezeichnet wird, auch wenn der Tempel in demselben Hesekiel-Zitat (das sich allerdings auf den salomonischen Tempel bezieht) zugleich als „mein Heiligtum“ bezeichnet wird. Dennoch fällt auf, dass hier nicht wie in Jes 2 vom Tempel als der Pflegestätte der Tora gesprochen wird; diese Funktion ist nun auf die Gelehrten und Ältesten übergegangen, wie dies der Situation nach der Tempelzerstörung durch die Römer im Jahr 70 unserer Zeitrechnung entspricht. Insofern liegt auch hier ein Indiz dafür vor, wieso an Jerusalem als „heiliger“ Stadt nicht mehr so viel Interesse bestand.

Noch deutlicher kommt die Zeit nach der Tempelzerstörung im Traktat Berakhot 63b in den Blick, wo es um die Frage geht, ob Gelehrte der Diaspora Festlegungen und Entscheidungen treffen können, die für die ganze israelitische Kultusgemeinde bindend sind, etwa in der Festlegung von Festzeiten oder von Erlaubtem und nicht Erlaubtem. Dass es sich dabei nicht um Belangloses handelt wird daran deutlich, was die Boten den Gemeinden in der Diaspora darüber mitteilen sollen, wie bei Abweichung von Entscheidungen Rabbi Aqibas zu verfahren sei.

    „Sagt es auch unseren Brüdern in der Diaspora; gehorchen sie, so ist es gut, wenn nicht, so mögen sie auf einen Berg gehen, wo Ahija einen Altar errichten, Hananja auf der Harfe spielen, und sie allesamt [Gott] verleugnen und sprechen mögen: Wir haben keinen Anteil an dem Gott Jisraéls. – Warum dies alles? – Weil es heißt [Jes 2,3]: denn von Çijon geht die Tora aus und das Wort des Herrn von Jerusalem. – Allerdings durften sie unreinsprechen, was er reingesprochen, weil erschwerend …“.75

Erschwerungen galten demnach als zulässig, nicht aber Erleichterungen; denn es ging um die Heiligkeit der Gemeinschaft. Wie ernst dabei der Begriff „Berg“ genommen wurde, sieht man daran, dass den Abtrünnigen empfohlen wird, ebenfalls auf einen Berg zu gehen und dort unter Leitung der Abweichler „ihren“ Gottesberg zu installieren, sich damit aber gleichzeitig vom Gott Israels loszusagen. Jerusalem bzw. die Gelehrten im Land76 beanspruchten anscheinend unter Berufung auf Jes 2,3 eine Lehrhoheit, ohne dass jedoch die Stadt Jerusalem als solche eine hervorgehobene Rolle spielte.

In der Mischna mBik III,2 von der Ablieferung der Erstlingsfrüchte dient Jes 2,3 als Formel zum Aufbruch der Abordnungen der einzelnen Ortschaften. Dass es sich dabei um Erinnerungen an Zeiten, als der Tempel noch stand, handelt, darf in diesem Zusammenhang nicht stören. Man beschrieb offensichtlich Details so genau, um nach einer Wiedererrichtung des Tempels sich vorschriftsmäßig verhalten zu können. In diesem Zusammenhang heißt es dann:

    „Wie brachte man die Erstlinge hin? Aus allen Städten im Standbezirk77 versammelte man sich in der Stadt des Standältesten und übernachtete auf dem Stadtplatz, ohne die Häuser zu betreten. Morgens rief der Vorgesetzte [Jes 2,3]: Auf, lasset uns nach Çijon gehen, in das Haus des Herrn unseres Gottes.“78

Was in Jes 2,3 einen Aufruf einer Völkerwallfahrt zum Zion darstellt, ist hier zu einem Aufbruchsignal für die Abordnungen der  einzelnen Wohnorte geworden. Auch inhaltlich liegt einer Veränderung vor, wenn an die Stelle von Toraempfang die Ablieferung der Erstlingsfrüchte getreten ist.

Der Vollständigkeit halber sei auch noch die Bezugnahme auf Jes 2,3 im Traktat Pes 88 a angeführt, weil sie offensichtlich ein einschränkendes Verständnis dieser prophetischen Einladung vertritt.

Heißt es im Original, „und viele Völker werden hingehen“, so wird im Traktat Pesachim von der Bezeichnung „Haus des Gottes Jakobs“ ausgehend der Kreis derer, denen dies gilt,  de facto auf Israel eingeschränkt:

    „Ferner sagte R. Eleazar: Es heißt [Jes 2,3]: und viele Völker werden sich aufmachen und sprechen: Auf lasst uns zum Berg des Herrn, zum Tempel des Gottes Jaqobs hinaufsteigen &c. Ist er denn der Gott Jaqobs und nicht der Gott Abrahams und Jiçhaqs Vielmehr, nicht wie Abraham, bei dem [das Wort] Berg gebraucht wird, wie es heißt [Gen 22,14]: daher man noch heutigen Tages sagt: auf dem Berge, wo der Herr erscheint, auch nicht wie Jiçhaq, bei dem [das Wort] Feld gebraucht wird, wie es heißt [Gen 24,63]: Jiçhaq war ausgegangen, um auf dem Felde zu beten, sondern wie Jaqob, der ihn ›Haus‹ nannte, wie es heißt [Gen 28,19]: er nannte dies Stätte ›Bethel‹ [Haus Gottes].79

Dabei wird nicht beachtet, dass Gen 28 nicht in Jerusalem handelt, sondern in Bethel. Außerdem ist zu fragen: Inwiefern handelt es sich dabei um eine faktische Einschränkung? Dies wird erkennbar, wenn man den Blick auf die jeweilige Nachkommenschaft richtet: Abraham ist auch der Vater Ismaels, und damit– jedenfalls nach späteren Völkerfamilien – der arabisch-ägyptischen Bevölkerung, die ebenfalls zu den semitischen Völkern gehören. Isaak ist auch der Vater Esaus und damit der Stammvater der Edomiter, die allerdings in talmudischer Zeit mit den Römern gleichgesetzt werden. Nur Jakob ist ausschließlich Stammvater der israelitischen Stämme, nur er trägt den Ehrennamen „Israel“, vgl. Gen 32,29: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.“

Solche Untertöne müssen mitgehört werden, da sie für die talmudischen Gelehrten selbstverständlich präsent waren, so dass in solchen Interpretationen oft auch verdeckte Botschaften enthalten sind. Und dies war auch in Verfolgungszeiten ratsam; denn wir befinden uns bei R. Eleazar in der Zeit vor dem Bar-Kochba-Aufstand mit dem Versuch, den zerstörten Tempel wieder zu errichten und zugleich die römische Herrschaft  abzuschütteln.

Damit kann die talmudische Nachwirkung ausdrücklicher biblischer Jerusalem-Bezüge abgeschlossen werden

3.2    Jerusalem in sonstigen rabbinischen Texten

Als Grundlage dient, wie oben angekündigt, der Index in Billerbecks Kommentar. Dort interessieren vor allem Stellen, zum Thema „Jerusalem als Nationaleigentum aller Juden“. Sie werden hier nach Billerbecks Übersetzung zitiert.

Dort wird nach der einleitenden Bemerkung, „Jerusalem ist nicht unter die Stämme verteilt worden (sondern gemeinsamer Besitz von ganz Israel geblieben)“,80 eine Baraita zu Joma 12a zitiert:

    „Man darf die Häuser in Jer. nicht vermieten, weil sie ihnen (den Jerusalemern) nicht gehören. R. El`azar b. Çadoq (wohl der Ältere, um 100) sagte: Auch nicht die Lagerstätten (an die Festpilger); deshalb nehmen die Wirte (Gastfreunde) die Häute der Festopfer (der bei ihnen wohnenden Festpilger) mit Gewalt (als ihre Entschädigung in Anspruch). – Dasselbe Meg 26a.“

Billerbeck gibt in Klammern einige interpretierende Erläuterungen zu diesem Text. Im Traktat Joma ist diese Passage Teil einer Diskussion darüber, ob Bet- und Lehrhäuser durch Aussatz verunreinigt werden können. An dieser Stelle wird zwischen Bethäusern mit einem Wohnraum für den Synagogendiener und ohne einen solchen unterschieden, außerdem zwischen großstädtischen und dörflichen Bethäusern. Dabei wird unter Bezugnahme auf Lev 14,34 f. diskutiert für welche Häuser die Aussatzregelung gilt. Dort heißt es:

    „34 Wenn ihr ins Land Kanaan kommt, das ich euch zum Besitz gebe, und ich lasse an irgendeinem Hause eures Landes eine aussätzige Stelle entstehen, 35 so soll der kommen, dem das Haus gehört, es dem Priester ansagen und sprechen: Es sieht mir aus, als sei Aussatz an meinem Hause.“

Daraus wird gefolgert, „Nur was ihr zu eigen habt, ist durch Aussatz verunreinigungsfähig, Jerusalem aber ist durch Aussatz nicht verunreinigungsfähig.“81 Dagegen wird R. Jehuda zitiert:

    „Ich hörte dies vom Platze des Heiligtums. Bet- und Lehrhäuser aber sind demnach durch Aussatz verunreinigungsfähig, auch wenn sie sich in Großstädten befinden!? Lies: R. Jehuda sprach: Ich hörte dies nur von einem geheiligten Platz.82 – Worin besteht ihr Streit? Der erste Tanna ist der Ansicht, Jerusalem sei nicht an die Stämme verteilt worden und R. Jehuda ist der Ansicht Jerusalem sei wohl an die Stämme verteilt worden. Sie führen denselben Streit wie die Tannaím der folgenden Lehre: Was befand sich [vom Tempel] im Gebiet Jehudas? Der Tempelberg, die Hallen und die Tempelhöfe. Was befand sich im Gebiet Binjamins? Die Vorhalle, das Tempelschiff und das Allerheiligste. Ein Streifen vom Gebiet Jehudas ragte in das Gebiet Binjamins, auf dem der Altar errichtet war, und tagtäglich härmte sich der fromme Benjamin, ihn einzuverleiben, denn es heißt [Dtn 33,12]: und zwischen seinen Schultern wohnt er. Folgender Tanna aber ist der Ansicht, Jerusalem sei an die Stämme nicht verteilt worden. Es wird nämlich gelehrt, Man darf in Jerusalem keine Wohnungen vermieten, weil sie nicht ihr Eigentum sind, und wie R. Eleazar b. Çadoq sagt …“83 (Es folgt die von Billerbeck zitierte Stelle)

Der Zusammenhang innerhalb des Traktats ist insofern wichtig, als er zeigt, dass es sich um eine keineswegs unumstrittene Ansicht handelt. Hinter den verschiedenen Auffassungen stehen selbstverständlich unterschiedliche Konzeptionen, welcher Stamm berechtigte Ansprüche und damit Anrecht an Jerusalem hat. Historisch zutreffend dürfte allerdings sein, dass Jerusalem weder an die Stämme verteilt wurde noch Gemeinschaftsbesitz seiner Einwohner, sondern mindestens während der Königszeit Besitz des davidischen Königshauses war.

Fast dieselbe Überlieferung findet sich zwar auch in Meg 26a, aber in einem anderen Sachzusammenhang (Verkauf eines Bethauses in Jerusalem) und unter Bezugnahme auf die zweite Vershälfte von Dtn 33,12; deshalb lautet hier das Ende dieses Zitats:

    „… und darüber härmte sich der fromme Binjamin tagtäglich, ihn einzuverleiben, denn es heißt [Dtn 33,12]: er beschirmt84 ihn allezeit. Daher war es Binjamin beschieden, ein Wirt der Göttlichkeit zu sein.85 Folgender Tanna dagegen ist der Ansicht, Jerusalem sei nicht an die Stämme verteilt worden. Es wird nämlich gelehrt: Man darf in Jerusalem keine Häuser vermieten,86 weil sie nicht ihr Eigentum sind, und wie R. Eleazar b. Çadoq sagt, auch keine Betten; daher pflegten die Wirte ihnen die Häute der heiligen Opfer gewaltsam abzunehmen.87 Abajje sagte: Hieraus, dass es schicklich ist, Krug und Haut seinem Gastwirt zurückzulassen.“88 

Abajje zieht auch eine andere Konsequenz daraus und zeigt damit, dass gleiche Bibelstellen und daraus abgeleitete Folgerungen auf mehrere verschiedene, aber vergleichbare Sachverhalte übertragbar waren.    In Band II, S. 144 verweist Billerbeck zum Thema „Nichtverteilung Jerusalems unter die Stämme“ auf den Traktat BQ 82b. Dort wird festgestellt:

    „Zehn Dinge werden von Jerusalem gelehrt: Ein Haus verfällt nicht in diesem.89 Er bringt nicht das genickgebrochene Kalb.90 Es wird keine abtrünnige Stadt.91 Da ist der Häuseraussatz92 nicht verunreinigend. Da dürfen keine Vorsprünge und keine Balkone hervorragen. Man errichte da keine Misthaufen. Man baue da keine Schmelzöfen. Man lege da keine Gemüse- und Obstgärten an mit Ausnahme der Rosengärten, die sich das seit der Zeit der ersten Propheten befinden. Man züchte da keine Hühner. Man lasse da keine Leiche übernachten.“93 

Hier handelt es sich fast ausschließlich um Fälle ritueller Verunreinigungen; die Fortsetzung zeigt aber, dass diese Regelungen völlig anders begründet werden:

    „Ein Haus verfällt nicht in diesem. Denn es heißt [Lev 25,30]: so wird das Haus, das in einer ummauerten Stadt liegt, dem Käufer und seinen Nachkommen bestätigt, und [der Autor] ist der Ansicht, Jerusalem ist nicht an die Stämme verteilt worden. Es bringt nicht das genickgebrochene Kalb, denn es heißt [Dtn 21,1]: wenn ein Erschlagener gefunden wird auf dem Feld, das der Herr, dein Gott, dir zum Besitztum verleiht, und Jerusalem ist nicht an die Stämme verteilt worden. Es wird nicht abtrünnige Stadt, denn es heißt [Dtn 13,13]: deiner Städte, und Jerusalem ist nicht an die Stämme verteilt worden. Da ist der Häuseraussatz nicht verunreinigend, denn es heißt [Lev 14,34]: und ich lasse an irgend einem Hause im Lande,  das ihr zu eigen habt, ein Aussatzmal entstehen, und Jerusalem ist nicht an die Stämme verteilt worden. Da dürfen keine Vorsprünge und Balkone hervorragen, damit sie nicht hinsichtlich der Verunreinigung als Bezeltung dienen,94 und damit die Wallfahrer nicht an diesen zu Schaden kommen. Man errichte da keine Misthaufen; wegen des Geschmeißes. Man errichte da keine Schmelzöfen; wegen des Rauches. Man lege da keine Gemüse- und Obstgärten an; wegen des Gestankes.95 Man züchte da keine Hühner; wegen der heiligen [Opfer].96 Man lasse da keine Leiche übernachten; dies ist eine Überlieferung.97  

Für unseren Zusammenhang ist zum einen beachtlich, dass für die auf biblische Begründungen zurückgehenden Ausnahmeregelungen als Grund jeweils angeführt wird, „Jerusalem ist nicht an die Stämme verteilt worden“; bei den anderen fehlt diese Begründung; d.h. man wusste, dass man in den ersten Fällen eine von den biblischen Anordnungen abweichende Regelung getroffen hatte, die einer besonderen Begründung bedurfte. Historisch dürfte dies bedeuten, dass in all diesen Fällen noch nie nach diesen altisraelitischen Regeln gehandelt wurde; denn bis zu David war diese Stadt nicht in israelitischem Besitz. Aber auch danach war sie eine Art Kronbesitz, also nicht dem Stämmeverband eingegliedert, was in diesen Sonderregelungen seinen Niederschlag gefunden hat.

Für die Bezeichnung „ewige Hauptstadt Israels“ bedeutet dies allerdings, dass man sich dafür weder auf biblische noch auf rabbinische Tradition stützen kann.

In seinem Exkurs „Das Passahmahl“98 führt Billerbeck noch einige Belege dafür an, dass dieses Fest, jedenfalls solange der Tempel stand, in Jerusalem begangen werden musste. Dies hatte zur Folge, dass während dieser Tage jährlich große Scharen von Pilgern in Jerusalem verbrachten. Aus einigen der rabbinischen Regelungen über die „Vermietung“ von Übernachtungsmöglichkeiten ging dies indirekt bereits hervor. Billerbeck verweist allerdings darauf, dass über die Zahl der Festpilger zwei stark voneinander abweichende Überlieferungen erhalten sind.99 Einen dieser beiden Belege zitiert er ausführlich zum Stichwort „König Agrippa“ im Zusammenhang mit Apg 12,23:

    „TPes 4,3 (163): „Einmal wünschte der König Agrippas zu wissen, wie groß die Zahl der Volksmassen Israels sei; er sagte zu den Priestern. Sondert für mich eine Niere von jedem Passahlamm {das geschlachtet wird) ab. Da sonderten sie ihm 600000 Paar Nieren ab, doppelt so viel wie die Zahl der aus Ägypten Ausgezogenen betrug. Auf jedes Passahlamm kamen aber mindestens zehn Personen (die davon aßen), außer denen, die sich auf einem fernen Wege befanden u. die unrein waren (so dass sie am Passahmahl nicht teilnehmen konnten; hiernach hätte die Zahl derer, die in jenem Jahr in Jerusalem das Passah aßen, mehr als 12 Millionen betragen). An jenem Tag kamen so viele Israeliten auf den Tempelberg, dass dieser sie nicht fasste; deshalb wurde jenes Passahfest das „Passah der Gedrückten“ (des Gedränges) genannt.“100  

Der andere, nach Billerbeck „in bescheideneren Grenzen“101 gehaltene Bericht, findet sich bei Flavius Josephus in seinem „Jüdischen Krieg“. Im Zusammenhang mit der Eroberung Jerusalems durch Titus macht Josephus auch statistische Angaben:

    „Die Gesamtzahl aller Gefangenen, die während des ganzen Krieges gemacht wurde, belief sich auf 97000, die Zahl derer, die bei der ganzen Belagerung umkamen, auf 1.100000 Menschen. Die Mehrzahl derer waren zwar geborene Juden, aber nicht ortsansässige Jerusalemer.102 Denn aus dem ganzen Lande war das Volk zum Fest der ungesäuerten Brote zusammengeströmt und unerwartet durch den Verlauf des Krieges umzingelt worden, so dass zunächst auf Grund der räumlichen Begrenztheit Seuchen sie vernichteten, später aber die noch schneller zupackende Hungersnot. Dass aber die Stadt so viele Leute fassen konnte, geht klar aus der Volkszählung des Cestius hervor; da er dem Nero, der das jüdische Volk gering achtete, die Blüte der Stadt beweisen wollte, beauftragte er die Hohenpriester, falls möglich, die Menge zu zählen. Da nun gerade das sogenannte Passahfest begann, an dem von der neunten bis zur elften Stunde geopfert wird – um jedes Opfer sind nicht weniger als zehn Männer wie eine Bruderschaft versammelt, denn einer allein darf nicht essen, oft versammeln sich auch zwanzig – und so zählte man 255600 Opfertiere. Das macht, um nur zehn für jedes Opfer anzusetzen, 2.700000 Teilnehmer, alles reine und geweihte Personen; denn Aussätzige, Samenflüssige, in der monatlichen Reinigung befindliche Frauen sowie anderweitig Unreine durften nicht an diesem Opfer teilnehmen, ebensowenig Nichtjuden, die sich zum Gottesdienst eingefunden hatten. Die Hauptmasse der Teilnehmer war so von außen zusammengekommen. Damals wurde durch das Schicksal das ganze Volk wie in ein Gefängnis eingeschlossen, und der Krieg legte einen feindlichen Ring um die mit Menschen vollgestopfte Stadt. Die Menge der Umgekommenen übertraf daher jede von Menschen oder vom Himmel heraufbeschworene Vernichtung.“103   

Im Wesentlichen scheinen sich Josephus und die Tosefta auf die gleiche Quelle zu beziehen, auch wenn die Zahlenangaben des Josephus glaubhafter klingen. Im Zusammenhang unserer Fragestellung geht zwar die zentrale Bedeutung Jerusalems für das israelitische Volk hervor, allerdings auch, dass es sich dabei in der Hauptsache um Pilger, nicht um Ortsansässige handelte. Jerusalem ist dagegen als politische Hauptstadt Israels überhaupt nicht im Blick.

Selbst die genaue Definition, was im Sinne der Tora mit „Jerusalem“ gemeint ist, wird von den Rabbinen diskutiert und festgelegt. So enthält z.B. SNum zu 9,10 eine Festlegung, was unter „einer weiten Reise“ zu verstehen sei.

    „R. Eliezer sagt:

    Es ist von einem »Entferntsein von einem Orte« beim Zehnten die Rede,104 und es ist vom »Entferntsein von einem Orte« beim Pesach[fest] die Rede. Wie das beim Zehnten erwähnte »Entferntsein von einem Orte« [bedeutet:] Außerhalb des Ortes, wo es gegessen wird, so [bedeutet] auch das beim Pesach[fest] erwähnte »Entferntsein von einem Orte«: Auerhalb des Ortes, wo es gegessen wird.

    Welches ist der Ort, wo es gegessen wird?

    Von dem Tor Jerusalems an nach innen.“105

Dies ist allerdings nicht die einzige Definition; denn die Auslegung in SNum zu 9,10 geht weiter:

    „R. Jehuda sagt in seinem Namen:

     Es ist vom »Entferntsein von einem Orte« beim Zehnten die Rede, und es ist vom »Entferntsein von einem Orte« beim beim Pesach[fest] die Rede. Wie das beim Zehnten erwähnte »Entferntsein von einem Orte« [bedeutet:] Außerhalb des Ortes, wo man es tauglich macht, so [bedeutet] auch das beim Pesach[fest] erwähnte »Entferntsein von einem Orte«: Außerhalb des Ortes, wo man es tauglich macht.

    Und welches ist der Ort, wo man es tauglich macht?

    Von dem Tor des Vorhofs nach ›innen‹.“106    

Bis in die Schreibweise hinein reichen diese Beobachtungen; denn der überlieferte hebräische Text weist eine Besonderheit auf, die auch in dem oben angeführten Zitat erkennbar ist.

    „Über dem He ist punktiert.

    [Das bedeutet], dass er, selbst wenn er auf einem nahen Weg und unrein ist, das Pesach[fest] nicht mit ihnen halten darf.107

Es folgen noch weitere Beispiele für Stellen, an denen Punkte über einem Konsonanten stehen. Diese können allerdings für uns außer Betracht bleiben, weil sie nichts mit Jerusalem zu tun haben, jedoch ein Beispiel dafür sind, wie genau die Rabbinen die Texte nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich solcher Auffälligkeiten beobachteten.

Eine Stelle aus dem Midrasch sei noch näher betrachtet, auf die Billerbeck eher nebenbei hinweist.108 Um die Relevanz für unsere Fragestellung deutlich zu machen, muss sie allerdings etwas ausführlicher zitiert werden. In der Mischna Kelim (Geräte) finden sich innerhalb einer Zusammenstellung von Sachverhalten, die es zehnfach gibt, u.a. auch folgende Feststellung (Kelim I):109

    „6. Es gibt zehn Grade der Heiligkeit: Das Jisraélland ist heiliger als alle anderen Länder. Worin besteht seine Heiligkeit? Dass man aus diesem die Schwingegarbe, die Erstlinge und die zwei Brote bringt, während man sie von allen anderen Ländern nicht bringt.

    7. Heiliger als dieses sin die mit einer Mauer umringten Städte, aus diesen sind die Aussätzigen hinauszuweisen, und in diesen darf man zwar einen Toten herumtragen solange man will, ist er aber hinausgekommen, darf man ihn nicht wieder hineinbringen.

    8. Heiliger als diese ist [das Gebiet] innerhalb der Mauer;110 in dieser darf man Minderheiliges und zweiten Zehnten essen. Heiliger als dieses ist der Tempelberg; diesen dürfen männliche und weibliche Flussbehaftete, Menstruierende und Wöchnerinnen nicht betreten. Heiliger als dieser ist der Zwinger [hakhel]; diesen dürfen Nichtjuden und Leichenunreine nicht betreten. Heiliger als dieser ist der Frauenvorhof; diesen darf jemand, der am selben Tag untergetaucht ist, nicht betreten, jedoch ist man deshalb kein Sündopfer schuldig. Heiliger als dieser ist der Jisraélitenvorhof; diesen darf ein der Sühne Ermangelnder nicht betreten, auch ist man dieserhalb ein Sündopfer schuldig. Heiliger als dieser ist der Priestervorhof; diesen dürfen Jisraéliten nicht betreten, außer wenn sie es müssen, zum Stützen, zum Schlachten und zum Schwingen.

    9. Heiliger als dieser ist [der Raum] zwischen der Vorhalle und dem Altar; diesen dürfen Fehlerbehaftete und Zaushaarige111 nicht betreten. Heiliger als dieser ist das Tempelschiff [hahejkhal]; wer Hände und Füße nicht gewaschen hat, darf es nicht betreten. Heiliger als alle ist das Allerheiligste [mequdasch], dieses darf nur der Hochpriester am Versöhnungstag beim Tempeldienst betreten. R. Jose sagte: In fünf Hinsichten gleicht [der Raum] zwischen der Vorhalle und dem Altar dem Tempelschiff: ihn dürfen Fehlerbehaftete, Zaushaarige, Weintrunkene und, wer Hände und Füße nicht gewaschen hat, nicht betreten, auch entferne man sich aus [dem Raum] zwischen der Vorhalle und dem Altar während der Räucherung.112113

Dieses ausführliche Zitat zeigt, dass es nicht um Jerusalem als Stadt geht, sondern um deren Heiligkeit, und zwar im Sinne einer größeren oder weiteren Entfernung zu dem Ort, den Gott als Manifestation seiner Gegenwart bestimmt hat. Allerdings muss man sich fragen, wie dies nach der Tempelzerstörung noch verstanden werden konnte.

Einen vielleicht deutlichen Hinweis liefert die Bedeutung der Klagemauer im heutigen religiösen Judentum. Weder vom salomonischen noch vom herodianischen Tempel ist noch etwas erhalten, lediglich Teile der Umfassungsmauer des herodianischen Tempelplatzes. Dennoch ist dies für das religiöse Judentum der heiligste Ort; denn diese Mauer und der Platz davor sind der Stelle am nächsten, an der einst der Tempel stand.

3.3    Jerusalem im religiösen Leben des Judentums

Mindestens einmal im Jahr wird Jerusalem ins Zentrum des jüdischen Bewusstseins gerückt, und zwar am Sederabend des Passafestes.

Dieser Abend wird seit Jahrhunderten nach einer festen Ordnung (Seder), der Haggada schel Pessach, gefeiert. Die ältesten erhaltenen Beispiele bebilderter Exemplare, sind die sog. Vogelkopf-Haggada, die um 1300 in Deutschland entstand, und die 1314 in Spanien entstandene Sarajevo-Haggada. Die Tradition ist allerdings älter. Zu diesem Abend gehören bestimmte symbolische Speisen, die vor allem die Kinder zum Fragen anregen. Das Jüdische Lexikon geht davon aus, dass ursprünglich „Art und Umfang der Antwort dem Ermessen des Hausvaters überlassen“ war,

    „im Laufe der Zeit aber nahm sie bestimmtere Formen an; so wurde eine Anlehnung an die Bibelstelle Deut. 26,5-8, die von der Bedrückung in Ägypten und der wunderbaren Befreiung spricht, … schließlich sogar an die Auslegung des Midrasch gefordert. Später hat R. Gamaliel (wahrscheinlich I.) verfügt, dass auch der Symbole des Pessachfestes, des Lammes, der Mazza und des Maror Erwähnung geschehen müsse, und schließlich wurde daran ein Dankgebet für die Befreiung angeschlossen, das in das Hallel überging. So hatte schon z. Zt. des zweiten Tempels in Jerusalem die H. eine einigermaßen festumschriebene Form".114

In der Pessach-Haggada wird u.a. von den Weisen von Bene-Barak erzählt, darunter u.a. auch R. Akiba, die sich eine ganze Nacht über den Auszug aus Ägypten unterhielten, bis ihre Schüler kamen und sie erinnerten, dass die Zeit für das Morgengebet gekommen sei.115

Für unsere Fragestellung sind vor allem zwei Stellen wichtig, die deutlich erkennen lassen, dass sie nicht aus der Zeit des zweiten Tempels stammen, sondern aus der Diaspora.

Ziemlich zu Beginn, nach dem Brechen der Mazza, wird der Seder-Teller erhoben und dazu gesprochen:

    „Seht, welch armseliges Brot unsere Väter im Lande Ägypten genossen haben! – Wen es hungert, der komme und esse, wer es bedarf, der komme und halte Pessach; dieses Jahr hier, künftiges Jahr im Lande Israels; dieses Jahr dienstbar, künftiges frei.“116

Da es geboten ist, Pessach so zu feiern, als wäre man selbst mit jener Schar ausgezogen,117 ist die Erwähnung des Lebens als Knechte [abede] sowie als Freie [bene chorin] integraler Bestandteil dieser Feier.

Die zweite für unsere Frage relevante Stelle steht vor dem Schlussgebet und einigen populären Liedern, die auch den Kindern das Wachbleiben während dieser Nacht erleichtern sollen. Sie lautet:

    „Das kommende Jahr in Jerusalem!“118

Insofern blieb die Jerusalemsehnsucht über die Jahrtausende hin im jüdischen Volk lebendig. Allerdings als Ausdruck einer religiösen Sehnsucht, nicht im Sinn einer politischen Option als Hauptstadt eines jüdischen Staates. Davon ist noch nicht einmal in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 die Rede, obwohl andererseits die Kämpfe des Unabhängigkeitskrieges um einen Zugang – wenigstens zu Westjerusalem gingen, das seit dem 19. Jh. außerhalb der historischen Stadtmauer entstanden war.

3.4    Ein berührendes Zeugnis für Jerusalemliebe

Mehr oder weniger zufällig gelangte ich in den Besitz einiger Briefe eines entweder slowakisch-österreichischen (denn er spricht in einem der Briefe von einem_Pressburger Schulkollegen“) oder Siebenbürger Juden. Diese Briefe sind in der früher gebräuchlichen deutschen Schrift abgefasst und konnten daher von den Nachkommen des Briefschreibers nicht gelesen werden. Da ich die Schrift im ersten Schuljahr noch gelernt hatte, wurde ich um Hilfe gebeten.

Der Absender nennt sich:

    Selig Grünfeld

    aus Marosvasarhely

    in Jerusalem

    Siebenbürgerhause

Der erste Brief ist vom 8. Cheschvan 1917 datiert. Selig Grünfeld war anscheinend noch vor Ausbruch des 1.Weltkriegs zu einer Pilgerreise ins damals noch osmanische Jerusalem aufgebrochen; aus dem Briefinhalt lässt sich allerdings erschließen, dass er und seine Angehörigen vom Ausbruch des Krieges überrascht wurden.  Er schreibt an seine Frau und Kinder:119

    „Liebe, gute Chaje und teure, herzige Kinder,

    Dein liebes Schreiben erhalten in dem Du mir den guten und wohlgemeinten Rat erteilst. dass ich soll jetzt während der bedrängenden Zeit zu Euch kommen soll, Du weißt, meine Liebe, dass ich immer Deinem Willen nachgekommen bin, jetzt aber kann ich Deinem Rat nicht Folge leisten, denn es ist bei mir so bestimmt der Entschluss bei meinem Fortkommen gefasst worden, das heilige Land, wenn auch auf kurze Zeit, nicht zu verlassen, und überhaupt laut meiner Körperschwäche und Gebrechen kann ich eine solche Reise zu Land, die 5-6 Wochen dauern kann, nicht mitmachen.“

Anscheinend ist sein Gesundheitszustand nicht der beste; aber nicht dies allein ist der Grund, warum er der Bitte seiner Frau, zurückzukommen, nicht folgt, sondern er hatte bereits bei seinem Aufbruch nach Jerusalem (ohne Wissen seiner Familie?) den Entschluss gefasst, das „heilige Land, wenn auch auf kurze Zeit, nicht zu verlassen“.

Auch seine Frau hatte er anscheinend nicht verlassen wollen; sondern lebte in der Hoffnung, dass sie ihm folgen werde, sobald die Töchter verheiratet sind. Dies geht aus dem übernächsten Absatz dieses Briefes hervor:

    „Liebe, teure Mutter, wenn ich auch Deinen Rat nicht befolgen kann, machte [der]selbe auf mir [= mich] einen besonderen freudigen Eindruck, da Du mir versprichst mitzukommen, meine Teure, wann Du einen aufrichtigen und ernsten Sinn für das heilige Land hast, wird Dir der Vermittler aller Partien der Welt dazu verhelfen unsere lieben, teuren Mädchen mit wie groß[em] Glück auszuheiraten, und wann Du auch irdische Genüsse, die Du dort haben kannst, hier entbehren musst, so wirst Du hier zum Ertrag geistige Genüsse haben, und wirst erst sehen, was Leben und Verlust (?) auf dieser Welt heißt.“

Hier bringt er zum Ausdruck, was der Grund seines Entschlusses ist, den er auch bei seiner Frau voraussetzt: „einen aufrichtigen und ernsten Sinn für das heilige Land“. Ganz sicher scheint er sich allerdings nicht zu sein; er hofft es jedoch.

Er selbst ist ein sehr frommer Jude; denn als er einem späteren Brief zufolge erfährt, dass ihr jüngster Sohn verstorben ist, schreibt er an seine Frau:

    „Liebe Mutter Chaje und liebe herzige Kinder,

    der traurige Bericht vom Ableben unseres jüngsten, lieben Sohnes des Alters hat mich ganz niedergeschmettert; ich war nicht fähig gleich zu schreiben und an Euch Trostworte zu sprechen, da ich selber des Trostes benötigte; nun habe ich mich durch Profeten, Weisensprüche und Talmudstellen so weit gefasst, dass ich an Euch folgendes sagen kann: Unser Schmerz und Verlust ist sehr groß, aber der Wille des himmlischen Richters, dessen Urteile wir nicht verstehen können, war so, und wir als aufrichtige, glaubenstreue Juden dürfen über den Vollzug seiner Urteile, wenn selbe noch so stark schmerzen, nicht murren und tadeln, sondern wissen, dass seine Handlungen gerecht sind. Der Ewige hat gegeben und der Ewige hat genommen, sein Name sei gelobt.“

Wie es ihm weiter erging, ob seine Frau tatsächlich nachgekommen ist, und wie lange er selbst nach diesen Briefen noch gelebt hat, ist mir nicht bekannt. Die Briefe sind mir aber ein beredtes Beispiel für eine religiös motivierte Jerusalem-Liebe. Vor allem auch, wenn man die damalige Zeit bedenkt: Cheschwan 1517 entspricht etwa November 1917; damals war das Osmanische Reich praktisch schon zerfallen und die Verhältnisse in Jerusalem keineswegs optimal.

Vor allem aber war weder die Gründung eines Staates Israel noch Jerusalem als dessen Hauptstadt im Blick. Dies waren für ihn wohl aber auch keine ausschlaggebenden Gesichtspunkte, sondern das Leben an dem Ort biblischer Geschichte des Volkes Israel.

4.    Konsequenzen für die heutige Diskussion

Die Aussage, Jerusalem sei die „ewige Hauptstadt Israels“ ist eine rein politische Aussage, die sich jedoch weder aus der biblischen noch aus der religiösen jüdischen Tradition begründen lässt. Sie kann dennoch als politisches Ziel vertreten werden; aber man muss sich dabei bewusst bleiben, auf welchem Terrain man sich damit bewegt.

Christen wie Juden sollten sich aufgrund der Geschichte, die Jerusalem in der jahrhundertelangen Tradition des jüdischen Volkes spielte, aber auch aus Treue zur Bibel, der Grundlage ihres Glaubens, davor hüten, daraus eine religiös begründete Forderung zu machen. Dies würde einen Missbrauch biblischer Zeugnisse zu politischen Zwecken und eine Ideologisierung bedeuten. Gegen die es sich aus Glaubensgründen zu wehren gilt.

Nicht einmal Ps 137,5 f. wird im Talmud in dieser Richtung ausgelegt; sondern der geradezu beschwörend klingende Satz,   

„5 Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. 6 Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein“,

wird in BB 60b als Beleg dafür angeführt, dass sich eine Frau nicht an den Schläfen schminken darf.120

Es gibt genügend geschichtliche Gründe, die Existenz eines jüdischen Staates zu rechtfertigen. Die NS-Judenverfolgung war nicht die erste in der Geschichte. Der Zionismus entstand im zaristischen Russland aufgrund dortiger Pogrome. Im Mittelalter wurden die Juden für alles mögliche Unheil verantwortlich gemacht, oft auch verfolgt, um sich an ihrem Hab und Gut zu bereichern. Auch die Anknüpfung an die geschichtliche Vergangenheit ist verständlich. So beginnt auch die Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1948:

    „Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig, Hier schuf es eine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das Ewige Buch der Bücher. Durch Gewalt vertrieben, blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden. Nie wich seine Hoffnung. Nie verstummte sein Gebet um Heimkehr und Freiheit.“

Aber bei aufmerksamer Lektüre wird man feststellen, dass weder die Gründung des Staates noch Jerusalem als Hauptstadt religiös begründet werden.

1 Deutscher Übersetzungsdienst, Vereinte Nationen, New York Februar 1993: RESOLUTION DER GENERALVERSAMMLUNG verabschiedet am 29. November 1947
2 Ebd.
3https://de.wikipedia.org/wiki/Jerusalemgesetz
4 Ebd.
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Israel aktuell, April/Mai 2017, Dossier: Zum 50. Jahrestag der Wiedervereinigung: Jerusalem, Stadt des Herrn und Brennpunkt der Geschichte
8https://de.wikipedia.org/wiki/Tempelberg (Stand: 16. April 2017)
9https://de.wikipedia.org/wiki/Waqf-Behörde_Jerusalem (Stand: 16. April 2017)
10 ISRAEL heute 17/04/16
11 Ebd.
12[Übers.] Selig Bamberger, Raschi-Kommentar zum Pentateuch, Victor Goldschmidt Verlag, Basel 31975, S. 34.
13[Übers.] August Wünsche, Der Midrasch Bereschit Rabba, Verlag Otto Schulze, Leipzig 1881, Par. XLIII, S. 199
14 Ebd.
15 Die Tochter Tyrus kommt mit Geschenken; die Reichen im Volk suchen deine Gunst.
16 Dein Silber ist Schlacke geworden und dein Wein mit Wasser verfälscht.
17 BerR, Wünsche, a.a.O., S. 270
18 Max Küchler, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, S. 2
19https://de.wikipedia.org/wiki/Ächtungstext (Stand: 18. April 2017)
20 Hans Wilhelm Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth (ATD 9), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1953, S. 152
21 Hertzberg, a.a.O., S. 216, (re)konstruiert daraus folgende Situation: „Der Text macht es wahrscheinlicher, dass die kühnen Besteiger den Abhang von außen emporstürmten, die Wache überwältigten und sich so in den den Besitz des Eingangs zum Schacht setzten […], als wenn sie innen den Schacht hinaufgestiegen wären, was ohnehin kaum möglich ist.“ – Diese Annahme hat weder in Texten noch in archäologischen Hinweisen einen Anhalt.
22[Übers.] Leopold Zunz, Die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift nach dem masoretischen Text, zweisprachige Neuausgabe, Sinai Verlag, Tel-Aviv 1997, S. 580
23 Martin Buber/Franz Rosenzweig, Die Bücher der Geschichte, Verlag Jakob Hegner, Köln & Olten 1955, S. 260
24 Naftali Herz Tur-Sinai, (Torczyner), Die Heilige Schrift, Hänssler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart 1993, S. 518.
25 Ludwig Köhler/Walter Baumgärtner, Hebräisches und aramäisches Lexikon zum Alten Testament, 3. Aufl., Brill, Leiden 2004, Bd. I, S. 631
26 Ebd., Bd II, S. 972
27[An dieser Stelle gibt der Autor den Text im hebräischen Original wieder; siehe dazu die pdf-Version]
28 Tur-Sinai, a.a.O., S. 1023
29 Köhler, a.a.O., Bd II, S. 971
30 Ebd., S. 972
31 Siegfried Herrmann, Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Chr. Kaiser Verlag, München 1973, S. 318
32 Ebd., S. 318 f.
33 Küchler, a.a.O., S. 3
34 Ebd., S. 4
35 Ebd., S. 28
36 Ebd.
37 Ebd.
38 Hertzberg, a.a.O., S. 216
39[Hrsg.] Otto Betz u.a.; Calwer Bibellexikon, Calwer Verlag, Stuttgart 2003, Bd. I, S. 237
40 Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, [Übers.] Heinrich Clementz, Fourier Verlag, Wiesbaden 51983, S. 402
41 Vgl. Walter Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1961, S. 83
42 Vgl. Str.-Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 3. Aufl., C.H. Beck, München 1961, Bd II, S. 116
43 Vgl. Hans Maaß, Bibelstellenregister zum Talmud und den Qumrantexten, Hans Thoma Verlag, Karlsruhe 2014
44 Walter Schmithals, Das Evangelium nach Lukas, Zürcher Bibelkommentare, NT 3.1, Theologischer Verlag, Zürich 1980, S. 38
45 Hans Klein, Das Lukasevangelium, KEK I/3, (10.) 1.Aufl., Vandenhoeck &Ruprecht, Göttingen 2006, S. 137
46[An dieser Stelle gibt der Autor das griechische und hebräische Original wieder; siehe hierzu die pdf-Version]
47[Hrsg.] Josef Blank, Meliton von Sardes, Vom Passa, Lambertus Verlag, Freiburg 1963, S. 127
48 Zu Einzelheiten dieser Regelung vgl. Hans Maaß, Qumran. Texte kontra Phantasien, Calwer Verlag, Stuttgart 1994, S. 156 f.
49 Israel aktuell, April/Mai 2017 Dossier
50 Ebd., S. 5
51 In Gal 2 bezieht sich Paulus auf das sog. „Apostelkonzil“, von dem auch Apg. 15 erzählt. Dies muss im Jahr 49 stattgefunden haben. Nach Gal 1 und 2 war Paulus nach seinem durch eine Vision ausgelösten Berufungserlebnis zweimal in Jerusalem. Nach Gal 1,18 erfolgte dies drei Jahre nach seiner Berufungsvision. In 2,1 schreibt er: „Danach, vierzehn Jahre später, zog ich abermals hinauf nach Jerusalem mit Barnabas und nahm auch Titus mit mir.“ Umstritten ist, von welchem Zeitpunkt aus diese vierzehn Jahre gerechnet sind: von seinem ersten Jerusalembesuch aus oder ab seiner Berufung. Je nachdem kommt man auf einen Zeitraum von 14 oder 17 Jahren, also etwa in das Jahr 32 oder 35 unserer Zeitrechnung.
52[Hrsg.] Heinrich Kraft, Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte, Kösel-Verlag, München 1961, S. 117 f. (KG II,1,2 f.)
53 Ebd., II,1,4 f.
54 Hans Maaß, Bibelstellenregister zum Talmud und den Qumrantexten, Hans Thoma Verlag, Karlsruhe 2014
55 Str.-Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 3. Aufl., C.H. Beck, München 1961, Bd IV.2
56 Jaacov Lavy, Langenscheidts Handwörterbuch Deutsch-Hebräisch, Langenscheidt Verlag, Berlin 1980, S.323
57 Vgl. ebd.
58[Hrsg.] Otto Betz u.a.; Calwer Bibellexikon, Calwer Verlag, Stuttgart 2003, Bd. II, S. 1504
59 Ebd.
60 Goldschmidt III, S. 616
61 Goldschmidt II, S. 162 f.
62[Hrsg.] Ernst Müller, Der Sohar, Das heilige Buch der Kabbala, Eugen Diederichs Verlag, Köln 21984, S. 44 f. (Aus II, fol. 220b-221a; 222a und b) – Pronomina, die sich auf Gott beziehen, sind mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben.
63 Tur-Sinai, (Torczyner), a.a.O., S. 1026
64 Goldschmidt I, S. 27
65 Goldschmidt IX, S. 40
66 Tur-Sinai (Torczyner), a.a.O., S.1026
67 Hans-Joachim Kraus, Psalmen I (BK XV/1), Neukirchener Verlag, Neukirchen Kreis Moers 1960, S. 339
68 Goldschmidt VIII, S. 10, Anm. 82: „Die Gesetzeskunde durch die Ermordung der Gelehrten.“
69 Goldschmidt VIII, S. 10, Anm. 84: „Dem Tempel.“
70 Goldschmidt VIII, S. 10, Anm. 86.
71 Goldschmidt VIII, S. 10, Anm. 88: „Darunter werden die Ältesten verstanden.“
72 Es handelt sich wohl um Antimonit (Stibnit), ein „bleigraues, metallisch glänzendes Mineral“ (vgl. Der neue Brockhaus, Bd I, Wiesbaden 1958, S. 90). Dadurch entstand ein ornamentaler, farblicher Kontrast.
73 Wie dies vorzustellen ist, kann man an den großen Quadern im jetzt unterirdischen Teil der alten Tempelmauer hinter dem Wilsonbogen sehen. Jede Quaderreihe ist im Vergleich zur darunterliegenden etwa 2 cm zurückversetzt.
74 Goldschmidt III, S. 397; fast wörtlich gleich BB 4 a; Goldschmidt VIII, S. 11
75 Goldschmidt I, S. 287
76 Unmittelbar vorher wird den Abtrünnigen Ber 63a vorgeworfen, dass sie „außerhalb des Landes“ z.B. Schaltjahre eingeführt und Monatslängen verändert hätten.
77 Goldschmidt I, S. 433, Anm. 1: „… Das Land war in 24 Standbezirke geteilt, die Vertreter zum Tempeldienst in jerusalem entsandten …“
78 Goldschmidt I, S. 433
79 Goldschmidt II, S. 587
80 Str.-Billerbeck, a.a.O., Bd I, S. 988 f.
81 Joma 12a, Goldschmidt III, S. 30
82 Goldschmidt, ebd., Anm. 207: „Auch Bet- und Lehrhäuser.“
83 Goldschmidt III, S. 30
84 Goldschmidt IV, S. 107, Anm. 10: „[chaphaph] kratzen, reiben, als Zeichen des Missbehagens. – Dass Goldschmidt jedoch im biblischen Zitat das Verb mit „beschirmt“ übersetzt, hängt damit zusammen, dass es sich von zwei Wurzeln her erklären lässt, und zwar von [chaphah] = verhüllen, sowie von [chaph] = sauber (im Sinne von abgerieben). Vgl. Köhler, a.a.O., Bd I, S. 325 f.
85 Goldschmidt IV, S. 107, Anm. 11: „In seinem Gebiet stand die Bundeslade; nach dieser Lehre gehörte Jerusalem den Stämmen Jehuda und Binjamin.“
86 Goldschmidt IV, S. 107, Anm. 12: „Die Wallfahrer hatten in J. freie Wohnung.“
87[An dieser Stelle gibt der Autor das hebräische Original wieder; siehe hierzu die pdf-Version]
88 Goldschmidt IV, S. 107
89 Goldschmidt VII, S. 277, Anm. 379: „Falls der Verkäufer es am Schluss des Jahres nicht einlöst; cf. Lev 25,29 ff. 29 Wer ein Wohnhaus verkauft in einer Stadt mit Mauern, der hat ein ganzes Jahr Frist, es wieder einzulösen. Das soll die Zeit sein, darin er es einlösen kann. 30 Wenn er's aber nicht einlöst, ehe das ganze Jahr um ist, so soll es der Käufer für immer behalten und seine Nachkommen, und es soll nicht frei werden im Erlassjahr.“
90 Goldschmidt VII, S. 277, Anm. 380: „Das eine Stadt, in deren Nähe ein Erschlagener gefunden wird, zu bringen hat; cf. Dtn 21,1 ff.
91 Goldschmidt VII, S. 277, Anm. 381: „Wenn es sich zum Götzendienst verleiten lässt; cf. Dtn 13,13 ff.“ „… 16 so sollst du die Bürger dieser Stadt erschlagen mit der Schärfe des Schwerts und an ihr den Bann vollstrecken, an allem, was darin ist, auch an ihrem Vieh, mit der Schärfe des Schwerts. …“
92 Goldschmidt VII, S. 277, Anm. 382: „Cf. Lev 14,34 ff.“ – Nach den detaillierten Beschreibungen in Lev 14 zufolge handelt es sich beim „Häuseraussatz“ um Schimmel- oder anderen Pilzbefall.
93 Goldschmidt VII, S. 277
94 Goldschmidt VII, S. 277, Anm. 387: „Wenn sich auf der Erde ein levitisch verunreinigender Gegenstand befindet, so gilt der über diesem hervorragende Vorsprung als Zelt, u. wer sich unter diesem befindet, ist unrein.“
95 Goldschmidt VII, S. 278, Anm. 388: „Durch das Düngen derselben.“
96 Goldschmidt VII, S. 278, Anm. 389: „Die Hühner würden levit. unreine Dinge aufwühlen.“
97 Goldschmidt VII, S. 278, Anm. 390: „Der Grund ist unbekannt.“
98 Str.-Billerbeck, a.a.O., Bd IV,1, S. 41 ff.
99 Ebd., S. 42
100 Str.-Billerbeck, a.a.O., Bd. II, S. 710
101 Str.-Billerbeck, a.a.O., Bd. IV.1, S. 42
102 Im Original fehlt der Ortsname.
103 Flavius Josephus, De Bello Judaico, Der Jüdische Krieg, [Übers.] Otto Michel/Otto Bauernfeind, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1959, Bd. II,2, S. 73 ff.  (VI,3.420 ff.)
104[Übers./erkl.] Dagmar Börner-Klein, Der Midrasch zu Sifre Numeri, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1997, S. 111, Anm. 91: „Vgl. Dtn 14,24.“
105 Ebd., S. 111
106 Ebd., Anm. 93: „Nach V. 32: Von dem Tor des Vorhofs nach außen.“ <a name="fn_Hier muss es sich um eine fehlerhafte Stellenangabe handeln, denn Kap 9 hat nur 23 Verse. Dieser Vers bezieht sich jedoch auf das Lagern bzw. Aufbrechen je nach Wahrnehmung der Wolkensäule. Auch Dtn 14,32 kann nicht gemeint sein, weil dieses Kap. nur 28 Verse hat.
107 Ebd., S. 112, Anm.95.
108 Str.-Billerbeck, a.a.O., IV,1, S. 42
109 Vgl. dazu auch die oben zitierte Stelle aus dem Sohar.
110 Goldschmidt XII, S. 593, Anm. 27: „Der Stadt Jerusalem.“
111 Goldschmidt XII, S. 593, Anm. 30: „Cf. Lev 13,45.“ Dort steht: „45 Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein!“
112 Goldschmidt XII, S. 593, Anm. 31: „Des Räucherwerkes am Versöhnungstag.“
113 Goldschmidt XII, S. 592 f.
114 [Hrsg.">[Hier muss es sich um eine fehlerhafte Stellenangabe handeln, denn Kap 9 hat nur 23 Verse. Dieser Vers bezieht sich jedoch auf das Lagern bzw. Aufbrechen je nach Wahrnehmung der Wolkensäule. Auch Dtn 14,32 kann nicht gemeint sein, weil dieses Kap. nur 28 Verse hat.
107 Ebd., S. 112, Anm.95.
108 Str.-Billerbeck, a.a.O., IV,1, S. 42
109 Vgl. dazu auch die oben zitierte Stelle aus dem Sohar.
110 Goldschmidt XII, S. 593, Anm. 27: „Der Stadt Jerusalem.“
111 Goldschmidt XII, S. 593, Anm. 30: „Cf. Lev 13,45.“ Dort steht: „45 Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein!“
112 Goldschmidt XII, S. 593, Anm. 31: „Des Räucherwerkes am Versöhnungstag.“
113 Goldschmidt XII, S. 592 f.
114 [Hrsg.] Georg Herlitz/Bruno Kirschner, Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens, 2. Aufl., Athenäun Verlag, Frankfurt/M. 1987, Bd. II, Sp. 1337
115 Vgl. [Übers.] W. Heidenheim, Seder haHaggada, Erzählung von dem Auszuge Israels aus Ägypten (Rödelheimer Haggada), Victor Goldschmidt Verlag, Basel 1981, S. 9
116 Ebd., S. 7
117 Vgl. Ebd., S. 10
118 Ebd., S. 57
119 Teilweise in einem unbeholfenen Stil, der hier nicht geändert wurde.
120 „Eine Frau schmücke sich mit allen kosmetischen Mitteln und lasse etwas zurück. – Was ist dies? Rabh erwiderte: Die Stelle an den Schläfen. Denn es heißt: wenn ich deiner vergesse, Jerusalem, so versage meine Rechte. Es klebe meine Zunge an meinem Gaumen &c.“ Und Goldschmidt VIII, S. 175 f,, Anm. 860 merkt dazu an: „Die sie nicht mit Kalk bestreichen darf. Die Frauen pflegten die Haut mit einem Kalk zu bestreichen, um sie geschmeidig zu machen u. das Haar zu entfernen; cf. Sab. Fol. 80b.“

Editorische Anmerkungen

Hinweis: Auf der Homepage des Autors kann auch die pdf-Version des vorliegenden Textes inklusive der hebräischen und griechischen Originale im Text heruntergeladen werden, hier:
http://www.hans-maass.de/Dokumente/?f=Ewige_Hauptstadt_Israels.pdf.
Hans Maaß, Dr. h.c.; Kirchenrat i.R. der evangelischen Landeskirche in Baden. Er ist evangelischer Theologe und war von 1998 bis 2016 Mitglied im Vorstand des Deutschen Koordinerungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR) sowie Mitglied im Redaktionsteam des vom DKR herausgegebenen "Themenheft".