Erinnerungen an einen Brückenbauer: Schalom Ben-Chorin

Erinnerungen an einen Brückenbauer: Schalom Ben-Chorin

Tobias Raschke

Als Schalom Ben-Chorin am 7. Mai 1999 in Jerusalem 85jährig starb, hoffte er, „dass sich die Religionen näher kommen" insbesondere in der "Hauptstadt der Religionen" - Jerusalem, wo er seit seiner Vertreibung aus Nazi-Deutschland als auf Deutsch schreibender Journalist, Schriftsteller und Religionsphilosoph lebte. Eines hätte er sich wohl nicht träumen lassen: Dass seine umfangreiche Bibliothek eines Tages in seine Geburtsstadt München zurückkehren würde. Ein Bericht von Tobias Raschke.

„Das muss ein Münchner sein“, meinte der 85jährige Religionsphilosoph und Schriftsteller gleich, nachdem ich ihn bei meinem ersten Besuch mit „Grüß Gott“ begrüßt hatte. Zu Beginn des jüdischen Lichterfestes Chanukkah (13. Dezember 1998) hörte ich ihn noch singen, eine wunderschöne Stimme eines ungewöhnlichen Menschen. Der gebürtige Münchner, der sich zwar aus seiner Heimatstadt, nicht aber aus seiner Muttersprache vertreiben ließ, baute mit seinen auf Deutsch verfassten Büchern Brücken. Vor allem mit dem bekannten „Bruder Jesus“ aus der Triologie "Die Heimkehr" stellte er die Verbindungen von Judentum und Christentum klar und zeigte auf, dass sich diese beiden Religionen näher stehen, als den meisten bewusst ist. Bei den letzten Besuchen verspürte der lebenserfahrene „Sohn der Freiheit“ (Ben Chorin) eine tiefe Müdigkeit. Das verwundet nicht, wenn man sich das Lebenswerk ansieht: Er schrieb Gedichte, Artikel, Bücher und hielt bis 1996 dauernd Vorträge. Sein Satz „ich möchte die Augen schließen,“ vor der üblichen Mittagsschlaf war daher nur zu verständlich.

Begründer des Dialogs

Schalom Ben-Chorin und seine Frau Avital gehörten zu den ersten Israelis deutscher Herkunft, die nach der Shoah Deutschland wieder besuchten und so den deutsch-israelischen (Jugend-) Austausch sowie den christlichen-jüdischen begründeten. Für die Aktion Sühnezeichen waren sie zu Beginn der Freiwilligenarbeit ab 1961 Ansprechpartner und Begleiter. “Die Ratgeber, die von der Realität keine Ahnung haben, sind in unserem Fall besonders häufig. Deshalb ist es sehr erfreulich, dass junge Menschen aus Deutschland und der ganzen Welt als Freiwillige hier eine längere Zeit leben und den Alltag kennen lernen“, sagte Ben-Chorin in seinem letzten Interview dazu.
Bei einem Vortrag im September 1998 zu den anstehenden jüdischen Feiertagen Rosh haShana (Neujahrsfest), Yom Kippur (Versöhnungstag) und Sukkot (Laubhüttenfest) lernte ich so Avital Ben-Chorin kenne, die der Aktion Sühnezeichen in Israel seit den Anfängen verbunden ist.

Erste Reformierte Gemeinde

Schon bei ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang sprachen Avital und Schalom Ben-Chorin über eine Erneuerung des Judentums im jüdischen Land. Damit begann die jüdische Reformbewegung, die 1958 mit den beiden zur Gründung der ersten Reform-Synagoge Har-El (Berg Gottes) in Jerusalem führte. „Wir Juden sind ein Rudiment aus einer anderen Zeit, denn Volk und Religion sind eine Einheit. Das ist ebenfalls bei den Drusen so“, erklärt Avital die Schwierigkeiten. In Israel erneuerte sich die hebräische Sprache und Gesellschaft, nur auf dem Gebiet der Religion hat sich nicht viel verändert. „Wir dachten, die Majorität würde unserem Weg folgen.“ Ein gewisser Misserfolg, weil die Mehrheit aus politischen Gründen von der Orthodoxie manipuliert wird, und doch ein Erfolg weil es immer mehr Reformgemeinden in Israel gibt.

Erinnern an ein Menschenleben

Auf seinem letzten Weg auf dem Jerusalemer Friedhof Kfar Schaul begleiteten den „Baumeister des christlich-jüdischen Dialogs“ - wie es der Probst der evangelischen Erlösergemeinde bei der Beerdigung ausdrückte - auch viele Freiwillige. Nach der Beerdigung trauerte die enge Familie sieben Tage lang zu Hause. Zur Shiva kommen Verwandte und Freunde zu Besuch, um gemeinsam zu trauern und Erinnerungen zu teilen. „Wir haben bei der Shiva auch gelacht“ erzählte mir Ben-Chorins Tochter Ariela später, denn mit ihren Schulfreundinnen tauschte sie Geschichten über das jeckische Verhalten Schalom Ben-Chorins aus.

Bibliothek zurück nach München

In München gibt es auf Initiative dieses Autors seit ein paar Jahren eine Ben-Chorin-Straße. Bald gibt es dort ein Stück Jerusalemer Heimat – die zum Teil 1935 von München ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina verschickte - Bibliothek Schalom Ben-Chorins kommt zurück. Im Münchner Stadtarchiv wurde das Bibliothekszimmer aus der Ariel Str. 3, Romema, Jerusalem, wo Schalom Ben-Chorin ab 1937 wohnte, originalgetreu wieder aufgebaut. Auch wenn Avital Ben-Chorin der Abschied nach 66 Jahren mit der Bibliothek schwer fällt, verschenkte sie die Bibliothek und freut sich, dass in Schalom Ben-Chorins Heimatstadt so weiter an den Brückenbauer erinnert wird.

Nahöstlicher Diwan

Begegnungen gehören im Hause Ben-Chorins zum Alltag. Unzählige Gruppen kamen zu Besuch. Avital Ben-Chorin setzt diese Tradition bis heute fort, hält Vorträge in Jerusalem und Deutschland. Sie ist eine robuste junggebliebene Zeitzeugin. Als junge Teenagerin vertrieb sie ein Nazi-Lehrer aus Eisenach. Ihr Vater kämpfte freiwillig im I.Weltkrieg. Die Eltern wurden in Auschwitz ermordet, der Großvater mit Eisernem Kreuz dekoriert verhungerte in Theresienstadt. Seit 1936 lebte sie „als Palästinenserin wie man uns damals im Mandatsgebiet nannte“ im Lande und hielt alle Nahost-Kriege in Jerusalem durch.

Bei Gesprächen plaudert sie munter aus dem Nähkästchen des Nahen Ostens. Nach ihrer Ankunft verbrachte sie vier Jahre im Kinderheim AHAWAH in Kiryat Bialik in der Haifa-Buch, „nicht mitten im Urgestein, sondern im Ursand“ der Dünen von Kiryat Yam. Heute ist der Ort dich besiedelt. Avital und Schalom Ben-Chorin lernten beide Hebräisch. Dank dem „Prinzen Eliezer Ben-Yehuda, der das Dornröschen, das Hebräisch, wach geküsst hat“, wie Avital schmunzelnd berichtet. „Schaloms Hebräisch war perfekt, nur ein deutscher Journalist, der selbst wohl kein Wort verstand, hat mal was von "holprig" geschrieben. Das schreiben ärgerlicherweise alle voneinander ab.“

Nach der UN-Entscheidung 1947 tanzte sie auf der Straße in Freude auf den zu gründenden Staat, „klein aber mein“. „Wir haben den Teilungsplan angenommen, obwohl Palästina damit schon zum zweiten Mal geteilt wurde. An die erste Teilung in Trans- (heutiges Jordanien) und Cis-Jordanien (heutiges Israel und Pal. Autorität) will sich niemand mehr erinnern.“ Wir es jemals Frieden geben? „Wenn es einmal möglich war (vor 1948 und nach 1967), friedlich miteinander zu leben, ist es wieder möglich. Daran glaube ich.“

Das Zimmer kann jeden Mittwoch von 9 bis 12 Uhr oder nach Voranmeldung (089/233-30815) besichtigt werden.
Münchner Stadtarchiv
Winzererstraße 68, 80797 München, Telefon: (089)2330308, Fax: (089)23330830, E-Mail: stadtarchiv@muenchen.de
www.muenchen.de/stadtarchiv
Wegbeschreibung: www.archive-muenchen.de/archive_sm.html

Siehe auch: Schalom Ben-Chorin: Das letzte Interview


Quelle: COMPASS Online-Extra Nr. 103