Hermeneutische Vorbemerkung
Dann weiß er,
es ist noch nicht zuende."[1]
Es ist die Aufgabe eines Theologen, Gottes Heilswirken an der Welt durch Jesus Christus in unserer Gegenwartssituation in einer kognitiv verantwortbaren Weise auszusprechen. Dieses reflektierte Zeugnis ist die orthopraktische Konkretion der christlichen Mission und ist keine dem Glauben äußerlich und zusätzlich beigefügte Aufgabe, sondern ein Impuls, der aus dem Inneren des Glaubens selbst kommt[2] Die christliche Mission stellt sich unter den Anspruch, dass die frohe Botschaft im konkreten Alltag Sinn machen muss, dass sie keine Floskel, sondern Offenbarung ist, die, wenn auch nicht immer lebensverändernd, so doch lebensbejahend sein soll. Damit die christliche Mission sich auf konkrete Alltagssituationen beziehen kann, müssen die Verkündigung und die Theologie kontextuell sein.[3] Der Kontext der Gesellschaft in Deutschland ist in besonderer Weise durch die Erinnerung an Auschwitz[4] geprägt. Auschwitz wirkt als Kontingenzschock, der auch die Theologie bis heute vor eine neue Herausforderung stellt.[5] Johann Baptist Metz’ Satz „Nach Auschwitz darf es eigentlich keinen subjekt- und situationslosen theologischen Tiefsinn mehr geben.“[6] bekommt angesichts der Relevanz von Auschwitz für die deutsche Geschichte seine Gültigkeit.
Für die Theologie nach Auschwitz besitzt die grausame Realität der Shoah[7] eine einzigartige Relevanz. Dabei soll mit dem Verweis auf die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Genozids kein Vergleich mit anderen Genoziden gezogen werden. Das wäre eine Pervertierung und Sinnentleerung einer angemessenen Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Kontext. Aus kontextuell-theologischer Perspektive betrachtet ist der nationalsozialistische Genozid nicht in seiner Brutalität einzigartig, seine Singularität bezieht sich auf seine Kontextualisierung in einer modernen und scheinbar christlich kultivierten Gesellschaft.
Angesichts der Katastrophe der Shoah stellt es eine zentrale Herausforderung an die Theologie dar, die Wirkungsgeschichte christlicher Theologie zu untersuchen. Das bedeutet zu erforschen, inwieweit theologisches Denken das Handeln der Christen in der Shoah beeinflusst bzw. gegebenenfalls sogar ermöglicht hat. Daran anknüpfend kann im Sinne einer gefährlichen Erinnerung reflektiert werden, in welcher Weise gegenwärtige Theologie das Handeln der Christen heute beeinflusst oder nicht beeinflusst.
Die Shoah stellt sowohl mit Blick auf die mögliche Erosion von Humanität in einer Gesellschaft als auch mit Blick auf die Negation jeglicher christlicher Werte und Haltungen eine erschreckende Realität dar. Einen bruchstückhaften Eindruck in die Realität der Shoah mag eine Zeugenaussage von S. Szmaglewska geben. Szmagleweska war eine polnische Wärterin in Auschwitz, wo alleine im August 1944 etwa 400000 ungarische Juden in den fünf Gaskammern von Auschwitz ermordet worden sind.[8] Dokumentiert ist von Szmagleweska folgende Aussage in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen:
Zeugin: ...Frauen, die Kinder trugen, wurden [immer] mit ihnen ins Krematorium geschickt. [Kinder hatten keinen Lebenswert und die Mütter wurden mit geschickt, um Panik zu vermeiden und den reibungslosen Ablauf der Vernichtung nicht zu gefährden.] Die Kinder wurden dann außerhalb des Krematoriums von ihren Eltern weggerissen und getrennt zu den Gaskammern geschickt. [Auch diese Entscheidung aus logistischen Erwäggründen. So konnten Kinder noch auf die Köpfe der Erwachsenen geworfen werden, wenn diese bereits in der Gaskammer standen.] Als die Vernichtung der Juden auf dem Höhepunkt war, wurden Befehle ausgegeben, daß Kinder direkt in die Brennöfen der Krematorien geworfen werden sollten, oder in eine Grube in der Nähe des Krematoriums, ohne zuerst vergast zu werden.
Smirnov (russischer Ankläger): Wie soll ich das verstehen? Warfen sie sie lebendig ins Feuer, oder töteten sie sie zuerst?
Zeugin: Sie warfen sie lebendig hinein. Ihre Schreie konnten im Lager gehört werden. Es ist schwierig zu sagen, wie viele Kinder auf diese Weise vernichtet wurden.
Smirnov: Warum taten sie das?
Zeugin: Das ist schwer zu sagen. Wir wissen nicht, ob sie Gas sparen wollten, oder ob es so war, weil nicht genug Platz in den Gaskammern war.[9]
Die Tatsache, dass Menschen zu einem solchen Verhalten fähig sind, ist erschreckend genug. In besonderer Weise stellt es aber für die christliche Religion eine einzigartige Tragödie dar, dass die historische Katastrophe der Shoah sich in einem christlichen Kontext ereignen konnte.
Der Satz „Nicht alle Christen waren Mörder, aber alle Mörder waren Christen.“ (McAfee Brown) verschweigt in seiner Verallgemeinerung den Widerstand zahlreicher Christen, stellt aber die Frage nach christlicher Schuld und Verantwortung.
„Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum.“[10] Mit diesem pointierten Schreckensszenario zieht Elie Wiesel Bilanz aus dem Versagen der Christen im Angesicht der Shoah.
„Wenn die Opfer mein Problem sind – die Mörder sind es nicht! Die Mörder sind das Problem anderer, nicht das meinige. Falls ich versuchen könnte zu verstehen – aber das wird mir nie gelingen –, weshalb mein Volk zum Opfer wurde, so werden andere Leute verstehen müssen, oder den Versuch machen müssen zu verstehen, warum die Mörder Christen – sicher schlechte Christen, aber doch Christen – waren.“[11]
Die Glaubwürdigkeit einer ganzen Religion steht auf dem Spiel.[12] Denn es kann nicht möglich sein, gleichzeitig Christ und Antisemit zu sein, gleichzeitig Gott zu loben und den Menschen[13] zu hassen. Dann beraubt sich das Christentum seines grundlegenden Wesenszugs „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ – und zerstört sich selbst.[14]
In diesem Sinne ist „Auschwitz“ in dieser Arbeit gemeint und stellt damit Ringen und Untersuchung dar.
Einleitung
"Niemand
zeugt für den
Zeugen".[15]
„Niemand / zeugt für den / Zeugen" so lauten die Schlusszeilen von Paul Celans Gedicht „Aschenglorie".[16] Sie scheinen die Antwort zu geben auf die angstvolle Frage, die immer mehr in das Bewusstsein der Deutschen vordringt: Wie geht es weiter mit der Erinnerung an die Shoah, wenn die, die sie erlebt haben, sterben?[17] Behalten dann diejenigen Recht, die von Anfang an das systematische Ermorden verheimlichen und verstecken wollten? Bekommen dann die Gehör, die – der Erinnerung müde – das Vergessen propagieren? Wer wird die Erinnerung an die Shoah übernehmen, wenn die Zeitzeugen dies nicht mehr können?
2.1 Thesen und Fragestellungen
Noch sind es die ersten und letzten Zeugen selber, die versuchen, das Unaussprechliche auszusprechen. In ihrem Stammeln, in den Ungereimtheiten, in dem sehr subjektiven, oft sogar nicht historisierbaren Erleben geben sie Aufschluss über eine Zeit, die notwendig zum Selbstbewusstsein des Menschen gehören muss. Sie muss dazu gehören, weil sie in ihrem extremen Ausmaß über vorstellbare Grenzen des Menschseins hinausgegangen ist und es so von Grund auf in Frage stellt. Neben dieser Frage erlebt die Erinnerung an die Shoah eine weitere Herausforderung, eine erinnerungspolitische Neujustierung im Rahmen der „Globalisierung des Holocaust“.[18] Wie kann der Holocaust 70 Jahre nach der Shoah erinnert, transformiert und historisiert werden, ohne dass er instrumentalisiert wird, um im Kontext geopolitischer Konflikte eigene politische Interessen zu rechtfertigen? Ebenso wie im nationalen Rahmen lässt sich auch mit Blick auf die Globalisierung des Holocausts eine Deutungsmacht feststellen, die die Erinnerung an den Holocaust als Legitimierung weltgesellschaftlicher Interventionspolitiken missbraucht.[19]
Die Erinnerung an die Shoah ist wesentlich für die Kultur[20] und in ihrer spezifisch jüdisch-christlichen Ausrichtung wesentlich für die am Menschen ausgerichtete Kultur der Solidarität.[21] Doch was passiert, wenn diese Zeitzeugen sterben? Der Historiker Saul Friedländer fasst nüchtern zusammen:
„Die Gruppe der Menschen, die sich daran erinnern können, wird bald fort sein – ich auch. Das wird noch ein paar Jahre dauern, aber dann ist Schluß. […] Aber meine Altersgruppe erinnert sich noch an die Ereignisse, an den Krieg und den Holocaust. Die Angehörigen dieser Gruppe sind, wie ich auch, schon Mitte 70, das heißt, in ein paar Jahren wird es keine Überlebenden mehr geben. Und wie es sich dann entwickelt, weiß niemand. Es kann wohl sein, daß mit der Zeit das Interesse an diesem Thema verschwindet. Man wird es als etwas sehen, das ganz weit weg ist. Das ist vielleicht schmerzlich – für jemanden wie mich und für meine Altersgruppe –, aber nicht zu vermeiden.“[22]
„Niemand / zeugt für den / Zeugen“ – Wie ist dieser Vers zu verstehen?[23] Als düstere Prognose kann Celans Aussage im Kontext der Erinnerungsarbeit zweifach verstanden werden:
Zum einen, ganz naheliegend und Anklang findend an Friedländer, kann sie gelesen werden als hoffnungslose Angstbilanz einer Zukunft, die eine Zeitzeugenschaft ohne Zeitzeugen in den Blick nimmt. Bald wird es keine Zeugen mehr geben, selbst die jüdische Erinnerung als authentischste, längste und dauerhafteste, wird es in ein paar Jahren direkt nicht mehr geben. Das persönliche Gedächtnis wird versiegt sein. Das kollektive Bewusstsein[24], das konkrete Wissen um die Shoah als gemeinsamer Nenner eines im allgemeinen Bewusstsein verankerten und aktuell geteilten Wissens, wird sich qualitativ verändern, wenn die Quelle der Erinnerung nicht lebendig und konkret ist. Das Erlebnis mit existentiellem Inhalt und subjektiver Eigenheit hört auf zu existieren, weil die Zeugen verschwinden. Die Frage, die bleibt, lautet: Wie kann die Erinnerung an die Vernichtung lebendig gehalten werden? Oder wie der italienische Schriftsteller Primo Levi fragte: „Wer der Zeuge der Zeugen sein werde – wer es, auch weiterhin, auf sich nehme, die Tragödie des Genozids für die Zukunft zu vergegenwärtigen.“[25].
Gelesen werden kann Paul Celans Vers zum anderen auch als historische Krise einer Zeugenschaft, die sich selbst ad absurdum führt. Ein Zeuge übernimmt Verantwortung für die Wahrheit eines zweiten oder dritten. Er steht ein, in Celans Vers oder allgemein, für etwas anderes, für das Eingedenken des Schicksals anderer und für ein Geschehen, das sonst vergessen oder verdrängt werden würde. Seine Person, sein Wort wird nun zum Wirklichkeitsgaranten einer Realität, die er selbst erlebt hat, deren Existenz aber von außen angezweifelt wird.[26] Laut Maurice Blanchot ist die Shoah nun ein „Ereignis ohne Zeugen", das heißt ein Ereignis, das in seiner Unaussprechlichkeit eben eine solche als Folge hat, das geschichtliche Ereignis stellt die Möglichkeit einer Zeugenschaft radikal in Frage.[27]
Denn entweder sind die, die es erlebt haben, ermordet worden oder aber so traumatisiert, dass sie nicht erinnern können, weil ein erneutes Erleben selbst als Erinnerung zu schmerzhaft, ja lebensbedrohlich wäre. Kann also eine „Ethik der Erinnerung“.[28] überhaupt gefordert werden? Oder wird nicht sowohl eine primäre, als auch oder besonders eine sekundäre Erinnerung durch die Feststellung „Niemand zeugt für den Zeugen.“ unmöglich gemacht? Denn auch eine sekundäre Zeugenschaft birgt viele Gefahren. Losgelöst von der Unmittelbarkeit des Opfers wächst die Freiheit des Erzählers und des Erzählten. Letztendlich besteht immer die Gefahr, dass die Shoah zur Metapher erstarrt und verkümmert. Dann stellt die Shoah einen Genozid neben vielen anderen auf dieser Welt dar. Auch wenn dadurch eine globalisierte Erinnerung und dadurch eine über die nationalen Grenzen hinweg diese überdauernde Erinnerung gewährleistet werden könnte, würde die Shoah dadurch nicht ihre Singularität und ihre Unvergleichlichkeit verlieren? Dazu kommt die Frage, ob es stellvertretendes Gedenken überhaupt geben kann? Oder sind es bestimmte „traurige Vorrechte"[29], wie Jean Améry es beschreibt, die ein exklusives Erinnerungsrecht fordern?
Ob es sich hier um eine wie gerade beschrieben grundsätzliche oder um eine mit dem Tod der Zeitzeugen noch zu erwartende Krise handelt, wird zu prüfen sein und ist insofern in Bezug auf das vorliegende Erkenntnisinteresse zunächst sekundär. Wichtig für diese Arbeit ist die Fragestellung, inwiefern das Gelingen einer potentiellen Zeugenschaft und die Möglichkeit, eine adäquate Erinnerungssprache zu finden, von dem Modus der Zeugenschaft[30] und vom Zeugen selbst abhängig sind.[31]
Diese Arbeit stellt die Frage, inwiefern der Christ in vielfacher Verantwortung steht, diese Aufgabe wahrzunehmen, und damit hilft, einer erneuten Vernichtung (als zweiten oder dritten Shoah des Vergessens oder der Sprachlosigkeit)[32]. entgegenzuwirken. Diese Zeugenschaft muss als Dialog, als dialogischer Appell an die Verantwortung gedacht werden. Keine wissende rückwärts gerichtete Beschreibung ist hier erwünscht, sondern eher eine gebrochene, sprachlich brüchige „Gegen-Erinnerung“[33], die aus der Zeit fällt.
Damit begibt sich die Arbeit auf dünnen Boden: Zum einen droht die Gefahr einer unbewussten Instrumentalisierung. Steht die Glaubwürdigkeit der eigenen Religion auf dem Spiel und nutzt die Erinnerung an die Shoah ihrer Wiedererlangung, dann wird die Erinnerung zum Werkzeug für Eigenzwecke und damit instrumentalisiert. Angelehnt an Martin Walser kann z. B. dann der Vorwurf formuliert werden, man hielte die Schande hoch, um sich „im grausamen Erinnerungsdienst“ eine billige höhere Moralität an der Seite der Opfer zu erschleichen.[34] Das würde jede Erinnerung an den Holocaust gefährden.
Zum anderen muss sich der Christ mit der Sorge jüdischerseits konfrontiert wissen, „die christliches Interesse für das Judentum als Eingriff, Einmischung und Aneignung fürchtet."[35] Diesen Gefahren muss Rechnung getragen werden, stellt aber nicht das Anliegen der Arbeit in Frage. Denn kritisiert wird hier ein bestimmter usurpatorischer Umgangston, der in der Vergangenheit das Verhältnis des Christentums zum Judentum oft bestimmt hat, nicht die Beziehung an sich.
Als Christ ist jeder Mensch in Deutschland in dreifacher Weise verantwortlich, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei."[36], als Deutscher[37], als Christ[38], als Mensch[39]. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht das Christsein in seinen gelebten fundamentaltheologischen Kategorien[40], Erinnern, Erzählen, Solidarität.
Das Christentum ist von seiner religiösen Natur aus Erinnerungskultur.[41] Erinnert wird an Gottes Heilshandeln an dem Menschen (Exodus) und an Jesus Christus (Auferstehung), um hier zwei Eckpfeiler zu benennen. Und nur als Erinnerung ist das Christentum lebendig und authentisch.
Die christliche Erinnerungskultur als gefährliche Erinnerung[42], die den Gläubigen zwingt Position zu beziehen, ist notwendig als Dialog zu verstehen und auf Interaktion angewiesen. Hier könnte die sekundäre bzw. tertiäre Zeugenschaft ihren Platz erhalten und glaubwürdig für eine Verantwortung[43] einstehen, die jeder Christ stellvertretend übernimmt, um das damals Unterlassene nicht zu vergessen und sein kritisch-befreiendes Potential für die Zukunft zu nutzen, denn ohne Erinnerung gibt es keine Hoffnung auf Veränderung. Denn in diesem Sinne ist „Erinnerung […] die Amme der Hoffnung."[44]
Papst Franziskus bezeichnet den Gläubigen als „Erinnerungsmenschen“.[45] Zu prüfen wird sein, ob und wie die Erinnerung als theologische Basiskategorie, mit der ein Verstehen des Christentums erst möglich gemacht wird, neu entfaltet werden und als christliche Kardinaltugend ihren Platz neben Glaube, Hoffnung, Liebe (wieder-) erhalten muss.
Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Ideologie ist es schwierig und nicht unproblematisch, mit dem Begriff Tugend zu hantieren. Das Wort ist von den Nationalsozialisten derart missbraucht worden, dass eine neutrale Verwendung nicht mehr möglich ist. Hier ist mit dem Begriff Tugend die christliche Kardinaltugend gemeint, die sich aus dem christlichen Glauben selbst generiert und symptomatisch für diesen und seine Glaubwürdigkeit zeugt.
Eine christliche Erinnerungskultur hat wesentlich missionarischen Charakter. Mission bedeutet im Dialog mit anderen Religionen den eigenen Glauben in den Herausforderungen der Gegenwart zu erfahren, zu bezeugen und zu bewahren. Angesichts der Einzigartigkeit der Katastrophe der Shoah in der christlich-jüdischen Beziehung stellt es eine präzedenzlose missionarische Herausforderung dar, den christlichen Glauben nach Auschwitz und in Verantwortung vor dem Judentum angemessen zu erfahren, zu bezeugen und zu bewahren. Wie der Christ dieser Herausforderung begegnen kann und sollte, wird in dieser Arbeit in der Ausgestaltung und Entfaltung einer christlichen Erinnerungskultur beschrieben.
2.2 Inhaltliche Gestaltung
Diese Arbeit stellt einen Beitrag zur Missionswissenschaft dar. Die Missionswissenschaft steht dabei vor der spezifischen Herausforderung, als transversale Wissenschaft unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen in sich zu integrieren. So tauchen neben Fragen aus der Religionswissenschaft und der Praktischen Theologie viele fundamentaltheologische Fragen auf. Aber das Hauptziel dieser Arbeit ist ein missionswissenschaftliches, einen Beitrag zu leisten für einen zeitgemäßen jüdisch-christlichen Dialog, in dem das christliche Zeugnis den Mittelpunkt von Mission beschreibt und dabei zur Ermutigung und nicht zur Irritation führt. Somit fühlt sie sich gleichsam dem Ende jeder Substitutions-, und Verdrängungstheorie und dem Beginn einer christlich-jüdischen Ökumene verpflichtet.
„Was in dieser Shoah geschah, fordert nämlich nicht nur eine Revision des historischen Verhältnisses zwischen Christen und Juden […], sondern die konkrete Einsicht in die glaubensgeschichtliche Abhängigkeit von den Juden, weil sich Christen in ihrer Identität nicht mehr ohne sie oder gar gegen sie verstehen und definieren dürfen. Daran wäre schließlich der Ernst einer christlich-jüdischen Ökumene zu messen.“[46]
Jede noch so vorsichtig formulierte oder implizit geäußerte Erwartung einer Bekehrung würde von der Überheblichkeit zeugen, vor der schon Paulus im Brief an die Römer (Röm 11,18.20) warnte und die mitverantwortlich für die Leidensgeschichte der Juden wurde. Das Judentum bietet einen eigenen bleibend gültigen Heilsweg an, der eine eigene Sendung offenbart und einen eigenen Weg zum Heil aufzeigt. Diese Trennung kann von den Christen nicht aufgehoben werden, die Kirche ist nicht mit Israel identisch, noch ersetzt sie sie. Die wesenhafte Verbindung des Christentums mit Israel ist die Erinnerung an die Anfänge der Geschichte Gottes mit den Menschen, die das Christentum erinnernd an das Judentum verweist.[47]Das jüdische und das christliche Volk sind beide als wanderndes Volk unterwegs.
„Die heutige christliche Umkehr muss wesentlich darin bestehen, dass das Bewusstsein, man sei mit Gott, der sich in Christus offenbarte, unterwegs, wieder lebendig und lebensgestaltend wird. Eine aus der Sklaverei heraus unter göttlicher Führung zur vollen Freiheit hin wandernde Gruppe kann nicht triumphalistisch, absolutistisch und exklusiv sein. Sie ist froh um Reisegefährten, Reisefortschritt und um helfende Hände. Sie braucht Zuspruch, Dialog, Wegweisungen. Ihr geht es vor allem um das richtige Tun (Orthopraxie), weniger um die richtige Ideologie (Orthodoxie).“[48]
Im ersten Teil (Kapitel drei bis fünf dieser Arbeit) wird die Frage nach dem „Warum?“ dieser christlichen Zeugenschaft im Zentrum stehen. So begründet Kapitel drei die Erinnerung aus biblischer, fundamentaltheologischer, philosophischer und kulturwissenschaftlicher Sicht. Hier zeigt sich in einem vielschichtigen Zugang, dass die Erinnerung wesenhaft zum Christentum gehört. Im vierten Kapitel wird die Zeugenschaft in den Blick genommen. Hier wird versucht den Bereich des tertiären Zeugens, dessen Rolle die der heutigen Generation als nachfolgende sein wird, abzustecken. Im fünften Kapitel wird das Verhältnis von Juden und Christen in den Blick genommen und als asymmetrisches beschrieben. Letztendlich muss eine von christlicher Seite aus betriebene Erinnerung auch von jüdischer Seite gewollt und „abgesegnet“ sein. Im nächsten Schritt (Kapitel sechs) werden Kriterien dieser tertiären Zeugenschaft als christliche Erinnerung erarbeitet werden. Ziel ist es, eine Erinnerungskultur zu fördern, die dem hebräischen Erinnern „Zachor!" als ethischer Imperativ Israels möglichst nahekommt. In der hebräischen Bibel taucht das Verb Zachar 169-mal auf und die Imperativform Zachor! 46-mal.[49] Wo dieses Wort benutzt wird, wird nicht zur inneren Einkehr aufgefordert, sondern zum Handeln und zur Umkehr.[50]
Kapitel sieben und acht beschreiben Grundzüge der israelischen und deutschen Erinnerungslandschaft[51]. Welche Erinnerungsorte können authentische Wissens-, Sprech- und Erzählweisen ermöglichen?[52] Der Partikularismus in der Erinnerungskultur Israels wird am Beispiel der Erinnerungsstätte Yad Vashem aufgezeigt und dessen politische Instrumentalisierung diskutiert. Parallel dazu wird versucht, die viel heterogener wirkende Erinnerungskultur Deutschlands zu beschreiben. Auch hier dient ein nationales Denkmal als Anknüpfungspunkt. Ein besonderer Akzent wird dabei auf die Erziehung in der israelischen bzw. deutschen Gesellschaft gelegt. Während in den letzten Jahrzehnten in Israel systematisch eine Erziehung zur Erinnerung forciert wurde, steht in der Erinnerungskultur Deutschlands die Diskussion über die modale Ausgestaltung der Erinnerungskultur noch im Anfangsstadium. Insbesondere ist das Verhältnis von Botschaft und Medium zueinander im Diskurs über die deutsche Erinnerungskultur kaum diskutiert. Dabei zeigt insbesondere die Beschäftigung mit der Erinnerungskultur in Israel: Es muss genau überlegt werden: Wie und Warum soll erinnert werden? So ist erklärtes Ziel in Yad Vashem nicht das Unterrichten, das Lehren oder Lernen, sondern das Erziehen.[53]
Die Unterschiede im Umgang mit dem Holocaust in den beiden Ländern und die Entwicklung des Holocausts zur „Gedächtnisikone“[54] werden zum Ausgangspunkt der Fragestellung des neunten Kapitels. Das kollektive Gedächtnis in beiden Ländern wird nach dem Tod der Zeitzeugen in beiden Ländern nun auf mediatisierte Quellen angewiesen sein. Inwiefern wird es sich dadurch verändern? Im Mittelpunkt des neunten Kapitels steht die Frage, welchen Einfluss die christliche Erinnerungskultur mit ihren moralischen Implikationen darauf haben kann.
2.3 Forschungsstand und Quellen
Es gibt eine unüberschaubare Fülle an Literatur, die sich aus unterschiedlichen Fachrichtungen und in vielfältiger Perspektive mit der Erinnerung an die Shoah auseinandersetzt. Das Interesse der Auseinandersetzung wächst sogar noch, denn die Shoah erscheint inzwischen als kultureller Fluchtpunkt Europas[55], als globaler Referenzpunkt[56] oder als Gedächtnisikone mit moralischer Konnotation.[57] Die interdisziplinäre Ausrichtung des Themas eröffnet in ihrer Komplexität eine Bandbreite von Literatur, die eine erste Einschränkung notwendig macht. Dazu kommt der internationale Referenzrahmen, den die Auseinandersetzung um die Shoah zunehmend gewinnt. Die Erinnerungsarbeit der Deutschen wird weltweit mit besonderem Interesse verfolgt und diskutiert. Doch auch wenn die deutsche Erinnerungskultur vor spezifischen Herausforderungen steht und sich in einzigartiger Weise verantworten muss, ist die Frage verantwortlicher Erinnerungskultur nicht auf das Land beschränkt, dem die Täter der Shoah entstammen. Die internationale Konferenz zur Holocaustforschung, die 2014 in Yad Vashem zum neunten Mal stattfand, weist Besucher aus 48 Nationen auf, insgesamt haben sich über 400 Teilnehmer angemeldet, so dass die Konferenz auf Leinwände und zusätzliche Räumlichkeiten ausweichen muss.[58]
Mit dem zunehmenden Sterben der Zeitzeugen steigt die Anzahl der an Erinnerung Interessierten und die mediale Aufbearbeitung dieser Erinnerung.
In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt auf religions- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zum Begriff Erinnerung, nicht die Auseinandersetzung mit historischen Sachverhalten an sich. Es wird keine reine Quellenarbeit angestrebt, sondern die Begründung, Tradierung, Transformation und Relevanz von Erinnerung steht im Mittelpunkt. Jan Assmann, Aleida Assmann, Astrid Greve, Salomon Korn, Verena Lenzen, Heidemarie Uhl, Yosef Hayim Yerushalmi, James Edward Young und Moshe Zuckermann, um nur einige Autoren und Autorinnen zu nennen, veröffentlichten wichtige wissenschaftliche Werke zu diesem Themenkreis.[59]
Die Auseinandersetzung mit der Erinnerung als theologische Basiskategorie erfolgte auf der Basis der Untersuchung von Paul Petzel und Norbert Reck, die im Jahr 2003 Beiträge zu hermeneutischen Fragen und fundamentaltheologischen Ansätzen zusammenfassten und damit einen guten Überblick über den Forschungsstand gaben. Hier wurden auch repräsentative jüdische und christliche Positionen zur zentralen Bedeutung von Erinnerung vorgestellt. Der Zugang über jüdische als auch christliche Positionen ist für die hier vorliegende Arbeit zentral. Gerade im Vergleich der Erinnerungskulturen Israels und Deutschlands sind die Ausführungen von jüdischer Seite hermeneutisch wegweisend. Hier sind es besonders Dan Diner und Moshe Zuckermann, deren Ausführungen zur vermeintlichen Pluralisierung und Universalisierung gewinnbringend aufgenommen und umgesetzt werden konnten.[60]
Des Weiteren bilden die Veröffentlichungen zur Theologie des Dialogs von Reinhold Boschki und Hans Hermann Henrix einen Schwerpunkt dieser Arbeit.[61] In ihren Veröffentlichungen steht das jüdisch-christliche Gespräch im Vordergrund, das strukturanalog Erinnerung immer an ethische Konsequenzen koppelt und diese bei theologischen Disputen stets im Blick hat.
Zwei Dissertationen sind in den letzten Jahren erschienen, die eine detaillierte Beschreibung von Erinnerungslandschaften betreiben wollen. Katja Köhr untersuchte 2012 den Wandel von Erinnerung anhand internationaler musealer Holocaustrepräsentationen[62] und Anja Kurths untersuchte 2008 den Umgang mit der Shoah am Beispiel dreier Gedenkstätten in Israel.[63]
Durch meine Mitarbeit in Yad Vashem resultieren meine Erkenntnisse nicht nur aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit literarischen Quellen, sondern auch aus Gesprächen mit Dr. Noa Mkayton, der Leiterin der deutschsprachigen Abteilung der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem, Jerusalem.[64]
2.4 Die Begriffe Auschwitz, Holocaust, Churban und Shoah
Matthias Heyl zieht das Fazit: „An Auschwitz reicht unsere Sprache nicht heran. Von Auschwitz zu sprechen, heißt immer auch, dem, wofür Auschwitz zum Synonym, zur Chiffre wurde, zwangsläufig nicht gerecht zu werden.“[65] Gerade weil Auschwitz an die Grenzen des Denkbaren und Sagbaren stößt, ist es wichtig, den Sprachgebrauch und dessen Umdeutung bewusst werden zu lassen. Ruth Klüger entwickelte Auschwitz zur historischen Sprachchiffre, indem sie Auschwitz nicht als Bezeichnung für einen lokalen Ort verwendete, sondern den Begriff der Zeitschaft prägte, „um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit war, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.“[66] Der Raum soll umgeprägt werden in einen Zeitbezug. Damit will Krüger verdeutlichen, dass Auschwitz als universeller Bruch einem Zivilisationsbruch gleichkommt, der das Leben in ein davor und danach teilt, in ein verbunden und getrennt. „Ja, und nun trotzdem meine Zeitschaften. Ort in der Zeit, die nicht mehr ist.“[67] Auschwitz als Sprachchiffre kommt als Chiffre dem Grauen vielleicht am nächsten.
Der Begriff Holocaust stammt aus dem Griechischen „holókaustos“ und heißt übersetzt „verbrennen“. Er bezieht sich auf die rituelle Opferung von Tieren und taucht in dem Zusammenhang auch in der Septuaginta auf. Über die lateinische Bibelübersetzung der Vulgata gelang „holocaustum“ in die englische Sprache, nicht aber in die deutsche, da Martin Luther die Vokabel mit „Brandopfer“ übersetzte. So ist es zu erklären, warum der Begriff Holocaust zunächst nur im englischsprachigen Kulturraum benutzt wurde. Erst 1979 drang der Begriff in das öffentliche Bewusstsein der Deutschen, als die Fernsehserie „Holocaust – die Geschichte der Familie Weiß“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde und einen „gesellschaftlichen Schock“ auslöste. Diese amerikanische Fernsehserie führte erstmalig zu einer breiten Diskussion um die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands.[68] Sie prägte das kollektive Gedächtnis der Deutschen so nachhaltig, dass auch die englische Schreibweise des Begriffs Holocaust übernommen wurde. Insofern haftet dem Begriff durch popularisierte Darstellungen mehr kulturelle Einschreibung an, als dass er geeignet wäre, ein historisches Ereignis zu bezeichnen.[69]
Der Begriff wird auch von jüdischer Seite aus sehr kritisch gesehen, denn die Bedeutung „Brandopfer“ assoziiert ein sinnvolles Geschehen, suggeriert einen Sinn hinter der Ermordung von sechs Millionen Juden.[70] Doch trotz fundamentaler Einwände in der internationalen Holocaustforschung hat sich dieser Begriff mittlerweile etabliert, so dass auf ihn notgedrungen zurückzugreifen ist. Damit taucht jedoch ein neues Problem der Verwendung auf, seine Umdeutung zur universalen und moralischen Metapher. Diese Umdeutung ist aber in der Arbeit selbst noch Gegenstand der Untersuchung.[71]
Von ihrer Semantik lägen die hebräischen Begriffe Shoah oder Churban viel näher. Das Wort Shoah bedeutet übersetzt „Katastrophe“, es wird von Juden synonym für den Begriff Holocaust verwendet und fand über den Dokumentarfilm „Shoah“, der im Jahr 1985 produziert worden ist, einen Zugang ins sprachliche Bewusstsein der Deutschen. Nachdem der neunstündige Dokumentarfilm (Shoah) von Claude Lanzmann, der eine Art narrative Chronik des Holocaust darstellt, ausgestrahlt worden ist, wurde der Begriff Shoah auch von Nicht-Juden verwendet. Er wurde bevorzugt, da er sowohl eine nachträgliche Sinnstiftung durch die religiöse Konnotation des Begriffs Holocaust als auch eine romantisierende Verklärung durch die Fernsehserie „Holocaust“ vermeidet. Auch wenn Matthias Heyl davor warnt, sich mit dem Begriff der Shoah, weil er hebräische Wurzeln habe, der Mühe zu entbinden, begrifflich klar zu benennen, was geschehen ist, wird der Begriff der Shoah im Diskurs verwendet.[72]
Von Rabbinern wird auch das Wort dritter Churban verwendet. Es bedeutet „Verwüstung“, „Zerstörung“ und eine von Menschenhand ausgelöste Katastrophe. Die beiden ersten Churbane beziehen sich auf die Zerstörung des Tempels 587 vor und 70 nach Christus) und stellen den hier wichtigen Zusammenhang her, es geht bei der Verwendung des Begriffs Churban immer um eine von Menschen angestrebte Vernichtung des Judentums. Da mit dieser Verwendung aber auch die Singularität der Shoah aus dem Blickfeld gerät, lehnen viele Juden den Begriff ab.
In der hier vorliegenden Arbeit wird trotz aller Unzulänglichkeit der Begriff Shoah verwendet und nur im internationalen Zusammenhang und Belang von Holocaust gesprochen. Mit dieser Entscheidung wird auch direkt zu Beginn dieser Arbeit das größte Problem innerhalb der deutschen Erinnerungskultur bestimmt:
„Wenn das, wofür es in Deutschland bezeichnenderweise noch nicht einmal ein eigenes Wort gibt, in der Erinnerung wäre, weil es zu einem gehörte, dann würde es nicht das lastende Gefühl geben, sich davon befreien zu müssen. Dann würde es das Bedürfnis geben, sich zu erinnern, öffentlich und in der Familie, um sich darüber aussprechen zu können, um in dieser Weise in der Vernichtung nicht fortzuwirken.“[73]
Bibliographische Angaben:
Daniela Gast:
ERINNERUNG AN DIE SHOAH ALS MISSIONARISCHE HERAUSFORDERUNG. Begründung, Relevanz und Konsequenz einer christlichen Erinnerungskultur.
Bonifatius Verlag, Paderborn 2016
271 Seiten * € 34,90