Erinnerung an die Shoah als missionarische Herausforderung. Begründung, Relevanz und Konsequenz einer christlichen Erinnerungskultur

Nachfolgend zwei Originalauszüge ("Hermeneutische Vorbemerkung" und "Einleitung") aus dem Ende 2016 erschienen, gleichnamigen Buch von Daniela Gast. Die genauen bibliographischen Angaben befinden sich am Ende der Seite.

Hermeneutische Vorbemerkung

Dann weiß er,

es ist noch nicht zuende."[1]

Es ist die Aufgabe eines Theologen, Gottes Heilswirken an der Welt durch Jesus Christus in unserer Gegenwartssituation in einer kognitiv verantwortbaren Weise auszusprechen. Dieses reflektierte Zeugnis ist die orthopraktische Konkretion der christlichen Mission und ist keine dem Glauben äußerlich und zusätzlich beigefügte Aufgabe, sondern ein Impuls, der aus dem Inneren des Glaubens selbst kommt[2] Die christliche Mission stellt sich unter den Anspruch, dass die frohe Botschaft im konkreten Alltag Sinn machen muss, dass sie keine Floskel, sondern Offenbarung ist, die, wenn auch nicht immer lebensverändernd, so doch lebensbejahend sein soll. Damit die christliche Mission sich auf konkrete Alltagssituationen beziehen kann, müssen die Verkündigung und die Theologie kontextuell sein.[3] Der Kontext der Gesellschaft in Deutschland ist in besonderer Weise durch die Erinnerung an Auschwitz[4] geprägt. Auschwitz wirkt als Kontingenzschock, der auch die Theologie bis heute vor eine neue Herausforderung stellt.[5] Johann Baptist Metz’ Satz „Nach Auschwitz darf es eigentlich keinen subjekt- und situationslosen theologischen Tiefsinn mehr geben.“[6] bekommt angesichts der Relevanz von Auschwitz für die deutsche Geschichte seine Gültigkeit.

Für die Theologie nach Auschwitz besitzt die grausame Realität der Shoah[7] eine einzigartige Relevanz. Dabei soll mit dem Verweis auf die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Genozids kein Vergleich mit anderen Genoziden gezogen werden. Das wäre eine Pervertierung und Sinnentleerung einer angemessenen Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Kontext. Aus kontextuell-theologischer Perspektive betrachtet ist der nationalsozialistische Genozid nicht in seiner Brutalität einzigartig, seine Singularität bezieht sich auf seine Kontextualisierung in einer modernen und scheinbar christlich kultivierten Gesellschaft.

Angesichts der Katastrophe der Shoah stellt es eine zentrale Herausforderung an die Theologie dar, die Wirkungsgeschichte christlicher Theologie zu untersuchen. Das bedeutet zu erforschen, inwieweit theologisches Denken das Handeln der Christen in der Shoah beeinflusst bzw. gegebenenfalls sogar ermöglicht hat. Daran anknüpfend kann im Sinne einer gefährlichen Erinnerung reflektiert werden, in welcher Weise gegenwärtige Theologie das Handeln der Christen heute beeinflusst oder nicht beeinflusst.

Die Shoah stellt sowohl mit Blick auf die mögliche Erosion von Humanität in einer Gesellschaft als auch mit Blick auf die Negation jeglicher christlicher Werte und Haltungen eine erschreckende Realität dar. Einen bruchstückhaften Eindruck in die Realität der Shoah mag eine Zeugenaussage von S. Szmaglewska geben. Szmagleweska war eine polnische Wärterin in Auschwitz, wo alleine im August 1944 etwa 400000 ungarische Juden in den fünf Gaskammern von Auschwitz ermordet worden sind.[8] Dokumentiert ist von Szmagleweska folgende Aussage in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen:

    Zeugin: ...Frauen, die Kinder trugen, wurden [immer] mit ihnen ins Krematorium geschickt. [Kinder hatten keinen Lebenswert und die Mütter wurden mit geschickt, um Panik zu vermeiden und den reibungslosen Ablauf der Vernichtung nicht zu gefährden.] Die Kinder wurden dann außerhalb des Krematoriums von ihren Eltern weggerissen und getrennt zu den Gaskammern geschickt. [Auch diese Entscheidung aus logistischen Erwäggründen. So konnten Kinder noch auf die Köpfe der Erwachsenen geworfen werden, wenn diese bereits in der Gaskammer standen.] Als die Vernichtung der Juden auf dem Höhepunkt war, wurden Befehle ausgegeben, daß Kinder direkt in die Brennöfen der Krematorien geworfen werden sollten, oder in eine Grube in der Nähe des Krematoriums, ohne zuerst vergast zu werden.

    Smirnov (russischer Ankläger): Wie soll ich das verstehen? Warfen sie sie lebendig ins Feuer, oder töteten sie sie zuerst?

    Zeugin: Sie warfen sie lebendig hinein. Ihre Schreie konnten im Lager gehört werden. Es ist schwierig zu sagen, wie viele Kinder auf diese Weise vernichtet wurden.

    Smirnov: Warum taten sie das?

    Zeugin: Das ist schwer zu sagen. Wir wissen nicht, ob sie Gas sparen wollten, oder ob es so war, weil nicht genug Platz in den Gaskammern war.[9]

Die Tatsache, dass Menschen zu einem solchen Verhalten fähig sind, ist erschreckend genug. In besonderer Weise stellt es aber für die christliche Religion eine einzigartige Tragödie dar, dass die historische Katastrophe der Shoah sich in einem christlichen Kontext ereignen konnte.

Der Satz „Nicht alle Christen waren Mörder, aber alle Mörder waren Christen.“ (McAfee Brown) verschweigt in seiner Verallgemeinerung den Widerstand zahlreicher Christen, stellt aber die Frage nach christlicher Schuld und Verantwortung.

„Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum.“[10] Mit diesem pointierten Schreckensszenario zieht Elie Wiesel Bilanz aus dem Versagen der Christen im Angesicht der Shoah.

„Wenn die Opfer mein Problem sind – die Mörder sind es nicht! Die Mörder sind das Problem anderer, nicht das meinige. Falls ich versuchen könnte zu verstehen – aber das wird mir nie gelingen –, weshalb mein Volk zum Opfer wurde, so werden andere Leute verstehen müssen, oder den Versuch machen müssen zu verstehen, warum die Mörder Christen – sicher schlechte Christen, aber doch Christen – waren.“[11]

Die Glaubwürdigkeit einer ganzen Religion steht auf dem Spiel.[12] Denn es kann nicht möglich sein, gleichzeitig Christ und Antisemit zu sein, gleichzeitig Gott zu loben und den Menschen[13] zu hassen. Dann beraubt sich das Christentum seines grundlegenden Wesenszugs „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ – und zerstört sich selbst.[14]

In diesem Sinne ist „Auschwitz“ in dieser Arbeit gemeint und stellt damit Ringen und Untersuchung dar.

Einleitung

"Niemand

zeugt für den

Zeugen".[15]

„Niemand / zeugt für den / Zeugen" so lauten die Schlusszeilen von Paul Celans Gedicht „Aschenglorie".[16] Sie scheinen die Antwort zu geben auf die angstvolle Frage, die immer mehr in das Bewusstsein der Deutschen vordringt: Wie geht es weiter mit der Erinnerung an die Shoah, wenn die, die sie erlebt haben, sterben?[17] Behalten dann diejenigen Recht, die von Anfang an das systematische Ermorden verheimlichen und verstecken wollten? Bekommen dann die Gehör, die – der Erinnerung müde – das Vergessen propagieren? Wer wird die Erinnerung an die Shoah übernehmen, wenn die Zeitzeugen dies nicht mehr können?

2.1 Thesen und Fragestellungen

Noch sind es die ersten und letzten Zeugen selber, die versuchen, das Unaussprechliche auszusprechen. In ihrem Stammeln, in den Ungereimtheiten, in dem sehr subjektiven, oft sogar nicht historisierbaren Erleben geben sie Aufschluss über eine Zeit, die notwendig zum Selbstbewusstsein des Menschen gehören muss. Sie muss dazu gehören, weil sie in ihrem extremen Ausmaß über vorstellbare Grenzen des Menschseins hinausgegangen ist und es so von Grund auf in Frage stellt. Neben dieser Frage erlebt die Erinnerung an die Shoah eine weitere Herausforderung, eine erinnerungspolitische Neujustierung im Rahmen der „Globalisierung des Holocaust“.[18] Wie kann der Holocaust 70 Jahre nach der Shoah erinnert, transformiert und historisiert werden, ohne dass er instrumentalisiert wird, um im Kontext geopolitischer Konflikte eigene politische Interessen zu rechtfertigen? Ebenso wie im nationalen Rahmen lässt sich auch mit Blick auf die Globalisierung des Holocausts eine Deutungsmacht feststellen, die die Erinnerung an den Holocaust als Legitimierung weltgesellschaftlicher Interventionspolitiken missbraucht.[19]

Die Erinnerung an die Shoah ist wesentlich für die Kultur[20] und in ihrer spezifisch jüdisch-christlichen Ausrichtung wesentlich für die am Menschen ausgerichtete Kultur der Solidarität.[21] Doch was passiert, wenn diese Zeitzeugen sterben? Der Historiker Saul Friedländer fasst nüchtern zusammen:

    „Die Gruppe der Menschen, die sich daran erinnern können, wird bald fort sein – ich auch. Das wird noch ein paar Jahre dauern, aber dann ist Schluß. […] Aber meine Altersgruppe erinnert sich noch an die Ereignisse, an den Krieg und den Holocaust. Die Angehörigen dieser Gruppe sind, wie ich auch, schon Mitte 70, das heißt, in ein paar Jahren wird es keine Überlebenden mehr geben. Und wie es sich dann entwickelt, weiß niemand. Es kann wohl sein, daß mit der Zeit das Interesse an diesem Thema verschwindet. Man wird es als etwas sehen, das ganz weit weg ist. Das ist vielleicht schmerzlich – für jemanden wie mich und für meine Altersgruppe –, aber nicht zu vermeiden.“[22]

„Niemand / zeugt für den / Zeugen“ – Wie ist dieser Vers zu verstehen?[23]  Als düstere Prognose kann Celans Aussage im Kontext der Erinnerungsarbeit zweifach verstanden werden:

Zum einen, ganz naheliegend und Anklang findend an Friedländer, kann sie gelesen werden als hoffnungslose Angstbilanz einer Zukunft, die eine Zeitzeugenschaft ohne Zeitzeugen in den Blick nimmt. Bald wird es keine Zeugen mehr geben, selbst die jüdische Erinnerung als authentischste, längste und dauerhafteste, wird es in ein paar Jahren direkt nicht mehr geben. Das persönliche Gedächtnis wird versiegt sein. Das kollektive Bewusstsein[24], das konkrete Wissen um die Shoah als gemeinsamer Nenner eines im allgemeinen Bewusstsein verankerten und aktuell geteilten Wissens, wird sich qualitativ verändern, wenn die Quelle der Erinnerung nicht lebendig und konkret ist. Das Erlebnis mit existentiellem Inhalt und subjektiver Eigenheit hört auf zu existieren, weil die Zeugen verschwinden. Die Frage, die bleibt, lautet: Wie kann die Erinnerung an die Vernichtung lebendig gehalten werden? Oder wie der italienische Schriftsteller Primo Levi fragte: „Wer der Zeuge der Zeugen sein werde – wer es, auch weiterhin, auf sich nehme, die Tragödie des Genozids für die Zukunft zu vergegenwärtigen.“[25].

Gelesen werden kann Paul Celans Vers zum anderen auch als historische Krise einer Zeugenschaft, die sich selbst ad absurdum führt. Ein Zeuge übernimmt Verantwortung für die Wahrheit eines zweiten oder dritten. Er steht ein, in Celans Vers oder allgemein, für etwas anderes, für das Eingedenken des Schicksals anderer und für ein Geschehen, das sonst vergessen oder verdrängt werden würde. Seine Person, sein Wort wird nun zum Wirklichkeitsgaranten einer Realität, die er selbst erlebt hat, deren Existenz aber von außen angezweifelt wird.[26] Laut Maurice Blanchot ist die Shoah nun ein „Ereignis ohne Zeugen", das heißt ein Ereignis, das in seiner Unaussprechlichkeit eben eine solche als Folge hat, das geschichtliche Ereignis stellt die Möglichkeit einer Zeugenschaft radikal in Frage.[27]

Denn entweder sind die, die es erlebt haben, ermordet worden oder aber so traumatisiert, dass sie nicht erinnern können, weil ein erneutes Erleben selbst als Erinnerung zu schmerzhaft, ja lebensbedrohlich wäre. Kann also eine „Ethik der Erinnerung“.[28] überhaupt gefordert werden? Oder wird nicht sowohl eine primäre, als auch oder besonders eine sekundäre Erinnerung durch die Feststellung „Niemand zeugt für den Zeugen.“ unmöglich gemacht? Denn auch eine sekundäre Zeugenschaft birgt viele Gefahren. Losgelöst von der Unmittelbarkeit des Opfers wächst die Freiheit des Erzählers und des Erzählten. Letztendlich besteht immer die Gefahr, dass die Shoah zur Metapher erstarrt und verkümmert. Dann stellt die Shoah einen Genozid neben vielen anderen auf dieser Welt dar. Auch wenn dadurch eine globalisierte Erinnerung und dadurch eine über die nationalen Grenzen hinweg diese überdauernde Erinnerung gewährleistet werden könnte, würde die Shoah dadurch nicht ihre Singularität und ihre Unvergleichlichkeit verlieren? Dazu kommt die Frage, ob es stellvertretendes Gedenken überhaupt geben kann? Oder sind es bestimmte „traurige Vorrechte"[29], wie Jean Améry es beschreibt, die ein exklusives Erinnerungsrecht fordern?

Ob es sich hier um eine wie gerade beschrieben grundsätzliche oder um eine mit dem Tod der Zeitzeugen noch zu erwartende Krise handelt, wird zu prüfen sein und ist insofern in Bezug auf das vorliegende Erkenntnisinteresse zunächst sekundär. Wichtig für diese Arbeit ist die Fragestellung, inwiefern das Gelingen einer potentiellen Zeugenschaft und die Möglichkeit, eine adäquate Erinnerungssprache zu finden, von dem Modus der Zeugenschaft[30] und vom Zeugen selbst abhängig sind.[31]

Diese Arbeit stellt die Frage, inwiefern der Christ in vielfacher Verantwortung steht, diese Aufgabe wahrzunehmen, und damit hilft, einer erneuten Vernichtung (als zweiten oder dritten Shoah des Vergessens oder der Sprachlosigkeit)[32].  entgegenzuwirken. Diese Zeugenschaft muss als Dialog, als dialogischer Appell an die Verantwortung gedacht werden. Keine wissende rückwärts gerichtete Beschreibung ist hier erwünscht, sondern eher eine gebrochene, sprachlich brüchige „Gegen-Erinnerung“[33], die aus der Zeit fällt.

Damit begibt sich die Arbeit auf dünnen Boden: Zum einen droht die Gefahr einer unbewussten Instrumentalisierung. Steht die Glaubwürdigkeit der eigenen Religion auf dem Spiel und nutzt die Erinnerung an die Shoah ihrer Wiedererlangung, dann wird die Erinnerung zum Werkzeug für Eigenzwecke und damit instrumentalisiert. Angelehnt an Martin Walser kann z. B. dann der Vorwurf formuliert werden, man hielte die Schande hoch, um sich „im grausamen Erinnerungsdienst“ eine billige höhere Moralität an der Seite der Opfer zu erschleichen.[34] Das würde jede Erinnerung an den Holocaust gefährden.

Zum anderen muss sich der Christ mit der Sorge jüdischerseits konfrontiert wissen, „die christliches Interesse für das Judentum als Eingriff, Einmischung und Aneignung fürchtet."[35] Diesen Gefahren muss Rechnung getragen werden, stellt aber nicht das Anliegen der Arbeit in Frage. Denn kritisiert wird hier ein bestimmter usurpatorischer Umgangston, der in der Vergangenheit das Verhältnis des Christentums zum Judentum oft bestimmt hat, nicht die Beziehung an sich.

Als Christ ist jeder Mensch in Deutschland in dreifacher Weise verantwortlich, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei."[36], als Deutscher[37], als Christ[38], als Mensch[39]. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht das Christsein in seinen gelebten fundamentaltheologischen Kategorien[40], Erinnern, Erzählen, Solidarität.

Das Christentum ist von seiner religiösen Natur aus Erinnerungskultur.[41] Erinnert wird an Gottes Heilshandeln an dem Menschen (Exodus) und an Jesus Christus (Auferstehung), um hier zwei Eckpfeiler zu benennen. Und nur als Erinnerung ist das Christentum lebendig und authentisch.

Die christliche Erinnerungskultur als gefährliche Erinnerung[42], die den Gläubigen zwingt Position zu beziehen, ist notwendig als Dialog zu verstehen und auf Interaktion angewiesen. Hier könnte die sekundäre bzw. tertiäre Zeugenschaft ihren Platz erhalten und glaubwürdig für eine Verantwortung[43] einstehen, die jeder Christ stellvertretend übernimmt, um das damals Unterlassene nicht zu vergessen und sein kritisch-befreiendes Potential für die Zukunft zu nutzen, denn ohne Erinnerung gibt es keine Hoffnung auf Veränderung. Denn in diesem Sinne ist „Erinnerung […] die Amme der Hoffnung."[44]

Papst Franziskus bezeichnet den Gläubigen als „Erinnerungsmenschen“.[45] Zu prüfen wird sein, ob und wie die Erinnerung als theologische Basiskategorie, mit der ein Verstehen des Christentums erst möglich gemacht wird, neu entfaltet werden und als christliche Kardinaltugend ihren Platz neben Glaube, Hoffnung, Liebe (wieder-) erhalten muss.

Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Ideologie ist es schwierig und nicht unproblematisch, mit dem Begriff Tugend zu hantieren. Das Wort ist von den Nationalsozialisten derart missbraucht worden, dass eine neutrale Verwendung nicht mehr möglich ist. Hier ist mit dem Begriff Tugend die christliche Kardinaltugend gemeint, die sich aus dem christlichen Glauben selbst generiert und symptomatisch für diesen und seine Glaubwürdigkeit zeugt.

Eine christliche Erinnerungskultur hat wesentlich missionarischen Charakter. Mission bedeutet im Dialog mit anderen Religionen den eigenen Glauben in den Herausforderungen der Gegenwart zu erfahren, zu bezeugen und zu bewahren. Angesichts der Einzigartigkeit der Katastrophe der Shoah in der christlich-jüdischen Beziehung stellt es eine präzedenzlose missionarische Herausforderung dar, den christlichen Glauben nach Auschwitz und in Verantwortung vor dem Judentum angemessen zu erfahren, zu bezeugen und zu bewahren. Wie der Christ dieser Herausforderung begegnen kann und sollte, wird in dieser Arbeit in der Ausgestaltung und Entfaltung einer christlichen Erinnerungskultur beschrieben.

2.2 Inhaltliche Gestaltung

Diese Arbeit stellt einen Beitrag zur Missionswissenschaft dar. Die Missionswissenschaft steht dabei vor der spezifischen Herausforderung, als transversale Wissenschaft unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen in sich zu integrieren. So tauchen neben Fragen aus der Religionswissenschaft und der Praktischen Theologie viele fundamentaltheologische Fragen auf. Aber das Hauptziel dieser Arbeit ist ein missionswissenschaftliches, einen Beitrag zu leisten für einen zeitgemäßen jüdisch-christlichen Dialog, in dem das christliche Zeugnis den Mittelpunkt von Mission beschreibt und dabei zur Ermutigung und nicht zur Irritation führt. Somit fühlt sie sich gleichsam dem Ende jeder Substitutions-, und Verdrängungstheorie und dem Beginn einer christlich-jüdischen Ökumene verpflichtet.

    „Was in dieser Shoah geschah, fordert nämlich nicht nur eine Revision des historischen Verhältnisses zwischen Christen und Juden […], sondern die konkrete Einsicht in die glaubensgeschichtliche Abhängigkeit von den Juden, weil sich Christen in ihrer Identität nicht mehr ohne sie oder gar gegen sie verstehen und definieren dürfen. Daran wäre schließlich der Ernst einer christlich-jüdischen Ökumene zu messen.“[46] 

Jede noch so vorsichtig formulierte oder implizit geäußerte Erwartung einer Bekehrung würde von der Überheblichkeit zeugen, vor der schon Paulus im Brief an die Römer (Röm 11,18.20) warnte und die mitverantwortlich für die Leidensgeschichte der Juden wurde. Das Judentum bietet einen eigenen bleibend gültigen Heilsweg an, der eine eigene Sendung offenbart und einen eigenen Weg zum Heil aufzeigt. Diese Trennung kann von den Christen nicht aufgehoben werden, die Kirche ist nicht mit Israel identisch, noch ersetzt sie sie. Die wesenhafte Verbindung des Christentums mit Israel ist die Erinnerung an die Anfänge der Geschichte Gottes mit den Menschen, die das Christentum erinnernd an das Judentum verweist.[47]Das jüdische und das christliche Volk sind beide als wanderndes Volk unterwegs.

    „Die heutige christliche Umkehr muss wesentlich darin bestehen, dass das Bewusstsein, man sei mit Gott, der sich in Christus offenbarte, unterwegs, wieder lebendig und lebensgestaltend wird. Eine aus der Sklaverei heraus unter göttlicher Führung zur vollen Freiheit hin wandernde Gruppe kann nicht triumphalistisch, absolutistisch und exklusiv sein. Sie ist froh um Reisegefährten, Reisefortschritt und um helfende Hände. Sie braucht Zuspruch, Dialog, Wegweisungen. Ihr geht es vor allem um das richtige Tun (Orthopraxie), weniger um die richtige Ideologie (Orthodoxie).“[48] 

Im ersten Teil (Kapitel drei bis fünf dieser Arbeit) wird die Frage nach dem „Warum?“ dieser christlichen Zeugenschaft im Zentrum stehen. So begründet Kapitel drei die Erinnerung aus biblischer, fundamentaltheologischer, philosophischer und kulturwissenschaftlicher Sicht. Hier zeigt sich in einem vielschichtigen Zugang, dass die Erinnerung wesenhaft zum Christentum gehört. Im vierten Kapitel wird die Zeugenschaft in den Blick genommen. Hier wird versucht den Bereich des tertiären Zeugens, dessen Rolle die der heutigen Generation als nachfolgende sein wird, abzustecken. Im fünften Kapitel wird das Verhältnis von Juden und Christen in den Blick genommen und als asymmetrisches beschrieben. Letztendlich muss eine von christlicher Seite aus betriebene Erinnerung auch von jüdischer Seite gewollt und „abgesegnet“ sein. Im nächsten Schritt (Kapitel sechs) werden Kriterien dieser tertiären Zeugenschaft als christliche Erinnerung erarbeitet werden. Ziel ist es, eine Erinnerungskultur zu fördern, die dem hebräischen Erinnern „Zachor!" als ethischer Imperativ Israels möglichst nahekommt. In der hebräischen Bibel taucht das Verb Zachar 169-mal auf und die Imperativform Zachor! 46-mal.[49] Wo dieses Wort benutzt wird, wird nicht zur inneren Einkehr aufgefordert, sondern zum Handeln und zur Umkehr.[50]

Kapitel sieben und acht beschreiben Grundzüge der israelischen und deutschen Erinnerungslandschaft[51]. Welche Erinnerungsorte können authentische Wissens-, Sprech- und Erzählweisen ermöglichen?[52] Der Partikularismus in der Erinnerungskultur Israels wird am Beispiel der Erinnerungsstätte Yad Vashem aufgezeigt und dessen politische Instrumentalisierung diskutiert. Parallel dazu wird versucht, die viel heterogener wirkende Erinnerungskultur Deutschlands zu beschreiben. Auch hier dient ein nationales Denkmal als Anknüpfungspunkt. Ein besonderer Akzent wird dabei auf die Erziehung in der israelischen bzw. deutschen Gesellschaft gelegt. Während in den letzten Jahrzehnten in Israel systematisch eine Erziehung zur Erinnerung forciert wurde, steht in der Erinnerungskultur Deutschlands die Diskussion über die modale Ausgestaltung der Erinnerungskultur noch im Anfangsstadium. Insbesondere ist das Verhältnis von Botschaft und Medium zueinander im Diskurs über die deutsche Erinnerungskultur kaum diskutiert. Dabei zeigt insbesondere die Beschäftigung mit der Erinnerungskultur in Israel: Es muss genau überlegt werden: Wie und Warum soll erinnert werden? So ist erklärtes Ziel in Yad Vashem nicht das Unterrichten, das Lehren oder Lernen, sondern das Erziehen.[53]

Die Unterschiede im Umgang mit dem Holocaust in den beiden Ländern und die Entwicklung des Holocausts zur „Gedächtnisikone“[54] werden zum Ausgangspunkt der Fragestellung des neunten Kapitels. Das kollektive Gedächtnis in beiden Ländern wird nach dem Tod der Zeitzeugen in beiden Ländern nun auf mediatisierte Quellen angewiesen sein. Inwiefern wird es sich dadurch verändern? Im Mittelpunkt des neunten Kapitels steht die Frage, welchen Einfluss die christliche Erinnerungskultur mit ihren moralischen Implikationen darauf haben kann.

2.3 Forschungsstand und Quellen

Es gibt eine unüberschaubare Fülle an Literatur, die sich aus unterschiedlichen Fachrichtungen und in vielfältiger Perspektive mit der Erinnerung an die Shoah auseinandersetzt. Das Interesse der Auseinandersetzung wächst sogar noch, denn die Shoah erscheint inzwischen als kultureller Fluchtpunkt Europas[55], als globaler Referenzpunkt[56] oder als Gedächtnisikone mit moralischer Konnotation.[57] Die interdisziplinäre Ausrichtung des Themas eröffnet in ihrer Komplexität eine Bandbreite von Literatur, die eine erste Einschränkung notwendig macht. Dazu kommt der internationale Referenzrahmen, den die Auseinandersetzung um die Shoah zunehmend gewinnt. Die Erinnerungsarbeit der Deutschen wird weltweit mit besonderem Interesse verfolgt und diskutiert. Doch auch wenn die deutsche Erinnerungskultur vor spezifischen Herausforderungen steht und sich in einzigartiger Weise verantworten muss, ist die Frage verantwortlicher Erinnerungskultur nicht auf das Land beschränkt, dem die Täter der Shoah entstammen. Die internationale Konferenz zur Holocaustforschung, die 2014 in Yad Vashem zum neunten Mal stattfand, weist Besucher aus 48 Nationen auf, insgesamt haben sich über 400 Teilnehmer angemeldet, so dass die Konferenz auf Leinwände und zusätzliche Räumlichkeiten ausweichen muss.[58]

Mit dem zunehmenden Sterben der Zeitzeugen steigt die Anzahl der an Erinnerung Interessierten und die mediale Aufbearbeitung dieser Erinnerung.

In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt auf religions- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zum Begriff Erinnerung, nicht die Auseinandersetzung mit historischen Sachverhalten an sich. Es wird keine reine Quellenarbeit angestrebt, sondern die Begründung, Tradierung, Transformation und Relevanz von Erinnerung steht im Mittelpunkt. Jan Assmann, Aleida Assmann, Astrid Greve, Salomon Korn, Verena Lenzen, Heidemarie Uhl, Yosef Hayim Yerushalmi, James Edward Young und Moshe Zuckermann, um nur einige Autoren und Autorinnen zu nennen, veröffentlichten wichtige wissenschaftliche Werke zu diesem Themenkreis.[59]

Die Auseinandersetzung mit der Erinnerung als theologische Basiskategorie erfolgte auf der Basis der Untersuchung von Paul Petzel und Norbert Reck, die im Jahr 2003 Beiträge zu hermeneutischen Fragen und fundamentaltheologischen Ansätzen zusammenfassten und damit einen guten Überblick über den Forschungsstand gaben. Hier wurden auch repräsentative jüdische und christliche Positionen zur zentralen Bedeutung von Erinnerung vorgestellt. Der Zugang über jüdische als auch christliche Positionen ist für die hier vorliegende Arbeit zentral. Gerade im Vergleich der Erinnerungskulturen Israels und Deutschlands sind die Ausführungen von jüdischer Seite hermeneutisch wegweisend. Hier sind es besonders Dan Diner und Moshe Zuckermann, deren Ausführungen zur vermeintlichen Pluralisierung und Universalisierung gewinnbringend aufgenommen und umgesetzt werden konnten.[60]

Des Weiteren bilden die Veröffentlichungen zur Theologie des Dialogs von Reinhold Boschki und Hans Hermann Henrix einen Schwerpunkt dieser Arbeit.[61] In ihren Veröffentlichungen steht das jüdisch-christliche Gespräch im Vordergrund, das strukturanalog Erinnerung immer an ethische Konsequenzen koppelt und diese bei theologischen Disputen stets im Blick hat.

Zwei Dissertationen sind in den letzten Jahren erschienen, die eine detaillierte Beschreibung von Erinnerungslandschaften betreiben wollen. Katja Köhr untersuchte 2012 den Wandel von Erinnerung anhand internationaler musealer Holocaustrepräsentationen[62] und Anja Kurths untersuchte 2008 den Umgang mit der Shoah am Beispiel dreier Gedenkstätten in Israel.[63]

Durch meine Mitarbeit in Yad Vashem resultieren meine Erkenntnisse nicht nur aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit literarischen Quellen, sondern auch aus Gesprächen mit Dr. Noa Mkayton, der Leiterin der deutschsprachigen Abteilung der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem, Jerusalem.[64]

2.4 Die Begriffe Auschwitz, Holocaust, Churban und Shoah

Matthias Heyl zieht das Fazit: „An Auschwitz reicht unsere Sprache nicht heran. Von Auschwitz zu sprechen, heißt immer auch, dem, wofür Auschwitz zum Synonym, zur Chiffre wurde, zwangsläufig nicht gerecht zu werden.“[65] Gerade weil Auschwitz an die Grenzen des Denkbaren und Sagbaren stößt, ist es wichtig, den Sprachgebrauch und dessen Umdeutung bewusst werden zu lassen. Ruth Klüger entwickelte Auschwitz zur historischen Sprachchiffre, indem sie Auschwitz nicht als Bezeichnung für einen lokalen Ort verwendete, sondern den Begriff der Zeitschaft prägte, „um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit war, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.“[66] Der Raum soll umgeprägt werden in einen Zeitbezug. Damit will Krüger verdeutlichen, dass Auschwitz als universeller Bruch einem Zivilisationsbruch gleichkommt, der das Leben in ein davor und danach teilt, in ein verbunden und getrennt. „Ja, und nun trotzdem meine Zeitschaften. Ort in der Zeit, die nicht mehr ist.“[67] Auschwitz als Sprachchiffre kommt als Chiffre dem Grauen vielleicht am nächsten.

Der Begriff Holocaust stammt aus dem Griechischen „holókaustos“ und heißt übersetzt „verbrennen“. Er bezieht sich auf die rituelle Opferung von Tieren und taucht in dem Zusammenhang auch in der Septuaginta auf. Über die lateinische Bibelübersetzung der Vulgata gelang „holocaustum“ in die englische Sprache, nicht aber in die deutsche, da Martin Luther die Vokabel mit „Brandopfer“ übersetzte. So ist es zu erklären, warum der Begriff Holocaust zunächst nur im englischsprachigen Kulturraum benutzt wurde. Erst 1979 drang der Begriff in das öffentliche Bewusstsein der Deutschen, als die Fernsehserie „Holocaust – die Geschichte der Familie Weiß“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde und einen „gesellschaftlichen Schock“ auslöste. Diese amerikanische Fernsehserie führte erstmalig zu einer breiten Diskussion um die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands.[68] Sie prägte das kollektive Gedächtnis der Deutschen so nachhaltig, dass auch die englische Schreibweise des Begriffs Holocaust übernommen wurde. Insofern haftet dem Begriff durch popularisierte Darstellungen mehr kulturelle Einschreibung an, als dass er geeignet wäre, ein historisches Ereignis zu bezeichnen.[69]

Der Begriff wird auch von jüdischer Seite aus sehr kritisch gesehen, denn die Bedeutung „Brandopfer“ assoziiert ein sinnvolles Geschehen, suggeriert einen Sinn hinter der Ermordung von sechs Millionen Juden.[70] Doch trotz fundamentaler Einwände in der internationalen Holocaustforschung hat sich dieser Begriff mittlerweile etabliert, so dass auf ihn notgedrungen zurückzugreifen ist. Damit taucht jedoch ein neues Problem der Verwendung auf, seine Umdeutung zur universalen und moralischen Metapher. Diese Umdeutung ist aber in der Arbeit selbst noch Gegenstand der Untersuchung.[71]

Von ihrer Semantik lägen die hebräischen Begriffe Shoah oder Churban viel näher. Das Wort Shoah bedeutet übersetzt „Katastrophe“, es wird von Juden synonym für den Begriff Holocaust verwendet und fand über den Dokumentarfilm „Shoah“, der im Jahr 1985 produziert worden ist, einen Zugang ins sprachliche Bewusstsein der Deutschen. Nachdem der neunstündige Dokumentarfilm (Shoah) von Claude Lanzmann, der eine Art narrative Chronik des Holocaust darstellt, ausgestrahlt worden ist, wurde der Begriff Shoah auch von Nicht-Juden verwendet. Er wurde bevorzugt, da er sowohl eine nachträgliche Sinnstiftung durch die religiöse Konnotation des Begriffs Holocaust als auch eine romantisierende Verklärung durch die Fernsehserie „Holocaust“ vermeidet. Auch wenn Matthias Heyl davor warnt, sich mit dem Begriff der Shoah, weil er hebräische Wurzeln habe, der Mühe zu entbinden, begrifflich klar zu benennen, was geschehen ist, wird der Begriff der Shoah im Diskurs verwendet.[72]

Von Rabbinern wird auch das Wort dritter Churban verwendet. Es bedeutet „Verwüstung“, „Zerstörung“ und eine von Menschenhand ausgelöste Katastrophe. Die beiden ersten Churbane beziehen sich auf die Zerstörung des Tempels 587 vor und 70 nach Christus) und stellen den hier wichtigen Zusammenhang her, es geht bei der Verwendung des Begriffs Churban immer um eine von Menschen angestrebte Vernichtung des Judentums. Da mit dieser Verwendung aber auch die Singularität der Shoah aus dem Blickfeld gerät, lehnen viele Juden den Begriff ab.

In der hier vorliegenden Arbeit wird trotz aller Unzulänglichkeit der Begriff Shoah verwendet und nur im internationalen Zusammenhang und Belang von Holocaust gesprochen. Mit dieser Entscheidung wird auch direkt zu Beginn dieser Arbeit das größte Problem innerhalb der deutschen Erinnerungskultur bestimmt:

    „Wenn das, wofür es in Deutschland bezeichnenderweise noch nicht einmal ein eigenes Wort gibt, in der Erinnerung wäre, weil es zu einem gehörte, dann würde es nicht das lastende Gefühl geben, sich davon befreien zu müssen. Dann würde es das Bedürfnis geben, sich zu erinnern, öffentlich und in der Familie, um sich darüber aussprechen zu können, um in dieser Weise in der Vernichtung nicht fortzuwirken.“[73]


Bibliographische Angaben:

Daniela Gast:

ERINNERUNG AN DIE SHOAH ALS MISSIONARISCHE HERAUSFORDERUNG. Begründung, Relevanz und Konsequenz einer christlichen Erinnerungskultur.

Bonifatius Verlag, Paderborn 2016

271 Seiten * € 34,90

Blick ins Inhaltsverzeichnis

[1] Peter Weiss sucht am 13. Dezember 1964 zum ersten Mal diese seine „Ortschaft“ (113) auf, womit der Ort Auschwitz-Birkenau gemeint ist. Weiss, der die Hitler-Diktatur als Emigrant in Schweden bewusst unpolitisch erlebt hat und erst nach dem Zweiten Weltkrieg von der Massenvernichtung der Juden erfuhr, wird sein eigenes zufälliges Überleben 20 Jahre später zur quälenden Schuldfrage. Auf der Suche nach einem „festen Punkt in der Topographie“ (114) seines Lebens erscheinen ihm alle realen Wohnorte nur als „blinde Flecken“ (114), das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wandelt sich für den Juden Weiss zum ursprünglichen Wohnort. Zwar habe er „selbst nichts in dieser Ortschaft erfahren“ (114), trotzdem bleibt es für Weiss „eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam.“.(114) Beschrieben wird die Begegnung mit der Shoah eines scheinbar persönlich nicht betroffenen Juden aus der Perspektive der Gegenwart. So kann das Schlusswort „Dann weiß er, es ist noch nicht zuende.“ (124) symptomatisch sein für eine existentielle Auseinandersetzung mit der Shoah heute. Siehe: Weiss (1968). Dieses Zitat wird oft auch als Vergleich oder Metapher zu anderen Massenverbrechen verstanden. Siehe: Klüger (1992, S. 75).

[2] Franziskus (2003, S. 59).

[3] Für Hans Waldenfels ist die Kontextualität der Schlüsselbegriff, um das Christentum zukunftsoffen zu gestalten. Die beiden Momente Schrift und Tradition, auf die theologisches Denken aufbaut, werden durch Erfahrung als drittes Moment ergänzt. Damit möchte Waldenfels auf die Pluralität von Kontexten eingehen, die die theologische Besinnung im aktuellen Lebensraum ermöglicht, so wie es das Zweite Vatikanische Konzil vorgesehen hat. Nur kontextuell-dialogisch ist dies für Waldenfels möglich. „Inzwischen ist die Wahrnehmung der sich ändernden Situationen vor allem im Bereich der Praxis und der Pastoral angekommen – mit dem Ergebnis, dass man auch in der aktuellen wissenschaftlichen Arbeit nicht mehr daran vorbeikommt, sich nachdrücklich den Orten und Zeiten, für die man Theologie treibt, zuzuwenden.“ Siehe: Waldenfels, Pluralismus in der Theologie. Möglichkeiten und Grenzen. Eine katholische Position, online verfügbar unter: http://www.hans-waldenfels.de/download/pluralismus_in_der_theologie.pdf, letzter Zugriff am 25.03.2015.

[4] Johann Baptist Metz spricht in diesem Zusammenhang von einem Ultimatum: „Die Situation, ohne deren Wahrnehmung christliche Theologie nicht weiß, wovon sie redet, heißt für uns hierzulande immer auch und gerade nach Auschwitz.“ Siehe: Metz (1983, hier S. 18). Siehe auch: Metz (2006, S. 38, 44) sowie Jacques Derrida (1930-2004), einer der bedeutendsten französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts und der Begründer des so genannten Dekonstruktivismus, in seinem Artikel „Einzigartigkeit, Verjährung und Vergebbarkeit“ (2006); Fackenheim (1982, S. 11-13); Knutsen (1984, S. 417-425).

[5] Johannes Paul II. hat die Shoah als „präzedenzloses Verbrechen“ bezeichnet; Johannes Paul II. am 13. Juni 1991, zitiert im Wort der deutschen Bischöfe aus Anlass des 50. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1995, verabschiedet am 23. Januar 1995 in Würzburg. Wortlaut in: Herder Korrespondenz, Jg. 49 (1995), 133-136, hier S. 133. Vgl. Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten: „Auschwitz, das vermutlich aussagekräftigste Symbol für den Holocaust des jüdischen Volkes, zeigt, wie weit ein auf Rassenhass und Herrschsucht gründendes System gelangen kann. Auschwitz hört nicht auf, ein Mahnmal zu sein, auch in unseren Tagen nicht! Es erinnert daran, dass Antisemitismus eine große Sünde an der Menschheit ist; dass jeder Rassenhass unweigerlich zur Unterdrückung der menschlichen Würde führt.“ (1994, S. 124). Vgl. auch: Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden, Wir erinnern uns: Nachdenken über die Shoah (16. März 1998). Hier wird die Shoah bezeichnet als eine „unaussprechliche Tragödie“ (S. 167), als „eine der größten Katastrophen in der Geschichte dieses Jahrhunderts, ein Faktum, das uns heute noch immer betrifft“ (S. 168), „das schlimmste von allen Leiden“ (S. 169, 177).

[6] Metz (2006, S. 44).

[7] Hebräisch für „Katastrophe, Untergang“. Zu den Implikationen dieses Begriffs und den Möglichkeiten anderer Bezeichnungen siehe z.B. Heyl (1994, S. 11-32) und das Kapitel 1.4 dieser Arbeit.

[8] Siehe Ginzel zu Auschwitz (1980, insbesondere S. 28).

[9] Greenberg (1977, hier S. 9f.).

[10] Robert McAfee Brown, Elie Wiesel. Zeuge für die Menschheit, Freiburg/Basel/Wien1990, hier: S. 184.

[11] Wiesel (1979, S. 44).

[12] Im Buch „Fragen zum Holocaust – Interviews mit prominenten Forschern und Denkern“ wird Franklin H. Littell, Ehrenprofessor für Holocaust- und Genozidstudien am Richard Stockton College, New Jersey, emeritierter Professor in Philadelphia und Mitbegründer der Annual Scholar’s Conference of the Holocaust and the Churches zum Einfluss des christlichen Antisemitismus auf die NS-Ideologie, von Professor Yehuda Bauer, der als bedeutender Historiker der Shoah gilt, zur Krise der Glaubwürdigkeit des Christentums befragt. Littell sagte dazu: „Ich glaube nicht, dass sich der christliche Glaube durch bestimmte Aussagen, Abstraktionen, Erklärungen oder Formeln artikulieren lässt. […] Die Afroamerikaner sagen ‚Do you walk the talk?’, im Sinne von ‚Lebst du, was du predigst?’ Das ist wirklich die Frage. Das ist die Bedeutung des Lehrens einer bestimmten Lebensweise, die natürlich auch etwas mit bestimmten Denkweisen zu tun hat.“ Siehe: Littell (2006, S. 231).

[13] Gottesliebe als Nächstenliebe ist ein gemeinsames Wesensmerkmal beider Religionen: „Judaism and Christianity do not merely tell of God’s love for man, but stand or fall on their fundamental claim that the human being is, therefore, of ultimate and absolute value. (‚He who saves one life it is as if he saved an entire world’ – B.T. Sanhedrin 37a; ‚God so loved the world that He gave His only begotten son’ – John 3:16.) It is the concentration of this intrinsic value and necessity of redemption, of the Messianic hope.“ Siehe: Greenberg (1977, S. 9).

[14] Irving Greenberg (1977, S. 11) nennt ein Beispiel christlicher Komplizenschaft und christlichem Antijudaismus, das ich hier stellvertretend wiedergeben möchte (aus M.D. Weissmandl, 1960, S. 24): „1942 ging der Rebbe von Nietra zum Erzbischof Kametko von Nietra, um um katholische Intervention gegen die Deportation slowakischer Juden zu bitten. Tiso, das Oberhaupt der slowakischen Regierung, war viele Jahre lang Kametkos Sekretär gewesen, und der Rebbe hoffte, daß Kametko Tiso überzeugen könnte, die Deportationen nicht zu erlauben. Da der Rebbe noch nicht von Gaskammern wußte, betonte er die Gefahren von Hunger und Krankheit, besonders für Frauen, alte Menschen und Kinder. Der Erzbischof antwortete: ‚Das ist nicht nur eine Sache von Deportation. Ihr werdet dort nicht wegen Hunger und Krankheit sterben. Sie werden euch alle dort abschlachten, Junge wie Alte, Frauen und Kinder, alle zugleich – es ist die Strafe, die ihr verdient für den Tod unseres Herrn und Erlösers, Jesu Christi – ihr habt nur eine Lösung. Tretet unserer Religion bei, und ich werde dafür arbeiten, diesen Erlaß zu annullieren.’“

[15] Celan, Aschenglorie, GW II, S. 72.

[16] Ebd.

[17] Siehe dazu auch Kapitel vier dieser Arbeit. Einen völlig anderen Weg beschreiten Ulrike Jureit und Christian Schneider in ihrem Buch: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Die beiden Autoren widmen sich der von ihnen als Kehrseite beschriebenen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland. Die von ihnen als opferidentifiziert kritisierte deutsche Gedenkkultur stehe den Erfordernissen einer globalisierten Erinnerung entgegen. Vgl. Jureit/Schneider (2010). Siehe dazu Kapitel acht und neun dieser Arbeit.

[18] Levy/Sznaider (2001) Sie schreiben: „Nichts war ‚kosmopolitischer’ als die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis.“ S. 25.

[19] Siehe dazu die Beschreibung der Erinnerungskulturen Israels und Deutschlands in den Kapiteln 7 und 8 dieser Arbeit.

[20] Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 3.2 dieser Arbeit.

[21] Siehe dazu die Kapitel 3.1 und 3.3 dieser Arbeit.

[22] Friedländer (2007, S. 119). Der Text, der im Buch unter dem Titel „‚Das Primärgefühl der Fassungslosigkeit bewahren’. Saul Friedländer im Gespräch“ erschienen ist, beruht auf mehreren Gesprächen und Interviews, die für die Publikation zusammengestellt und bearbeitet wurden.

[23] Als letzter Vers in Paul Celans Gedicht betont dieser Vers in seinem Kontext die Unmöglichkeit Auschwitz zu bezeugen. Die wahren Zeugen sind tot, alle anderen hatten das „Glück“ den Abgrund überlebt zu haben. Sie waren nicht Teil des Abgrunds. So könnte die Intention des Textes formuliert werden.

[24] Maurice Halbwachs hat den Begriff des kollektiven Gedächtnisses geprägt. Der französische Soziologe wurde im KZ Buchenwald ermordet. Nicht nur Individuen verfügen über ein Gedächtnis, auch Gruppen entwickeln für sie jeweils spezifische Formen und Figuren kollektiver Erinnerung. Diese Erinnerung besitzt eine soziale Funktion für das Kollektiv und wird deshalb kollektiv gepflegt (weniger wegen des Eigenwerts des Erinnerten). Vgl. Halbwachs (1985). Der Ägyptologe Jan Assmann und seine Frau Aleida knüpften an diesen Begriff an und entwickelten daraus das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Vgl. Assmann (2004). Siehe dazu Kapitel 3.3 dieser Arbeit.

[25] Meyer (1998, S. 23).

[26] Die historische Krise der Zeugenschaft beleuchtet der Sammelband von Baer (2000): „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah.

[27] Dazu Maurice Blanchot: „Die Notwendigkeit, Zeugnis abzulegen, ist die Verpflichtung einer Zeugenschaft, die nur von unmöglichen Zeugen – von Zeugen des Unmöglichen – abgelegt werden kann, und nur in der Singularität eines jeden einzelnen; manche haben überlebt, doch ihr Über-Leben ist nicht länger Leben, es ist der Bruch mit der lebenden Bejahung, die Bezeugung dessen, dass das, was das Leben ist (nicht das narzisstische Leben, sondern das Leben für den anderen), den entscheidenden Anschlag erlitten hat, der nun nichts mehr intakt lässt.“; in: Baer (2000, S. 12).

[28] Der Begriff ist geprägt von der gleichnamigen Publikation des jüdischen Philosophen Avishai Margalit, der damit entscheidende Anstöße für eine systematische Reflexion gegeben hat und die Diskussion um eine solche Ethik bis heute prägt. Siehe: Margalit (2002) und Kapitel sechs dieser Arbeit.

[29] Eine verzweifelte Ausweglosigkeit spricht aus den Worten Jean Amérys: „Zwar gilt die Katastrophe als existentieller Bezugspunkt für alle Juden, doch geistig nach- und vorvollziehbar können das katastrophale Ereignis nur wir, die Geopferten. Den anderen sei es verwehrt, sich einzufühlen. […] Nur zu, gute Leute, plagt euch ab, wie ihr wollt, ihr redet ja doch nur wie der Blinde von der Farbe.“ Améry (1977, S. 145). Es ist eine traurige Wahrheit, die er ausspricht, aber trotzdem ist an einer möglichen sekundären oder tertiären Zeugenschaft festzuhalten, die den Täter in den Blick nimmt und keine gefühlte Identifizierung mit den Opfern anstrebt.

[30] Diese Zeugenschaft ist mit vielen Fragen behaftet, auf die gerade erst versucht wird, Antworten zu finden. „In welcher Sprache wird die christliche Botschaft von einer Zukunft auch noch für die Toten angesichts ihrer historischen Infragestellung […] aussagbar? Welches Sprechen vermag der vielfach gerade von den Opfern bezeugten Unmöglichkeit zu verstehen (‚Niemals werdet ihr wissen.’) noch zu entsprechen – gar zu antworten? […] Worin aber besteht die Erinnerung? Was kann noch erinnert werden, wenn auch die letzten Zeugen nichts oder nicht mehr bezeugen können? Muss sich der gesellschaftliche gerade erst zu etablieren beginnende Imperativ des Erinnerns auf das ‚Erinnerbare’ beschränken und ‚das andere’ dem Vergessen überantworten? […] Was wären dann aber die Konsequenzen für ein diesem Imperativ des Erinnerns entsprechendes und angemessenes zukünftiges Sprechen?“ Zeilinger (2003, S. 179).

[31] Lawrence Langer beschäftigt sich mit Videozeugnissen über den Holocaust und zeigt in seinen Studien auf, wie die Erfahrung des Holocaust Kontinuität und Progression von Geschichte unterwandert und deren Schein aufdeckt. Der Holocaust dauert in den Erinnerungen an, ist Gegenwart und zeigt fortwährend die Abwesenheit von Sinn. Das anzuerkennen wäre der Anfang einer Auseinandersetzung, die den Zeugen ernst nimmt. „Vielleicht beginnt jetzt endlich die zweite Phase unserer Reaktion auf den Holocaust, deren Schwerpunkt nicht mehr ausschließlich auf dem Wissen über das Ereignis (dem Zustandsbereich der Historiker), sondern auf dem Modus der Erinnerung liegt, wodurch die Verantwortlichkeit unserer eigenen Vorstellungskraft und dem, was wir zuzugeben bereit sind, auferlegt wird.“ Langer (1995, S. 53-67). Siehe hierzu auch Kapitel 7.3.1.3 dieser Arbeit: Zeitzeugenvideos: Zeuge über den Tod hinaus.

[32] Der Stellenwert der Erinnerung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit ihr ist eine Verantwortung verbunden, die die Zeitstruktur aufhebt und jeden Menschen direkt mit Auschwitz in Beziehung setzt. „Heute versucht man, die Opfer ein drittes Mal zu töten [Anmerkung: nach der Ermordung und der Verbrennung], indem man sie ihrer Vergangenheit beraubt. Und nichts könnte niederträchtiger, boshafter sein als das. Ich wiederhole, nichts ist in meinen Augen so hässlich, so unmenschlich wie der Versuch, die toten Opfer ihres Todes zu berauben. Daher meine tiefe Überzeugung, jeder, der sich nicht aktiv und ständig mit der Erinnerung beschäftigt und andere mahnt, ist ein Helfershelfer des Mordens.“ Wiesel (1979, S. 42f.) Oder Adorno: „Die Ermordeten sollen noch um das Einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis.“ Adorno (1977, S. 570). Genau diese tertiäre Erinnerung stand im Mittelpunkt des neunten internationalen Holocaustkongresses in Yad Vashem, Jerusalem, der vom 7. bis zum 10. Juli 2014 unter dem programmatischen Titel „Through our own lens – Reflecting on the Holocaust from Generation to Generation“ stattfand. Die Wortwahl muss wohl bedacht sein: Warum wird „lens“ statt „eyes“ gewählt? Die Betonung wird auf die Perspektive der Opfer gelegt, durch ihre Linsen soll das Geschehen weiter gegeben werden. Damit tritt etwas Künstliches hervor, das aber, gerade weil es künstlich ist, auch so weitergegeben werden kann. Eine Geschichte durch die eigenen Augen betrachtet, verändert sich durch die jeweilige Perspektive. Es scheint, als wolle die Wortwahl „lens“ statt „eyes“ eine Konservierung von Erinnerung beschwören. Ob dies so sein wird oder so angedacht und damit auch erwünscht ist, wird in Kapitel sieben und acht näher beleuchtet werden.

[33] Ulrich Baer beschreibt Celans Dichtung als Gegen-Erinnerung. Damit ist von einer Sprache die Rede, die die lähmende Wirkung eines Geschehens auf die Sprache geschehen lässt. Celan beschreibt nicht das Grauen, seine Texte bezeugen dasselbe.

[34] Oder wie Matthias Heyl mit Blick auf die Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin erklärte: „Die ‚Nachkommen der Täter’ nehmen den Holocaust wieder in Besitz. Wem gehört schließlich die Erinnerung an diesem Geschehen? […] Der Holocaust wird re-‚arisiert’ oder, mit Henryk M. Broder gesprochen, germanisiert. Die unausgesprochene Botschaft dahinter, um über den Holocaust zu sprechen, um nach Formen des Gedenkens und Erinnerns nachzudenken, bedarf es der Juden nun nicht mehr.“ Heyl (2003, S. 82).

[35] Lenzen (2002, S. 38).

[36] Adorno (1971, S. 88).

[37] Nach Charles Kenneth Williams sind die Deutschen ein „symbolisches Volk“. Als Kollektiv besitzen sie „eine symbolische Persönlichkeit, die außerhalb existiert, aber doch mit jenem Leben verbunden ist, das man lebt.“ Sie müssten erkennen, „dass ihre Geschichte am historischen Leiden der Juden teilhat. Und dass eine solche Anerkennung auch bereitwillig vollzogen werden muss.“ Williams (2002, S. 37).

[38] Siehe dazu die Vorbemerkung dieser Arbeit.

[39] Wiehn (2003, S. 125): „Wenn man die menschliche Seite der Erlösung als Umkehr versteht, dann heißt Erinnerung Vergegenwärtigung des Vergangenen um der gegenwärtig beginnenden Zukunft willen. Dann ist Erinnerung ein bewusster Akt gegen das Vergessen und bisweilen zugleich auch ein Versuch, aus den Geschichten der Geschichte zu lernen. Erlösung durch Erinnerung als Umkehr durch Einsicht. Erinnerung gehört zwar zum Wesen des Menschen und zeichnet ihn als solchen aus, Erinnerungskultur ist jedoch humane Hochkultur.“ Siehe dazu: Mischke, „Ich war, also bin ich.“ György Konrád nahm Karlspreis entgegen; in: Südkurier vom 25.05.2001, S. 10.

[40] Im Ansatz einer neuen politischen Theologie des Subjekts haben diese Begriffe nach Johann Baptist Metz fundamentale und nicht nur abgeleitete – sozusagen „rein kategoriale“ Bedeutung. Siehe: Metz (1984, S. 63).

[41] Ausführlich behandelt in Kapitel drei und sechs dieser Arbeit: Begriffsklärung. Siehe dazu auch: Petzel/Reck (Hg.) (2003).

[42] Siehe dazu Kapitel 3.1.2.3 dieser Arbeit.

[43] „Erinnern wird hier also nicht als zu vollziehender (und abschließbarer) Akt, sondern als Modus eines Sprechens beschrieben, das die Verantwortung für die adäquate Darstellung des zu Erinnernden nicht mehr der empirisch-historischen Beschreibung der Fakten und Ereignisse auferlegt, sondern auf die Ebene persönlicher (individueller wie kollektiver) Konsequenzen verlegt.“ Zeilinger (2003, S. 181). Siehe auch: Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden: „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa“ (2001).

[44] So formuliert es Dorothe Sölle, zitiert nach: Greve (1999, S. 176ff.).

[45] So betont Franziskus die Relevanz von Erinnerung als christliche Dimension des Glaubens: „Wir dürfen die Neuheit dieses Auftrags auch nicht wie eine Entwurzelung verstehen, wie ein Vergessen der lebendigen Geschichte, die uns aufnimmt und uns vorantreibt. Das Gedächtnis ist eine Dimension unseres Glaubens, die wir ‚deuteronomisch’ nennen könnten, in Analogie zum Gedächtnis Israels. Jesus hinterlässt uns die Eucharistie als tägliches Gedächtnis der Kirche, das uns immer mehr in das Paschageheimnis einführt (vgl. Lk 22,19). Die Freude der Verkündigung erstrahlt immer auf dem Hintergrund der dankbaren Erinnerung: Es ist eine Gnade, die wir erbitten müssen. […] Der Gläubige ist grundsätzlich ein ‚Erinnerungsmensch’“. Siehe: Franziskus, Apostolisches Schreiben „Evangelii gaudium“ des Heiligen Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an den Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, 24. November 213, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 194, Bonn 2013, S. 135, Nr. 189.

[46] Die Relevanz dieses Verhältnisses für die Glaubwürdigkeit, ja das Überleben des Christentums hat wie kein anderer Johann Baptist Metz erkannt und immerwährend eingemahnt. Siehe: Metz (2006, S. 41), vgl. dazu: Würzburger Synode, Für ein neues Verhältnis zur Glaubensgeschichte des jüdischen Volkes (1975, S. 108f, hier S. 109): „Gerade wir in Deutschland dürfen den Heilszusammenhang zwischen dem altbundlichen und neubundlichen Gottesvolk, wie ihn auch der Apostel Paulus sah und bekannte, nicht verleugnen oder verharmlosen. Denn auch in diesem Sinn sind wir in unserem Land zu Schuldnern des jüdischen Volkes geworden. Schließlich hängt die Glaubwürdigkeit unserer Rede vom ‚Gott der Hoffnung’ angesichts eines hoffnungslosen Grauens wie dem von Auschwitz vor allem daran, dass es Ungezählte gab, Juden und Christen, die diesen Gott sogar in einer solchen Hölle und nach dem Erlebnis einer solchen Hölle immer wieder genannt und angerufen haben.“ Siehe dazu Emil L. Fackenheim, der aus Halle stammende, 1938 ins KZ Oranienburg verschleppte, danach emigrierte jüdische Denker, der auf seine philosophisch-theologische Antwort auf die Shoah besonders viel Kritik von jüdischer Seite bekam. Siehe: Münz (1995, S. 287) sowie das folgende Zitat von Fackenheim: „Durch diese Pflicht, das eigene Judentum anzunehmen und aktiv zu leben als Zeugnis gegen den Vernichtungswillen des Feindes, wird die durch die Shoah völlig in Frage gestellte jüdische Existenz paradoxer Weise wieder möglich, möglich, weil sie notwendig ist, um die Welt nicht der Verzweiflung über den Sieg des Bösen zu überlassen.“ Taxacher (2003, S. 148).

[47] Zum Verhältnis von Judentum und Christentum als „paradoxe Gleichzeitigkeit“ siehe: Maisch/Gollinger (2010, S. 32-47).

[48] Thoma (1983, S. 182f.).

[49] Vgl. Yerushalmi (1988, S. 111).

[50] Erinnern ist mehr als einen Faden zur Vergangenheit zu spinnen oder eine Vorstellung davon zu erhalten, wie es gewesen sein muss. Die persönliche Verantwortlichkeit muss beim Erinnern mit initiiert werden. „Erinnern ist für mich, die Vergangenheit mit dem Heute und der Zukunft zu verbinden, so wie das hebräische Wort erinnern (Zachor) es ausdrückt, zum „ver-innern“ der eigentlichen Persönlichkeit kommt das „ver-äußern“ – das Weitertragen in die Gesellschaft.“ Noa Mkayton, Yad Vashem.

[51] Erinnerungslandschaft meint hier Erinnerungskultur, ein Begriff, der erst 1990 entstanden ist und zu Beginn von Kapitel sieben erläutert wird. Er hat in der Vergangenheit viel Unbehagen erzeugt, das aber mehr auf seine missverständliche Verwendung hindeutet als auf ihn selbst. Dieser hier angedeutete Missstand besteht darin, Erinnerung als Konkurrenz zu kritischem Geschichtsbewusstsein zu sehen. Erinnerungslandschaft suggeriert dann einen Einheitsmythos. Genau das beschreibt aber eine Fehldeutung, einen Missstand. Siehe dazu: Knigge (2010) und Assmann (2013).

[52] Wenn an die Stelle der aussterbenden Erlebniserinnerungen nachträglich erworbenes Wissen tritt, droht die Gefahr, von der Ruth Klüger sprach, dass „das Körnige, das Sandige des wirklich Erlebten“ ausgefiltert wird. Siehe: Klüger (1992, S. 32). Eine weitere große Herausforderung besteht darin, dem latenten Verdacht zu begegnen, Erinnerungsarbeit diene den Interessen partikularer politischer Kollektive. Siehe dazu: Kölsch (2000).

[53] Dazu finden sich ausführliche Überlegungen in Kapitel sieben.

[54] Als Ikone des Gedächtnisses bezeichnet Aleida Assmann den Holocaust. Assmann, Soziales und kollektives Gedächtnis, online verfügbar unter: www.bpb.de/system/files/pdf/0FW1JZ.pdf, letzter Zugriff am 10.05.2014.

[55] Vgl. dazu u.a. Maier, Christian, Von Athen bis Auschwitz – Betrachtungen zur Lage der Geschichte, München 2002; Jeismann, Michael, Schuld – der neue Gründungsmythos Europas? Die Internationale Holocaust-Konferenz von Stockholm (26. – 28. Januar 2000) und eine Moral, die nach hinten losgeht; in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 454-458.

[56] Kirsch, Jan Holger, Rezension zu Daniel Leva und Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter – der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001, online verfügbar unter: http://sozkult.geschichte.hu-ber-lin.de/rezensionen/GA-2002-020, letzter Zugriff am 24.05.2014.

[57] Assmann, Aleida, Die Last der Vergangenheit; in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemplorary History (Online-Ausgabe) 4 (2007), Heft 3, online verfügbar unter: http://www.zeithostorische-forschungen.de/16126041-Assmann-3, letzter Zugriff am 24.05.2014.

[58] Die Teilnehmerliste 2012 zeigt exemplarisch die internationale Ausrichtung: 2012 nahmen folgende Direktoren von Holocaustmuseen oder jüdischen Museen teil: Avner Shalev Chairman, Yad Vashem Directorate Israel, Peter J. Fredlake Director, National Outreach for Teacher Initiatives, USHMM, USA, Jacques Fredj Executive Director, Memorial de la Shoah, France, Richard Freedman Director, South African Holocaust & Genocide Foundation, South Africa, Zvi Civins Director of Education, Jewish Holocaust Center, Melbourne, Australia, Prof. Graciela Nabel de Jinich, Executive Director, Museo del Holocaust de Buenos Aires, Argentina, Dr. IIya Altman Executive Director, Russian Holocaust Foundation, Moscow Russian Federation

[59] Vgl. Jan Assmann (1992, 2004); Aleida Assmann (1999, 2006); Bodemann (1996); Fuchs/Boschki/Frede (Hg.) (2001); Greve (1999); Korn (1999); Lenzen (Hg.) (2008); Münz (1995); Piper (1997); Schulz-Jander (Hg.) (1999); Yerushalmi (1988); Young (1992); Young (Hg.) (1994).

[60] Diner (2007) und Zuckermann (2004).

[61] Siehe: http://www.nostra-aetate.uni-bonn.de/, letzter Zugriff am 11.06.2014.

[62] Analysiert werden das Holocaust History Museum in Yad Vashem, der Ort der Information unter dem Stelenfeld (Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin), das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, das HL-Center Oslo und das Memorial Center in Budapest. Siehe: Köhr (2012).

[63] Anja Kurths untersuchte den Umgang mit der Shoah seit 1948 am Beispiel der Gedenkstätten Beit Lohamei HaGetaot, Yad Vashem und Beit Terezin. Siehe: Kurths (2008).

[64] Nachdem ich 2006 an der Lehrerfortbildung der Bezirksregierung Köln in Yad Vashem teilgenommen hatte, verbrachte ich jedes Jahr mehrere Wochen zu Forschungszwecken in Yad Vashem. Dabei steht das persönliche Gespräch mit den Mitarbeitern der deutschsprachigen Abteilung im Mittelpunkt meines Interesses und stellt Fundgrube vieler gedanklicher Auseinandersetzungen dar, die in diese Arbeit einfließen. Zudem nahm ich 2012 und 2014 an der achten und neunten internationalen Konferenz zur Holocaustforschung teil, die in Yad Vashem stattfinden und die Möglichkeiten und Herausforderungen der Weitergabe der Erinnerung an die Shoah referieren und diskutieren.

[65] Heyl (1992, S. 217).

[66] Krüger (1994, S.78).

[67] Ebd.

[68] Im Kapitel 8.1 dieser Arbeit wird der Wandel im Bewusstsein der Deutschen um den Holocaust genauer beschrieben.

[69] Zum Begriff und seiner Tradierung siehe: Münz, Christoph, „Wohin die Sprache nicht reicht…“ Sprache und Sprachbilder zwischen Bilderverbot und Schweigegebot; in: Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung: Mediale Repräsentationen der Shoah, von Bettina Bannasch und Almuth Hammer, 2004, S. 147-166.

[70] Elie Wiesel versucht in seiner Lesart den Begriff Holocaust in seiner religiös-sakralen Konnotation zu etablieren, indem er ihn wählt, um die Shoah als Teil von Geschichte als Geschichte mit Gott zu beschreiben. Er möchte das Spezifische der Tragödie als jüdische Tragödie erinnert wissen. Für ihn verkörpert Issak die jüdische Geschichte und stellt somit das erste Holocaust-Opfer dar. Insofern sei der Holocaust in der Opferung Isaaks bereits angelegt. Siehe dazu: Münz (2004, S. 158f.).

[71] Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel acht zu den Erinnerungskulturen in Deutschland.

[72] Für Matthias Heyl stellt der Begriff Shoah eine „durch die Hintertür erlangte Absolution“ dar. Er plädiert dafür, mit dem Begriff Auschwitz gerade in seiner Unzulänglichkeit und Mehrdeutigkeit Fragen zu provozieren, die verdeutlichen, dass „Auschwitz bleibt“. Siehe: Heyl (1992, S. 222, 231).

[73] Roggenkamp (1999).

Editorische Anmerkungen

Dr. Daniela Gast ist stellvertretende Schulleiterin am Gymnasium Kreuzgasse und lebt mit ihrer Familie in Köln. Mit dem vorliegenden Titel promovierte sie an der Philosophisch-theologischen Hochschule Vallendar. Die Wiedergabe der Originalauszüge an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.