Erich Zenger (1939-2010).

Am Morgen des Ostersonntags, am 4. April 2010, ist plötzlich und unerwartet Erich Zenger verstorben.

Erich Zenger war einer der renommiertesten deutschsprachigen Exegeten des 20. Jahrhunderts, der sich in besonderer Weise um den Dialog zwischen Judentum und Christentum verdient gemacht hat. Für sein Lebenswerk ist er 2009 mit dem Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen ausgezeichnet worden; die Buber-Rosenzweig-Medaille erhielt er im gleichen Jahr für sein Engagement im jüdisch-christlichen Gespräch.

Geboren am 5. Juli 1939 in Dollnstein im Altmühltal hat ihn sein Studium der Philosophie, Katholischen Theologie und Orientalistik nach Rom, Jerusalem, Heidelberg, Münster und Würzburg geführt. Nach Assistentenjahren in Münster und Würzburg lehrte Erich Zenger mehr als drei Jahrzehnte Altes Testament – zunächst in Eichstätt (1971-1973), ab 1973 in Münster, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2004 tätig war. Neben einer umfangreichen Vortragstätigkeit hatte er verschiedene Gastprofessuren inne, u.a. mehrfach an der Dormitio Abtei in Jerusalem sowie 1994 an der Humboldt-Universität Berlin. Zu Erich Zengers Selbstverständnis gehörte es, dass er sich auf den unterschiedlichsten Ebenen politisch einbrachte: So war er u.a. von 1988 bis 1991 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Katholischen Alttestamentler (AGAT); für ‚seine’ Katholisch- Theologische Fakultät an der Universität Münster wirkte er hochschulpolitisch als Geschäftsführender Direktor, Dekan und Senator.

Erich Zenger war ein unermüdlicher Hochschullehrer, der Generationen von Studierenden beeindruckt und geprägt hat. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses sah er als sein besonderes Anliegen; zahlreiche Dissertationen und Habilitationen sind unter seiner Leitung entstanden.

Eine Einzelwürdigung verdient sein herausragendes Mühen um das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum. Bereits ab 1976 war er Mitglied im Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken; seit 1994 wirkte er als Mitglied der Arbeitsgruppe „Fragen des Judentums“ bzw. der „Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum“ der Deutschen Bischofskonferenz. Nicht zuletzt war Erich Zenger von 1991 bis 1993 Mitherausgeber dieser Zeitschrift und ihr geschäftsführender Herausgeber. Angestoßen durch den im Zweiten Vatikanischen Konzil und besonders im Konzilsdokument „Nostra aetate“ markierten Aufbruch war ihm die Neubestimmung des Verhältnisses der Katholischen Kirche zum Judentum zu seinem zentralen Lebensthema geworden.

In mehr als drei Jahrzehnten wissenschaftlicher Tätigkeit hat Erich Zenger über 30 Monographien und unzählige Aufsätze vorgelegt. Einer seiner wissenschaftlichen Schwerpunke war die Erforschung der Psalmen. Viele Einzelstudien zu den Psalmen bündeln sich in der gemeinsam mit Frank-Lothar Hossfeld erarbeiteten Kommentierung der Psalmen in der von ihm selbst herausgegebenen Reihe „Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament“; bereits abgeschlossen sind zwei Bände: die Kommentierung der Psalmen 51-100 sowie der Psalmen 101-150. Als Ausdruck seines Wissenschaftsverständnisses erschloss er den Zugang zu den Psalmen auch einem breiten Publikum. Dafür stehen die vielgelesenen Bände „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern“ (1989), „Ich will die Morgenröte wecken“ (1991) und „Dein Angesicht suche ich“ (1998).

Freilich lässt sich das Interesse von Erich Zenger nicht auf bestimmte Bereiche des Alten Testaments begrenzen; vielmehr ging es ihm um die biblische Botschaft als Ganze. Dies kommt zum einen in der von ihm konzipierten und koordinierten „Einleitung in das Alte Testament“ zum Ausdruck, die 1995 in der ersten und 2008 in der siebten und mehrfach überarbeiteten und erweiterten Auflage erschienen ist. Mittlerweile gilt sie – weit über die Konfessionsgrenzen hinaus – als Standardwerk der biblischen Wissenschaft.

Grundlegend konzentrierte Erich Zenger sein theologisches Ringen auf die Frage nach einem angemessenen Verständnis der biblischen Gottesbotschaft: Aus der Perspektive „Am Fuße des Sinai“ (1993), wie eine seiner Monographien lautet, skizzierte er die im Alten Testament entworfenen Gottesbilder. Dass der Lebendige treu ist, dass die biblische Botschaft von der Zusage der unerschütterlichen Treue und der unerschöpflichen Wirkmächtigkeit des unverfügbaren Gottes spricht, gehörte zu den theologischen Gedanken, die für Erich Zenger selbst leitend waren und mit denen er nicht selten seine Vorlesungen beendete.

Dass diese Gottesbotschaft in der christlichen Theologie oftmals kaum hörbar ist, führte Erich Zenger in einem weiteren Beitrag „Das Erste Testament“ (1991) auf den latenten Markionismus zurück, der mehr oder minder verdeckt immer noch christliche Theologie prägt. Gegen die bis auf Markion (2. Jh. n.Chr.) zurückweisende christliche These, der alttestamentliche Gott sei ein ganz anderer als der gute und liebende Gott Jesu und des Neuen Testaments, betonte Erich Zenger nicht nur die Kontinuität zwischen der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Botschaft. Er zeigte darüber hinaus auch auf, wie diese These die eigentliche Gottesbotschaft des Alten Testaments zu verzerren und zu entstellen vermag. Es sei nicht nur die Perspektive „nach Auschwitz“, wegen der die christliche Theologie das Alte Testament neu lesen müsse, sondern es müsse das genuine Anliegen einer christlichen Theologie insgesamt sein, das Alte Testament als „Eigenwort mit Eigenwert“ zu lesen – um eine pointierte und treffende Formulierung von Erich Zenger aufzugreifen. Um diesem Perspektivwechsel im Umgang mit dem „Alten“ Testament auch sprachlich Ausdruck zu verleihen, hat Erich Zenger die Rede vom „Ersten“ Testament populär gemacht. Der veränderte Blick auf das Alte/Erste Testament bedeutete für Erich Zenger zugleich, die alte Dichotomie von Altem versus Neuem Testament zu überwinden und zu einem neuen Verständnis der einen, zweigeteilten christlichen Bibel zu gelangen. Für ihn verband sich diese neue Lesart mit dem Anliegen, das Verhältnis von Christentum und Kirche zum Judentum theologisch grundlegend neu zu denken.

Innerhalb des von ihm auch theologisch-wissenschaftlich vorangetriebenen jüdisch- christlichen Dialogs hat Erich Zenger die uns heute mitunter problematisch erscheinenden Aspekte ersttestamentlicher Gottesrede keineswegs ausgeblendet, sondern er hat sich ihnen offen gestellt: In seiner 1994 erschienenen Schrift „Ein Gott der Rache?“ hat er die (christlichen) Vorurteile gegenüber einem angeblich rachsüchtigen und bösen Gott des Alten Testaments aufgegriffen. Am Beispiel der Feindpsalmen konnte er plausibel machen, dass sie als poetische Gebete Medien sind, die der sprachlichen Bändigung von erfahrener und erlittener Gewalt dienen und die im Gestus des Gebetes und in der Gottesrede Wege aus der Gewalt aufzeigen. Dies tun sie – so Zenger – „im Angesicht eines Gottes, der als ‚Gott der Rache’ die gottwidrige und lebensvernichtende Gewalt als solche entlarvt und die Vision von einem Leben ohne Gewalt wachhält“.

Seine Positionen nicht nur in wissenschaftlich-akademischen Zirkeln, sondern gerade auch über den universitären Rahmen hinaus in der kirchlichen wie nichtkirchlichen Öffentlichkeit zu vertreten, war Erich Zenger ein besonderes Anliegen. Christliches Selbstverständnis zu prägen und kirchliche wie schulische Praxis zu verändern, motivierte ihn zu unzähligen Vorträgen und Fortbildungen, auch zu Projekten mit einer breiten Öffentlichkeitswirksamkeit: Genannt seien hier das „Stuttgarter Alte Testament“ (3. Auflage 2005), eine mit vielen Kolleginnen und Kollegen gemeinschaftlich erstellte Kurzkommentierung aller Schriften des Ersten Testaments, sowie seine Mitarbeit im Leitungsgremium der Deutschen Bischofskonferenz für die Revision der Einheitsübersetzung seit 2006.

Erich Zenger war ein leidenschaftlicher Theologe. Mit seiner dynamischen Art und seiner schier unerschöpflich erscheinenden Energie trat er kämpferisch, unerschrocken und einsatzfreudig auch dann für die Sache ein, wenn andere längst den „diplomatischen“ Rückzug angetreten hätten. Seine Impulse veränderten die kirchliche wie die nicht- kirchliche Öffentlichkeit und setzten im innerkirchlichen Raum wie im ökumenischen und interreligiösen Gespräch entscheidende Akzente. Dabei verstand er sich keineswegs als Einzelkämpfer, sondern arbeitete oft und gern in Gremien und Gruppen. Er organisierte gemeinschaftliche Projekte und führte sie zu einem erfolgreichen Abschluss. Erich Zenger war immer „mittendrin“ – er war ein wichtiger Knotenpunkt in vielen Netzwerken. Seine Stimme war gewichtig und wurde gehört, denn aus ihr sprachen Leidenschaft für die Sache und Wissenschaftlichkeit auf höchstem Niveau, gepaart mit einer unverwechselbaren Sensibilität. Er brachte die Dinge auf den Punkt, war kritisch, unerschrocken und streitbar, konnte zugleich zuhören und konstruktive wie inspiErich rierende Impulse setzen. So wundert es nicht, dass er 2001 den Herbert Haag- Preis „Für Freiheit in der Kirche“ erhalten hat.

In seiner 1998 publizierten Psalmenauslegung „Dein Angesicht suche ich“ schreibt Erich Zenger:

Das Gott-Geheimnis erscheint in der Bibel zuallererst und zutiefst als Gott-Suche, auf die Menschen ‚gelockt’ werden durch den sie rufenden Gott – und zu der die Menschen immer wieder neu herausgefordert werden, wenn sie sich auf das Wagnis einlassen, ihr Leben und ihren Tod im Angesicht Gottes bestehen zu wollen.

So möge nun auch für Erich Zenger die Nacht leuchten wie der Tag (vgl. Ps 139,12)!

Barbara Schmitz
Professorin für Altes Testament an der Fachhochschule in Dortmund und gehört dem Herausgeberkreis der Zeitschrift „Kirche und Israel“ an, der dieser Nachruf mit freundlicher Genehmigung entnommen wurde.