Elie Wiesel "Die Nacht" in neuer Übersetzung

Elie Wiesels Zeugnis über die Schoah, als Zeugnis größter Menschenfeindlichkeit und Gewalt, ist aus dem Französischen neu von der Forschungsstelle Elie Wiesel Tübingen/Potsdam übersetzt worden und rührt den Lesenden viel stärker als die anderen, früheren deutschen Übersetzungen an.

Elie Wiesels Aufzeichnungen und Erinnerungen (1928 –2016, siehe auch ZfBeg 1/2017) wurden bereits kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald begonnen (S. 170). Elie war danach als 17-Jähriger schwer erkrankt. Die ersten Notizen sind noch in Jiddisch (…un die welt hot geschwign). Fortgeführt wurden die Erinnerungen dann in Écouis und Ambloy, die ersten französischen Rettungsstationen überlebender Waisenkinder. Elie Wiesel berichtete in seiner Autobiografie (Alle Flüsse fließen ins Meer, dt. 1995) von dieser Zeit – am Ende wurden es 862 Seiten. Zehn Jahre hatte sich Elie Wiesel ein Gelübde auferlegt, über die Zeit in Auschwitz und Buchenwald nicht zu schreiben (S. 171) – die erlittenen und erfahrenen Gräueltaten waren für ihn nicht vermitteilbar. In Paris begann er dann eine berufliche Existenz als Übersetzer und Journalist (S. 171). Der erste Bericht in Hebräisch (wahrscheinlich an eine hebräisch-lesende Le - ser:innenschaft gerichtet) wurde erst vor einiger Zeit im Archiv der Boston University entdeckt.

Die jiddische Version des späteren Buches wurde als zusammenhängender Bericht 1953 begonnen und auf einer Schiffsreise nach Südamerika beendet: »Ich schreibe fieberhaft und atemlos, schnell und ohne das Geschriebene zu überarbeiten. Ich schreibe, um etwas zu bezeugen, damit die Toten weiterleben und um mein Überleben zu rechtfertigen. Ich schreibe, um mit den Verschollenen zu sprechen. Solange ich mich an sie wende, bleiben sie in meiner Erinnerung lebendig.« (S. 173 mit Verweis auf Alle Flüsse…, S. 326f). In einem jüdischen Verlag in Buenos Aires wurde dann das Buch 1956 unter seinem jiddischen Titel veröffentlicht. Durch Kontakte mit François Mauriac wurde 1958 eine französische Ausgabe ermöglicht. Diese ist dichter und kürzer und war an die Lesegewohnheiten der französischen Leser:innenschaft angepasst (S. 173). Der Titel war dann schon La Nuit (1962, dt. Die Nacht).

Die frühe deutsche Übersetzung genügt aber heutigen wissenschaftlichen und auch historischen Ansprüchen nicht, sodass sich die Forschungsstelle Elie Wiesel entschloss, eine neue deutsche Übersetzung anzugehen, die den Ansprüchen der wissenschaftlichen Community gerecht wird. Im Glossar sind deswegen zuerst jüdische bzw. jiddische Begriffe und auch Namen erklärt, dann in einem zweiten Teil Lagersprache und NSBegriffe. Der neuen Ausgabe sind einmal ein Vorwort von Elie Wiesel selbst (2007) und das Vorwort von François Mauriac zur französischen Ausgabe (1958) vorangestellt.

Elie Wiesel hat das Buch geschrieben, »um nicht verrückt zu werden« oder »um es zu werden«. (S. 7) Das Aufschreiben der grauenvollen Erlebnisse half ihm zu überleben (S. 8) oder um dem Überleben einen Sinn zu geben: »Habe ich, um diesen Sinn zu entdecken, eine Erfahrung zu Papier gebracht, die vollkommen sinnlos war?« (S. 8) Elie Wiesel wollte für die Opfer der Schoah Zeugnis ablegen (S. 9), aber die Erfahrungen sind für die Menschen, die die Schoah nicht erlebt haben, sperrig und fremd und auch kaum kommunizierbar, vor allem nicht in der Darstellung historischer Fakten. Die Welt, so Elie Wiesel, vergesse schnell, vor allem im Nachkriegsdeutschland, wo nicht die Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Geschichte und seiner Gräueltaten, sondern der »Wiederaufbau « im Vordergrund stand (S. 13): »Ein Buch hat heute nicht mehr die Macht, die es einst besaß. Die gestern schwiegen, werden auch morgen schweigen.« (S. 14) Elie Wiesel hat eindrücklich vor der Gefahr des Vergessens oder des Relativierens gewarnt – Verantwortung sei das Schlüsselwort der Gegenwart (S. 18).

Elie (= Elieser) Wiesel wurde am 30.9.1928 in Siebenbürgen/ Rumänien geboren, ging von 1934 bis 1944 dort zur Schule (Cheder/Jeschiwa) und wurde im Frühjahr 1944 mit seiner ganzen Familie in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau transportiert. Die Mutter und die jüngere Schwester Tsipporah wurden sofort nach ihrer Ankunft ermordet, der Vater starb dann in Buchenwald, wohin er und Elie von Gleiwitz aus hingebracht worden waren. Elie überlebte dann in Frankreich, nachdem Buchenwald befreit worden war und studierte von 1948 bis 1951 Philosophie, Literatur und Psychologie an der Sorbonne in Paris. Danach war er als Journalist tätig und traf in Paris und Antwerpen seine beiden älteren Schwestern wieder (S. 166). Er wanderte in die Vereinigten Staaten von Amerika aus und erhielt 1967 erste Ehrendoktorwürden von amerikanischen Universitäten. 1967 heiratete er Mariam E. Rose, die selbst die Schoah überlebt hatte. 1972 wurde der Sohn Shlomo Elisha geboren, und Elie erhielt die Professur für jüdische Studien an der City University of New York. Ab den 70igern begann Wiesel eine große Publikationstätigkeit in vielen Gebieten und engagierte sich für Menschenrechte, gegen Krieg, Hass, Rassismus und Antisemitismus (S. 166). Von 1976 bis 2013 war Elie Wiesel Professor an der Boston University und erhielt 1986 den Friedensnobelpreis. Ab den 80igern wurde er vermehrt auch nach Deutschland eingeladen und hielt dann infolgedessen im Jahr 2000 eine Rede vor dem Deutschen Bundestag (S. 167) und u.a. in 2009 eine Gedenkrede in der Gedenkstätte Buchenwald. Am 2.7.2016 starb Elie Wiesel in New York (S. 167).

Theologisch bedeutsam wurde Elie Wiesel in zweifacher Hinsicht: einmal als Talmudkenner und -ausleger und zum anderen als einer der Mitbegründer der sog. Theologie nach Auschwitz, die die Frage stellte: »Wo ist Gott?« – »Wo ist er?« – »… er hängt hier, an diesem Galgen…« (S. 23).

Seine Lebensgeschichte begann in Sighet mit Moj - sche-dem-Schammes, der sich in Sighet um das chassidische Gebetshaus, den Schtibl, kümmerte. (S. 27) Elie kam mit diesem tiefreligiösen Menschen 1941 in Kontakt, weil er als Jugendlicher schon denTalmud studierte und auch die Kabbala – Elie fand in Mojsche-dem- Schammes seinen chassidischen Lehrer (S. 28), und dieser hielt ihn an, Fragen zu stellen und nicht auf Antworten zu setzen (S. 29). Mojsche wurde später zu - sam men mit anderen Ausländern von ungarischen Polizisten deportiert; er kam als einziger nach Sighet zurück und erzählte von der Deportation in den Wald von Kolomyja, wo die Gestapo alle ermordete – nur Mojsche überlebte, weil man ihn für tot hielt (S. 31). Aber seine Geschichte wollte in Sighet niemand hören, geschweige denn glauben. Sieben Tage vor Pessach 1944 verhafteten die Deutschen die Vorstände der jüdischen Gemeinde in Sighet, und »die Fahrt in den Tod hatte begonnen« – die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung schritt rasch voran, und die jüdischen Bewohner: innen von Sighet mussten fortan in zwei Ghettos leben (S. 37); sie wurden später liquidiert, d.h. ermordet: »Mein Gott, Herr der Welt, sei uns in dieser großen Dunkelheit gnädig…« (S. 47).

Im zweiten Kapitel schildert Elie Wiesel die Deportation im Viehwaggon nach Auschwitz-Birkenau. Bedrückend ist die Beschreibung der Selektion auf der berüchtigten Rampe in Birkenau: Männer links, Frauen rechts (S. 59), und die weitere Selektion in arbeitsfähig und nicht arbeitsfähig: »Dort ist euer Grab. Habt ihr immer noch nicht begriffen?…Man wird euch verbrennen! Euch verglühen! Euch zu Asche verbrennen.« (S. 61)

Die Begegnung mit Dr. Mengele – grausam, hart, unbarmherzig. Elie Wiesel musste mit ansehen, wie kleine Kinder, Babys, lebend in eine brennende Grube geworfen wurden und dort jämmerlich zu Tode kamen (S. 62). Zusammen mit dem Vater kam er ins Straflager: »Nie werde ich diese Nacht vergessen, …, die aus meinem Leben eine einzige, lange, siebenfach versiegelte Nacht gemacht. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten.« (S. 65) Neben der alltäglichen Erniedrigung und Grausamkeit schilderte Wiesel aber auch Momente der Mitmenschlichkeit: »Lasst Kameradschaft unter euch walten. Wir sind alle Brüder und erleiden dasselbe Schicksal … Helft einander.« (S. 73)

Im nächsten Kapitel geht es um den Alltag im Außenlager BUNA: »Wer bist du, mein Gott, … verglichen mit dieser schmerzerfüllten Menge, die Dir ihren Glauben, ihre Wut, ihre Empörung entgegenschreit? Was bedeutet deine Größe, Gebieter der Welt, angesichts all dieser Schwäche, angesichts dieser Verderbtheit und dieser Fäulnis?« (S. 103) Elie klagte Gott an und fühlte sich in diesem Moment stärker als Adam und Eva, ja stärker als Gott. (S. 105) Die Selektion ging weiter – BUNA wurde für viele zur Hölle: »Es gab kein Wasser, keine Decken, weniger Suppe und Brot. Nachts schlief man fast nackt, bei dreißig Grad Kälte. Jeden Tag sammelte man die Leichen zu Hunderten ein.« (S. 107) Wiesel überlebte auch den Krankenbau und andere Formen der Selektion; auch die Evakuierung von Auschwitz (S. 120) nach Gleiwitz (S. 123) und das Wichtigste: Auch der Vater war dabei: »Wir blieben drei Tage in Gleiwitz. Drei Tage ohne Essen und Trinken. Man durfte die Baracke nicht verlassen. Die SS bewachte die Türe.« (S. 137) Die nächste Station war dann Buchenwald (S. 147), und den Vater verließen dort die Kräfte: »Sie werden nie mehr aufwachen: Nie mehr, verstehst Du? … Ich fühlte, dass ich nicht mit ihm stritt, sondern mit dem Tod selbst, mit dem Tod, der bereits gewählt hatte.« (S. 151) Der Vater von Elie Wiesel starb ausgezehrt an der Ruhr (S. 158) – sein letzter Laut war der Name Elieser am 28.1.1945. Elie blieb noch bis zum 11.4.1945 in Buchenwald im Kinderblock, mit 600 anderen Kindern und Jugendlichen (S. 159). Drei Tage nach der Befreiung wurde Elie sehr krank und schwebte zwischen Leben und Tod (S. 161): »Aus der Tiefe des Spiegels schaute mich eine Leiche an. Ihr Blick in meine Augen verlässt mich nicht mehr.« (S. 162)

Elies Schilderung des Grauens greift wie lange kal - te Finger ins Herz des Lesenden. Trotzdem müssen wir für dieses Zeugnis sehr dankbar sein. Auch, wenn es schier unerträglich ist, das Buch zu lesen, entbirgt sich vor unserer Seele der große Humanist Elie Wiesel, der Wärme und Zuwendung ausstrahlt. Das Buch sollte unbedingt gelesen werden, aber nicht allein, sondern vielleicht in kleinen Gesprächsgruppen, denn die Lektüre braucht Zeit und die Seele Erholung nach dem Lesen; man benötigt Gesprächsraum, um über die Erlebnisse Elie Wiesels zu sprechen und so den Ermordeten ein wenig ihres Lebens zurückzugeben.

Wiesel, Elie (2022/1962/2005):
Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis.

Neu übersetzt von der Forschungsstelle Elie Wiesel
Freiburg 2022, Herder Verlag.
192 Seiten, Euro 14,-

Editorische Anmerkungen

Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann ist Professor für Evangelische Theologie, Religionspädagogik und Schulpädagogik an der Evangelischen Hochschule in Freiburg und einer der Herausgeber der Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg).

Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), 2/3 2022.