Moment: 18 Millionen? Dann kann nicht Gaza gemeint sein, wo überhaupt nur zwei Millionen Menschen leben. Nein. Wir reden vom Sudan. Das Massensterben dort ist Folge eines Machtkampfs und eines Bürgerkriegs, vor allem aber Folge einer Politik der ethnischen Säuberung und des Einsatzes von Hunger als Waffe in der Provinz Darfur. Und wie reagiert die internationale Gemeinschaft? Die Weltöffentlichkeit? Gibt es Beschlüsse des Sicherheitsrats? Anklagen vor dem Weltgerichtshof? Jetten die Außenminister der USA und der EU hin und her, um ein Ende der Gewalt zu vermitteln? Richten die USA eine humanitäre Luftbrücke ein? Ist die Bundeswehr vor Ort, um die Lebensmittelverteilung zu schützen? Vor allem aber: Gibt es an westlichen Universitäten täglich Demonstrationen? Organisieren Intellektuelle Petitionen, bekunden ihre Betroffenheit und Empörung? Schreiben sich Leitartikler die Finger wund?
Nein? Und warum nicht? Weil die Täter arabischstämmige Generäle und ihre Milizen sind und die Opfer vor allem Schwarze. Das interessiert niemanden. Das ist nicht sexy. Das Gewissen internationaler und auch westlicher Politiker, Medien, Intellektueller und Jugendlicher steht nur auf, wenn Juden die Täter und Araber die Opfer sind. Das ist der Kern des so genannten Nahostkonflikts.
Der „Nahostkonflikt“ ist ein Euphemismus und meint den Krieg gegen Israel
Ich sage: des so genannten Nahostkonflikts. Das ist ein Euphemismus. Es geht nie um „Nahost“. Es geht um Israel. Um den jüdischen Staat. Um sein Recht auf Existenz. Um den Krieg, der seit über 100 Jahren gegen die Juden in Palästina geführt wird. Nicht um den Nahen Osten insgesamt. Niemand hat es gekümmert, dass der Libanon von 1976 bis 2005 von Syrien besetzt war. Da ging es um Araber gegen Araber. Uninteressant. Niemand hat es vor 1967 gekümmert, dass die von den Vereinten Nationen für einen arabischen Staat vorgesehen Gebiete im ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina von Jordanien beziehungsweise Ägypten besetzt wurden. Da ging es um Araber gegen Araber. Uninteressant. Zu „besetzten Gebieten“ wurden diese Gebiete erst, als sie nach dem Sechstagekrieg Israel zufielen.
Plötzlich wurden die dort lebenden Araber, die bis dahin Jordanier oder Ägypter gewesen waren, zu „Palästinensern“. Als Jordanier oder Ägypter hatten sie keine Rechte, wie ja bis heute weder das eine noch das andere Land eine Demokratie ist. Das hat niemand interessiert. Dass sie heute weniger Rechte haben als die Bürger Israels, das ist plötzlich „Apartheid“. Dass die Kindersterblichkeit in den „besetzten Gebieten“ niedriger, die Lebenserwartung höher ist als in Jordanien und Ägypten: Egal. Sie sind Opfer Israels. Dass die „besetzten Gebiete“ im Jahre 2012 nach dem „Happy Planet“-Glücksindex an dritter Stelle unter den arabischen Staaten rangierten: Egal. Sie sind Opfer Israels. Dass die Araber unter israelischer Besatzung eine, wenn auch eingeschränkte, Selbstverwaltung haben: Egal. Sie sind eben „die Palästinenser“, die von Israel besetzt und unterdrückt sind.
Der Palästinenser Julius Posener – gecancelt
Niemand kümmert es, dass dieses Wort „Palästinenser“ schon einen Alleinvertretungsanspruch auf das ganze ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina beinhaltet. Als hätten nach 1949 die Bürger der Bundesrepublik nicht nur gesagt, ihr Staat sei der einzig legitime deutsche Staat, die einzige legitime Nachfolgerin des Deutschen Reichs, sondern nur sie seien überhaupt Deutsche. Aber lassen Sie mich kurz hier persönlich werden. 1945 schrieb mein Vater als Hauptmann der britischen Armee 1945 stolz an die Verwandten in Jerusalem, und zwar in deutscher Sprache, er habe als erster Palästinenser den Rhein überquert. Wenn ich das heute erzähle, schauen mich die Leute verstört an. Ich sehe doch gar nicht arabisch aus. Auch der Name „Posener“ klingt irgendwie … na ja, jedenfalls auch nicht arabisch, eher, ähm, jüdisch. Was sie nicht begreifen: im Zweiten Weltkrieg gab es Palästinenser, die auf Seiten der Nazis kämpften, mit dem Ziel, die anderen Palästinenser mithilfe der Deutschen auszurotten. Das waren Araber. Und es gab Palästinenser, die auf Seiten der Alliierten kämpften, mit dem Ziel, den Nazismus auszurotten. Das waren Juden. Zu ihnen gehörte mein Vater. Dazu gleich mehr.
Hier nur so viel, dass die Palästinenser – die arabischen Palästinenser – durch diese Usurpation des Namens zur autochthonen Bevölkerung des Gebiets zwischen dem Fluss und dem Meer, also zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, avancierten, während die Juden zu Fremden, Invasoren, Kolonialisten erklärt werden, obwohl es dort schon seit 4000 Jahren Juden gibt, die von babylonischen, pagan-griechischen und römischen, christlich-byzantischen christlich-katholischen muslimisch-arabischen und türkisch-muslimischen Eroberern wiederholt unterdrückt, vertrieben und massakriert wurden, wovon der 7. Oktober 2023 nur das vorläufig letzte Beispiel war.
Öffentliche Meinung und Zivilcourage
Dieser Vortrag handelt von der öffentlichen Meinung als Waffe. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass in einer Demokratie die Meinung der Mehrheit zählt. Und das ist auch gut so. Aber Meinungen, Vorurteile, Emotionen sind darum auch gefährliche Waffen. Karl Popper sagte denn auch, dass die Demokratie nicht immer, vielleicht nicht einmal in der Regel die besten Menschen ins Amt bringt und dafür sorgt, dass die beste Politik gemacht wird. Für die Demokratie spricht nach Karl Popper eigentlich nur, dass man schlechte Politiker wieder loswerden und schlechte Politik korrigieren kann, ohne eine Revolution machen zu müssen. Freilich bedeutet Demokratie auch, dass schlechte Politiker gewählt und gute abgewählt werden. Und Demokratie bedeutet auch, dass manchmal Politiker ihrem besseren Wissen und ihrem Gewissen folgen müssen, auch gegen ihre Wähler. Eine Tatsache, die von Populisten gern verdrängt wird. John F. Kennedy nannte dieses antipopulistische Verhalten „Zivilcourage“.
Die öffentliche Meinung wird zur Waffe in einem Konflikt oder Krieg, wenn sie der einen Seite hilft und der anderen schadet; man sieht zurzeit in den USA, wie die Republikanische Partei, einstmals die Partei Ronald Reagans und, ja auch von George W. Bush, die Partei der Verteidigung der Demokratie weltweit, heute einer isolationistischen Stimmung folgt, wie vor dem Zweiten und nach dem Ersten Weltkrieg und die Waffenhilfe für die Ukraine blockiert. Präsident Wolodomir Selenski hat sehr deutlich ausgesprochen, was passiert, wenn diese Waffen nicht kommen: die Ukraine wird den Krieg verlieren. Und dann über kurz oder lang aufhören zu existieren.
Israel ist noch mehr von der öffentlichen Meinung in den USA und Europa abhängig. Und man sieht sowohl an US-Präsident Joe Biden wie auch an der Bundesregierung, wie schwer es heute fällt, zu Israel zu stehen. Macht die gegenwärtige Regierung in Jerusalem Fehler? Selbstverständlich. Ist sie konzeptionslos und konfus, strategisch ohne Vision, taktisch ohne Geschick? Ja. Geht es in diesem Vortrag darum? Nein. Jeder in diesem Raum könnte vermutlich einen Plan für eine Nachkriegsordnung in der Region entwickeln, jeder in diesem Raum würde sich wünschen, dass es auf dem Weg zu dieser Ordnung weniger zivile Tote und mehr Hilfe für die zivile Bevölkerung gäbe.
Aber darum geht es nicht. Nicht in diesem Vortrag, und auch nicht grundsätzlich, weil die Delegitimierung des jüdischen Staates, die Dämonisierung des jüdischen Staates, die Anwendung doppelter Maßstäbe – wie kommen die Urheber der Kriege in Serbien, Afghanistan, im Irak in Libyen, gegen den IS in Syrien und im Irak dazu, Israel wegen ziviler Toter und eines versehentlichen Angriffs auf Mitarbeiter eines Hilfswerks zu verurteilen? – weil all das lange vor dem 3. Oktober wirksam war, jetzt wirksam ist und in Zukunft wirksam sein wird, wenn Binyamin Netanyahu längst Geschichte ist, Israel aber nach wie vor der Jude unter den Staaten sein wird, eben weil es ein jüdischer Staat ist.
Was Juden nicht sind, und was Israel nicht ist
Und hier nur zur Begriffsklärung: Israel ist ein jüdischer Staat, wie Deutschland, der Name sagt es, ein deutscher Staat ist. Der Nationalstaat des jüdischen Volkes, kein religiöser Staat wie die islamische Republik Iran. Um den Unterschied klarzumachen, wollte Staatsgründer David Ben Gurion lieber von „Hebräern“ als von Juden reden; wer nach Israel kam, wurde „Hebräer“ und ließ die Eigenschaft als „Jude“, als allenfalls geduldete, aber wechselweise verachtete und gefürchtete Minderheit, mit allem, was dieser Zustand an charakterlicher Verbiegung mit sich bringt, hinter sich, wird erst Staatsbürger im vollen Sinn des Worts, nicht dank der Großzügigkeit des Mehrheitsvolks, des Wirtsvolks, wie man früher sagte, womit die anderen nicht Gäste waren, sondern Parasiten, sondern aus eigenem Recht.
In der gegenwärtigen Krise hält die Bundesregierung zu Israel, obwohl das in großen Teilen ihrer Basis nicht populär ist, von Absurditäten wie der Anklage der Sandinisten – ausgerechnet dieser Banditen! – gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord. Das muss man der Ampel bei aller Kritik im Einzelnen hoch anrechnen. Man muss aber fragen, darum geht es in diesem Vortrag, warum große Teile der Basis der jetzt regierenden Parteien – und von Teilen der Opposition, etwa der Linkspartei und des BSW – von vornherein geneigt sind, Israel kritisch zu sehen, von einem Apartheidstaat reden, einem Unterdrückerstaat, einem rassistischen Staat, einem neokolonialen Projekt, das sich gegen People of Colour richtet, einem Werkzeug des westlichen Imperialismus und dergleichen mehr.
Dass große Teile der AfD Israel unterstützen, weil sie Israel genauso sehen, aber das gut finden, müssen wir hier nicht diskutieren.
Es geht also nicht um Einzelheiten des gegenwärtigen Konflikts. Es geht nicht darum, dass in den Medien seit Beginn der israelischen Antiterroroperation die frei erfunden Verlustzahlen der Hamas wiederholt werden. Dass niemand fragt, wie viele der angeblich zivilen Opfer eigentlich Hamas-Kämpfer sind. Es geht nicht darum, dass immer wieder von israelischen Angriffen gegen Krankenhäuser berichtet wird, obwohl es sich um Angriffe gegen Terrorzentralen der Hamas handelt, die zynischerweise und gegen alle Regeln des Krieges in Krankenhäusern eingerichtet wurden. Es geht nicht darum, dass seit Monaten behauptet wird, in Gaza würden Menschen bald hungers sterben, die Hungersnot aber – anders als im Sudan – nie eintritt. Es geht nicht darum, dass dieser Konflikt mit einem Pogrom, einem Massaker, einer Inszenierung der Endlösung der Judenfrage eingeleitet wurde, dass zu dieser Inszenierung widerliche Gewalt gegen jüdische Frauen gehörte, brutalste Massenvergewaltigungen, die Verstümmelung lebender und toter Frauen, die halbtot einer johlenden, Meute vorgeführt wurden, alles Dinge, die der Islam übrigens strengstens verbietet, und dass die Mehrheit der Organisationen, die in der #MeToo-Bewegung tätig waren und sind, schallend schweigen, dass also jüdische Frauen faktisch aus der weiblichen Menschheit ausgeschlossen werden – es geht um die Frage, wie es zu einer solchen Fühllosigkeit kommt. Es geht darum, wie es kommen kann, dass man Israel heute gegenüber so wenig Mitgefühl zeigt, wie gegenüber Deutschland nach 1945.
Die Lust am Täterstaat
Im Namen des Antifaschismus wurden schreckliche Verbrechen an Deutschen begangen, Terrorbombardements, Massenvergewaltigungen, millionenfache Vertreibung, ethnische Säuberung, Landraub. Das Mitleid hielt sich in Grenzen, weil Deutschland der Täterstaat war, weil die Deutschen das Volk der Täter waren; ja bis heute besteht darum eine Scheu, an dieses Leid zu erinnern, selbst, ja gerade unter Deutschen. Aber so falsch diese Scheu ist: immerhin stimmt es, dass Deutschland den Krieg begonnen, die Nachbarländer unterworfen hat, die slawischen Völker versklaven, die Juden ausrotten wollte – und bei letzterem Kriegsziel ziemlich weit gekommen ist.
Israel aber ist das Gegenteil des Zerrbilds, das eine bestimmte angeblich progressive, angeblich linke Theorie aus ihm machen will. Um diese Theorie geht es, nicht um die Einzelheiten der aktuellen Etappe des ewigen Widerstands der Juden gegen den ewigen Versuch, sie vom Gesicht der Erde zu tilgen.
Man versteht ja, wie gut es manchen Deutschen tut, wenn sie sagen können: Die Juden tun den Palästinensern das an, was wir ihnen angetan haben. Das relativiert die deutsche Schuld gleich zweifach. Man versteht, wie sich gerade bei deutschen Linken, die sich – sogar aus ehrenhaften, wenn auch falschen Gründen – weigerten, in die deutschen Klagen über Vertreibung und Annexionen einzustimmen, das Verdrängte als Klage über die Vertreibung der Palästinenser wiederkehrt. Wie der völkische Nationalismus, den man bis zur Selbstverleugnung bekämpft, wiederkehrt in der Vorstellung, „Palästina“ den Palästinensern judenrein übergeben zu können.
Beginnen wir daher mit einer aktuellen Losung: „Free Palestine from German Guilt!“ Das riefen junge Deutsche zu Beginn der israelischen Offensive vor dem Außenministerium in Berlin. Nach dieser Lesart sind die Deutschen schuld an dem Elend der Araber. Der Holocaust habe erst zur Massenauswanderung der Juden aus Europa und also zur Masseneinwanderung der Juden nach Palästina geführt, wodurch erst die Juden demographisch stark genug wurden, sich gegen die Araber zu behaupten und sie sogar 1948 teilweise zu vertreiben. Palästina von deutscher Schuld befreien hieße also konsequent, Palästina von den Juden zu befreien.
Die Losung unterstellt aber auch, die Deutschen würden vor lauter schlechtem Gewissen wegen des Genozids an den Juden sich nicht trauen, Israels Genozid an den Palästinensern zu kritisieren. So muss man logischerweise dieses schlechte Gewissen attackieren, damit sich Deutschland einreiht in die Phalanx der Staaten des globalen Südens, die Israel als Apartheid-Staat, als Staat weißer Siedler, als neokolonialistisches Projekt bekämpfen. Im Grunde genommen sagte das schon vor 50 Jahren der deutsche Terrorist Dieter Kunzelmann: Die Deutschen müssten ihren „Judenknax“ überwinden, bevor sie sich einreihen könnten in den revolutionären Kampf der Völker gegen den Imperialismus.
Deutsche RAF-Terroristen ließen sich denn auch folgerichtig von palästinensischen Terroristen an der Waffe ausbilden. Dafür rächten sie sich, indem sie in der nach Entebbe entführten Passagiermaschine die Selektion der jüdischen von den nicht-jüdischen Geiseln vornahmen. Sie taten es anhand der Nachnamen: Schmidt – freilassen; Posener – hiergeblieben. Das war 1976. Vor fast 50 Jahren, und erst 30 Jahre nachdem deren Väter erzwungenermaßen mit dem Morden aufhören mussten.
Die postkoloniale Theorie und die Singularität des Holocausts
Aus dieser Haltung heraus ist die nur scheinbar akademische Diskussion um die Einmaligkeit – die Singularität – des Holocausts zu verstehen. Schon 1955 behauptete der afrokaribische Politiker und Autor Aimé Césaire, die Weißen würden an Hitler nicht etwa „die Erniedrigung des Menschen an sich“ kritisieren, sondern „das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Demütigung des Weißen und die Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren.“ Ähnliches schrieb Césaires Schüler, der Psychoanalytiker Frantz Fanon, der zum wichtigsten Theoretiker der antikolonialen und postkolonialen Bewegung wurde.
Nach dieser Lesart ist der Kolonialismus, die Entmenschlichung des kolonialisierten Menschen, das Ur-Verbrechen der Weißen; der Holocaust ist nur ein weiteres Kapitel in diesem Buch des weißen Schreckens, das sich nunmehr gegen andere Weiße richtet.
Man könnte ganze Abende mit einer Kritik dieser Sichtweise zubringen. Setzen wir voraus, dass der Kolonialismus und gar die Sklaverei aus heutiger Sicht nicht zu rechtfertigen sind. Halten wir aber auch fest, dass Unterdrückung und Sklaverei kein ausschließlich europäisches Phänomen waren und sind. Die muslimischen Araber haben die schwarzen Völker Afrikas vom siebenten Jahrhundert an immer wieder überfallen. Fast 800 Jahre lang haben Araber mit Hilfe örtlicher Machthaber den Handel mit afrikanischen Sklaven betrieben und hatten bereits über zehn Millionen Afrikaner deportiert, bevor die Europäer um 1500 auf der Bildfläche auftauchten. Halten wir auch fest, dass Türken und sarazenische Piraten jahrhundertelang hellhäutige Europäer gefangen nahmen und als Sklaven verkauften, gern auch Frauen als Sexsklavinnen, wovon etwa Mozarts „Entführung aus dem Serail“ handelt.
Die Araber haben überdies ehedem christliche Gebiete wie Nordafrika, Spanien, Sizilien und Palästina kolonisiert, die Türken haben das ehemalige Kernland des oströmischen Reichs unterworfen. Während die Europäer Afrika, Amerika, Indien und Ozeanien kolonisierten, haben die Osmanen den Balkan kolonisiert.
Halten wir auch fest: Auch Völkermorde sind keine europäische Erfindung. Niemand kann leugnen, dass der deutsche Völkermord an den Herero und Namib ein unverzeihliches Verbrechen war, aber das gilt auch für den türkischen Völkermord an den Armeniern, vom Wüten der Mongolen gar nicht erst zu reden. Nicht erst gegen die kolonisierten Völker erwiesen sich die Europäer als grausam was die Europäer einander etwa in den 30 Jahren zwischen 1618 und 1648 im Namen der Religion antaten – und in den vier Jahren 1914 bis 1918 im Namen der Nation und der Kultur – übertrifft an Barbarei so ziemlich alles, was sie als Kolonialisten anstellten, von den millionenfachen Morden Lenins, Stalins und Mao Zedongs an der eigenen Bevölkerung ganz zu schweigen.
Kurzum, die Unmenschlichkeit hat viele Gesichter, und der europäische Kolonialismus ist nur eines davon, und weder eine weiße Erfindung noch erst recht das Muster für den Holocaust. Denn das unterscheidet ja den Holocaust gerade von all den kolonialen Verbrechen, und nur deshalb ist er singulär: Den Nazis ging es eben nicht darum, die Juden auszubeuten und zu unterdrücken, wie ein koloniales Volk. Es ging ihnen darum, die Juden vom Gesicht der Erde zu tilgen. Die Nazis folgten nicht dem Muster der Unterdrückung des Herero-Aufstands, sondern dem Muster der Judenpogrome des Mittelalters und der Neuzeit.
Der Antisemitismus ist älter als der Rassismus
Und es ist eben nicht so, dass der Rassismus erfunden wurde, um die Unterwerfung der Kolonialvölker zu rechtfertigen und dann erst auf „Weiße“ wie die Juden angewendet wurde. Vielmehr ist es umgekehrt. Es ist kein Zufall, dass 1492 das Jahr des Aufbruchs des Kolumbus nach Amerika und zugleich der Vertreibung der Juden aus Spanien ist. Die Fahrten des Kolumbus markieren den Beginn der globalen Expansion Europas, der kolonialen Unterwerfung der Welt; doch zugleich markieren sie den Beginn der Ideologie der Limpieza de Sangre, der Reinheit des Blutes, die nicht gegen die Azteken, Inka und Maya in Südamerika angewendet wurde, sondern gegen die Conversos in Spanien, gegen die Juden und Muslime, die zum Christentum konvertiert waren, um der Vertreibung zu entgehen, und auf die nun der Terror der Inquisition angesetzt wurde.
Juden galten damals in Spanien ebenso wenig als „Weiße“ wie Muslime. Die Antisemiten schlossen sie ebenfalls aus dem Haus der Weißen aus, indem sie die Juden zu „Semiten“ erklärte, also zu Brüdern und Schwestern der Araber. Wenn jetzt „People of Colour“ ihrerseits die Juden aus dem Haus des globalen Südens ausschließen, indem sie sie zu Weißen erklären, so zeigt das nur, dass der Antisemitismus fast beliebig seine Form ändern kann, wie das Monster in den „Alien“-Filmen, wie ein Virus, das immer wieder mutiert, um die Abwehrmechanismus der Körper zu unterwandern. Wie Jean-Paul Sartre sagte: Es kommt nicht darauf an, was der Jude macht. Es kommt darauf an, wie ihn der Antisemit sehen will. Sondern sich die Juden ab, wirft man ihnen vor, sich nicht integrieren zu wollen; assimilieren sie sich, wirft man ihnen vor, sich zu tarnen, um die Gesellschaft heimlich zu zerstören; sind sie eine Diaspora, wirft man ihnen vor, zur Staatenbildung unfähig zu sein; bilden sie einen Staat, wirft man ihnen vor, Nationalisten zu sein; sind sie friedfertig, sagt man ihnen nach, vom Soldatischen und Heldischen nichts zu verstehen, bilden sie eine Armee, wirft man ihnen vor, Militaristen zu sein. Und so weiter und so fort. Der Spruch stimmt schon: Den Juden wird man Auschwitz nie verzeihen.
Es geht um den Antisemitismus, um eine Ideologie, nicht um Personen
Und übrigens; ich sage es hier, weil es wichtig ist. Ich habe oben von Antisemiten gesprochen, und die gibt es, und zwar nicht zu knapp. Aber der Antisemitismus ist eben nicht einfach die Eigenschaft oder Meinung bestimmter Menschen, die man isolieren, neudeutsch canceln könnte. Er ist ein eben ein Virus, der den Geist krank macht. Auch derjenigen, die von sich ehrlich behaupten können, sie seien keine Antisemiten. Die Philosophen der Frankfurter Schule glaubten, die Ursache des Antisemitismus im autoritären Charakter gefunden zu haben. Der nach oben katzbuckelt, sucht nach unten ein Opfer, das er treten kann. Radfahrerhaltung. Damit wäre die antiautoritäre Revolte zugleich die Lösung vom Antisemitismus.
Es ist anders gekommen. Die antiautoritären 68er wähnten sich frei vom Antisemitismus – und fielen postwendend der Pandemie des Antizionismus zum Opfer.
Die postkoloniale Theorie feiert den antikolonialen Befreiungskampf der Völker des globalen Südens und ist bereit, ihnen allerlei Unvollkommenheiten nachzusehen: Ökonomische Misserfolge, Unterentwicklung, Hunger? Alles Erbe des Kolonialismus. Korruption? Diktatur? Stammesfehden? Unterdrückung der Frau? Genitalverstümmelung? Schwulenfeindlichkeit? Alles Geburtswehen einer besseren Gesellschaft. Wenn sich aber ein seit 2000 Jahren grundlos unterdrücktes Volk seinen eigenen Staat bildet, eine Demokratie obendrein, in der die Frauen und die Schwulen gleichberechtigt sind, wenn dieses Volk nicht nur mit den Kibbuzim die einzigen freiwilligen sozialistischen Gesellschaften der Erde schafft, sondern zugleich die nach den USA dynamischste High-Tech-Industrie des Planeten – dann ist dieses Israel nicht etwa das Modell eines Entwicklungslands, ein Beispiel – wie Südkorea oder Taiwan oder Singapur – für die Möglichkeiten des globalen Südens, sondern ein Vorposten des Imperialismus und Kolonialismus. Dann ist das Lob etwa für die Freiheit, die LGBTQ+ Menschen in Israel genießen, „Pinkwashing“: eine bloße rosarote Tünche, Makeup, die nur die hässliche Fratze des kolonialistischen Siedlerregimes unkenntlich machen soll.
Und wenn wir beim Siedler-Regime sind: Ja, die Siedlungen im Westjordanland sind problematisch, wenn es auch merkwürdig ist, dass ausgerechnet jene, die hierzulande Multikulturalismus predigen und feiern und kein Problem damit zu haben scheinen, dass ganze Stadtviertel No-Go-Areas für Schwule, unbegleitete Frauen oder Juden mit Kippa sind, das Westjordanland wiederum ethnisch rein arabisch halten wollen, was es übrigens nie war. Wo sind denn die jüdischen Erzväter und Erzmütter Abraham und Sarah, Isaak und Lea, Jakob und Rebekka begraben? In Hebron, einer Stadt, die bis zum Pogrom von 1929 eine jüdische Gemeinde hatte und heute zu 95 Prozent für Israelis gesperrt ist. Wo stand der Tempel des jüdischen Königs Salomon? Auf dem Tempelberg in Jerusalem, wo Juden heute nicht beten dürfen. Wohin wurde der geblendete jüdische Kämpfer Simson von den Philistern geschleppt? Nach Gaza. Wo wurde der Jude Jesus geboren? In Bethlehem, der Stadt des jüdischen Königs David. Und so weiter und so fort.
Wenn aber Postkoloniale, arabische Nationalisten und muslimische Maximalisten das „Siedlerregime“ kritisieren und dessen Ende fordern, so meinen sie nicht die Siedlungen in Hebron oder rings um Jerusalem, sondern Israel insgesamt, das als weißes Siedlerregime wie das weiße Siedlerregime in Rhodesien oder das Burenregime in Südafrika bezeichnet wird. In dieser Lesart sind die Juden per definitionem Siedler, ob sie nun im Kibbuz arbeiten oder in der Fabrik, ob sie Unternehmer oder Arbeitnehmer sind, Ärzte oder Müllwerker, Akademiker oder Entertainer, ob sie eine Minderheit sind, wie im Westjordanland, oder eine Mehrheit, wie in Israel. Und ihnen ist nicht, wie in Südafrika oder Simbabwe, die Enteignung zugedacht, sondern die Vertreibung und Vernichtung.
Der Großmufti, der Führer, der Islam und die Blockfreien
Tatsächlich ist der Kampf gegen Israel aber nicht etwa ein antikolonialistischer Befreiungskampf, sondern die Fortsetzung des Holocausts mit anderen Mitteln. Mohammed Al-Husseini, Großmufti von Jerusalem, der schon 1929 Pogrome gegen Juden in Palästina – etwa in Hebron – organisierte, veröffentlichte 1937 ein Pamphlet, in dem er alle Muslime aufforderte, Mohammeds Kampf gegen die Juden fortzusetzen, die er als „Mikroben“ und „Abschaum aller Länder“ bezeichnete. Die kommende Wiedergeburt der Muslime machte er von der Ausrottung aller Juden abhängig. Ab 1941 agitierte Al-Husseini von Deutschland aus für die Vernichtung der Juden, warb Bosnier und Kroaten für die Waffen-SS an und wurde zur Belohnung von Heinrich Himmler zum SS-Gruppenführer ernannt. Mit Adolf Eichmann und anderen Technikern der Endlösung besprach der Mufti wie Palästina nach dem Sieg Rommels gegen die Briten judenrein zu machen sei.
Das war die Zeit, als sich mein Vater, bis dahin als Bauingenieur in Palästina tätig, zur britischen Armee meldete.
Wenige Tage vor Kriegsende wurde Al-Husseini von den Deutschen ausgeflogen und landete schließlich in Ägypten, von wo aus er den Terrorkampf gegen die Juden in Palästina weiter organisierte, auch mit Hilfe von bosnischen, kroatischen, deutschen und spanischen Faschisten. Als die arabischen Staaten 1948 den von den Vereinten Nationen ins Leben gerufenen jüdischen Staat angriffen, bildete Al-Husseini eine arabische Regierung für ganz Palästina, “from the River to the Sea“, nicht wahr, die von Ägypten, Syrien, Libanon, Irak, Saudi-Arabien und Jemen anerkannt wurde. Nach dem gescheiterten Vernichtungskrieg blieb Al-Husseini bis 1962 Präsident des Islamischen Weltkongresses. Trotz seiner Nähe zu den Nazis und seines Judenhasses – oder gerade deshalb – wurde er 1955 auf der Bandung-Konferenz der Blockfreien als Held des Antikolonialismus gefeiert. Sein berühmtester Schüler war Jassir Arafat, der Husseins Kampf fortsetzte. Aber auch Mahmud Abbas, im kommunistischen Moskau ausgebildet pries den Nazi Al-Husseini als Vorkämpfer.
Mit anderen Worten: Es führt eine gerade Linie vom Kampf der Nationalsozialisten gegen die Juden zum Kampf der arabischen Staaten, der Fatah und Hamas gegen Israel. Israel ist nicht etwa, wie die Postkolonialen meinen, ein Vorposten des Kolonialismus und Imperialismus; Israel wird bekämpft, weil es ein jüdischer Staat ist; es ist nicht so, wie der lange Zeit von deutschen Politikern gefeierte sogenannte Philosoph Achill Membe aus Kamerun meint, dass Israel die Politik der Trennung fortsetzt, die auch für die Nazis und die Kolonialisten kennzeichnend ist; vielmehr sind Israels Feinde, ob sie sich Hamas oder Hisbollah nennen, ob sie in Teheran sitzen oder in Beirut, Damaskus oder Gaza, Fortsetzer des Werks der Nationalsozialisten, und die postkolonialen Theoretiker und antiisraelischen Demonstranten von Berkeley bis Bremen ihre nützlichen Idioten.
Und nicht nur sie. So müsste man dieser Tage erwarten, dass Intellektuelle postkolonialer Couleur, Akademiker und ihre Studentinnen permanent auf die Straße gehen, um auf die vergessenen humanitären Katastrophen dieser Erde aufmerksam zu machen. Am Horn von Afrika hungern über 36 Millionen Menschen; in der Sahel-Zone sind es über 34 Millionen, in der „Demokratischen Republik“ Kongo 27, in Afghanistan 24, im Jemen 21, in Pakistan 20, im Sudan I8, in Syrien 15 Millionen Menschen, die dringend humanitäre Hilfe brauchen.
Wo sind die postkolonialen Freunde des Globalen Südens?
Sie sind alle mit Gaza beschäftigt. Sie haben alle vollauf damit zu tun, Israel davor zu warnen, weiter gegen die Hamas-Terroristen vorzugehen, Israel für eine angebliche humanitäre Krise verantwortlich zu machen, die seit Monaten bevorsteht, aber nie eintritt. Merke: Elend ist nur sexy, wenn man Juden dafür verantwortlich machen kann.
Auch die anderen – die wirklichen – humanitären Krisen sind das Ergebnis von Gewalt. In fast allen Fällen sind Islamisten diverser Couleur und korrupte Regimes verantwortlich. Vom Sudan haben wir schon gesprochen. In der Sahelzone hat das Wüten islamistischer Banden dazu geführt, dass staatliche Strukturen nicht mehr funktionieren. Die radikalislamischen Taliban lassen den verhassten Westen ihre Bevölkerung ernähren; sie haben Wichtigeres zu tun, etwa Frauen zu unterdrücken. Und so weiter und so fort.
Die Postkolonialen aber, denen es angeblich darum geht, die Augen der westlichen Gesellschaften für diese Leiden zu öffnen, schweigen. Denn erstens passen Krisen, für die man den Westen nicht verantwortlich machen kann, nicht in ihr Weltbild; und zweitens sind sie selbst Opfer jener Obsession, die sie anderen vorwerfen. Sie haben einen „Judenknax“. Und das hindert sie, da muss man dem Kunzelmann sogar nachträglich Recht geben, am Eintreten für die Vergessenen dieser Erde, die, so viel ist sicher, nicht in Gaza leben.
Was ist zu tun? Ich weiß es nicht. Wir haben es mit einer Pandemie zu tun. Betrachten Sie diesen Vortrag, diesen Abend als eine Art Impfung. Die bekanntlich keinen vollständigen Schutz gewährt, aber hilft. Und empfehlen Sie die Impfung weiter. Denn diese Krankheit kann tödlich sein. Nicht für die Betroffenen. Sondern für die Betreffenden. Für die Juden.