Das Neue Testament – jüdisch erklärt

Die hier zu besprechende, kommentierte NT-Ausgabe hat ihre Vorlage in einer englischen Version, die 2011 in erster und 2017 in zweiter, revidierter Auflage erschienen ist (Jewish Annotated New Testament. Oxford: Oxford Univ. Pr. 2017). Die englische Ausgabe hat keine nennenswerte Rezeption im deutschen Sprachraum gefunden. Diese unverdient schlechte Rezeption macht die Rezension der deutschen Adaption (angesichts des Bibeltextes und der damit einhergehenden Eingriffe in das Werk kann man schlecht einfach von einer Übersetzung sprechen) zu einer Notwendigkeit.

In der Einleitung halten die Hg. fest: „Während der englische Text auf Grundlage der New Revised Standard Version verfasst wurde, stellt die vorliegende Übersetzung eine Adaption an den der deutschen Ausgabe zugrunde liegenden Text der revidierten Lutherbibel von 2017 dar. Das bedeutet, dass wir so exakt wie möglich die englischen Erläuterungen wiedergegeben haben, sofern sie sich auf inhaltliche Aspekte des Bibeltextes bzw. auf den griechischen Text beziehen.“ (xiii) Der verwendete Bibeltext ist also grundsätzlich die revidierte Version der Lutherbibel 2017 – allerdings findet sich z. B. in Joh 12,40 und Apg 28,27 neben der traditionellen Übersetzung in einer Fußnote auch eine weitere, philologisch mögliche, jedoch dem traditionellen Sinn diametral widersprechende Übertragung. Angesichts der Tatsache, dass es sich an beiden Stellen um ein Zitat aus dem Propheten Jesaja handelt (Jes 6,10), ist natürlich besonders zu begrüßen, dass der traditionellen und traditionell jüdinnen- und judenfeindlichen Übertragung hier eine alternative Übersetzung gegenübergestellt wird, die bereits seit einiger Zeit in der Online-Version der Lutherbibel 2017 verfügbar ist und in allen zukünftigen Druckversionen der Lutherbibel zu finden sein wird.

Als Rez. sieht man sich gerade im Kontext des deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurses oftmals verpflichtet, auch bei herausragenden Werken einzelne Kritikpunkte zu suchen, um zu zeigen, dass man das entsprechende Werk tatsächlich gründlich gelesen hat. Man mag es deshalb dem Rez. verzeihen, dass er sich im vorliegenden Fall gezwungen fühlt, von dieser Wissenschaftstradition abzuweichen und seiner vorbehaltlosen Begeisterung für das hier zu besprechende Werk Raum zu geben. Der einzige, vielleicht noch zu äußernde Wunsch wäre, dass es dieses Werk, das den jüdischen Kontext des NT profund erschließt, vielleicht zusätzlich noch mit dem griechischen Text des NT geben könnte.

Auf die Gefahr hin, dass dies einen raschen Nachdruck des hier besprochenen Werkes nötig machen könnte, sei festgehalten: Diese Ausgabe stellt einen Meilenstein und unentbehrliches Hilfsmittel dar, der auf keinem einzigen Schreibtisch eines:r Theologen:in im deutschen Sprachraum fehlen darf. Sie ist gleichzeitig allen zu empfehlen, die am historischen Umfeld des NT ein Interesse haben.

Jedem einzelnen Buch des NTs sind kurz gehaltene Einleitungen jüdischer Forscher:innen vorangestellt. Die Auswahl der Forscher:innen darf als gelungen bezeichnet werden, Adele Reinhartz beispielsweise – von ihr stammt die Einleitung ins JohEv – ist eine der herausragendsten jüdischen Expertinnen zu diesem Evangelium und Mark Nanos, der die Einleitung zum Römerbrief verfasst hat, publiziert seit drei Jahrzehnten zu diesem (und anderen) Paulusbriefen aus jüdischer Sicht (vgl. hierzu auch den Literaturbericht „New Perspective on Paul“ in: ThRv 117 6/2021, Sp. 417–432).

Zahlreiche informative „Infoboxen“ und viele wichtige Essays zur Geschichte, zur Gesellschaft, zu Strömungen und Gemeinschaften, zu Jüdinnen und Juden und Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden, zur Glaubenspraxis, zu Glaubensvorstellungen etc. runden diese NT-Ausgabe ab, der auch zahlreiche Karten beigefügt sind. Unter diesen Essays, die vollständig aufzuzählen hier nicht sinnvoll scheint, ist als erstes der Essay hervorzuheben, der sich mit den Irrtümern über das Judentum auseinandersetzt (Amy-Jill Levine: „Falsches Zeugnis Geben: Verbreitete Irrtümer über das antike Judentum“: 832–837). Es ist in der Tat noch immer so, dass Irrtümer über das Judentum auch durch eine Lektüre des ntl. Textes entstehen können. Deshalb ist dieser Essay – der zehn zentrale Irrtümer aufzählt – gerade auch angesichts der jüdinnen- und judenfeindlichen Instrumentalisierung ntl. Zitate während des „Dritten Reichs“ von besonderer Bedeutung. Ebenfalls hervorzuheben ist der Beitrag von Ed Kessler mit dem Titel „Das Neue Testament und die jüdisch-christlichen Beziehungen“ (837–841). Der Vf. führt aus, dass die „erste englische Ausgabe des Jewish Annotated New Testament […] entscheidend dazu beigetragen“ habe, „diesen respektvollen Dialog zwischen Juden und Christen voranzutreiben.“ (841) Dies ist gut nachvollziehbar. Es ist zu hoffen, dass die dt. Ausgabe in ähnlicher Weise den Dialog beflügeln wird. Es darf als mutige – und richtige – Entscheidung der Hg.:innen gewertet werden, dass Walter Homolka einen Beitrag zu Martin Luther verfasst hat, schließlich ist dieser Gelehrte ein profunder Kenner der Materie, der für seine oftmals pointierte Formulierungsgabe bekannt ist („‚Ertragen können wir sie nicht’ – Martin Luther und die Juden“ 842–845).

Diese wichtigen und informativen Beiträge sollten für sich alleine genommen bereits eine begeisterte Reaktion bei jede:r Rez.:in hervorrufen. Sie sind jedoch nicht das Eigentliche, was das vorliegende Werk so spannend macht: Von besonderem Interesse für jeden und jede, deren tägliches Brot die Auslegung des ntl. Textes ist, ist die Präsentation des ntl. Textes einschließlich der Anmerkungen. Die Anmerkungen sind als Hilfsmittel für die Auslegung des ntl. Textes auch eine willkommene Bereicherung bzw. Ergänzung für viele bewährte ntl. Kommentare. So findet sich beispielsweise bei der lukanischen Version der Zinsgroschenperikope direkt in der Anm. zu Lk 20,24 (mit Verweis auf weitere Informationen bei Lk 2,1) der Hinweis auf den politisch höchst problematischen Aufruf von Judas dem Galiläer, diese Steuer nicht zu zahlen. Damit wird sofort deutlich, in welchem – politisch durchaus explosiven – Kontext die Zinsgroschenperikope zu finden ist. Bei 1 Kor 7,10–16 (von dieser Stelle wird bezüglich der Auflösung christlicher Ehen das sog. privilegium Paulinum abgeleitet) findet sich bei der Diskussion der „Unreinheit“ der Kinder auch der Hinweis auf die Ehegesetzgebung unter Esra und Nehemia. Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche bisherige Kommentare zu dieser Stelle den Bezug zum Judentum für unmöglich halten, sind derartige Hinweise im Apparat, die dann auch die entsprechenden jüdischen Quellen aus Flavius Josephus oder dem Talmud anführen, ein willkommenes Korrektiv zur noch immer zu findenden Tendenz in der deutschsprachigen Auslegung der paulinischen Briefe, die jüdische Gedankenwelt, in der sich der Pharisäer Paulus weiterhin bewegt, stärker auszublenden, als dies im englischsprachigen Diskurs heute üblich ist. Diese Ausgabe des NT eignet sich aufgrund ihrer Struktur nicht nur für studierte Theolog:inn:en, sondern für alle, die ein Interesse daran haben, den biblischen Text tiefer zu erfassen. Es ist erfreulich, dass ein Jahrzehnt nach der englischen Erstausgabe nun endlich auch eine deutsche Ausgabe vorliegt.

Das Neue Testament – jüdisch erklärt
Hg. v. Wolfgang KRAUS / Michael TILLY / Axel TÖLLNER

Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2021. 976 S., geb. € 53,00

Editorische Anmerkungen

Dr. Hans Förster ist Privatdozent am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Quelle: Theologische Revue, Nr. 118, Mai 2022. Lizensiert durch Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International.