„Das ist eine Revolution – auch für unser Projekt“

Hubert Wolf im Interview über die Veröffentlichung tausender Dokumente zu Bittgesuchen jüdischer Menschen an den Papst im Zweiten Weltkrieg durch den Vatikan.

Überraschend hat das historische Archiv des Staatssekretariats des Heiligen Stuhls am Donnerstag, 23. Juni 2022, tausende Dokumente aus den erst seit 2020 geöffneten Archiven des Pontifikats Pius’ XII. online zugänglich gemacht. Es handelt sich dabei um die sogenannte Serie „Ebrei“ („Juden“), die vor allem Bittschreiben jüdischer Menschen an Papst Pius XII. im Zweiten Weltkrieg und eine Reihe von Beiakten enthält. Auch das aktuelle Projekt „Asking the Pope for Help“ von Prof. Dr. Hubert Wolf und seinem Team von der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster arbeitet unter anderem diese Akten auf, mit dem Ziel, alle Bittbriefe jüdischer Menschen an den Papst aus den vatikanischen Archiven in einer kritischen Online-Edition der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Im Interview bewertet er den Schritt des Archivs und schildert, welche Folgen er für sein Projekt hat.

Was bedeuten die nun online zugänglichen Akten aus dem historischen Archiv des Staatssekretariats für Sie und das Projekt „Asking the Pope for Help“?

Für uns alle ist das eine Revolution – und natürlich auch für unser Projekt! Die Veröffentlichung kam überraschend: Dass die vatikanischen Archive Dokumente für jedermann zugänglich im Netz veröffentlichen, habe ich in den 40 Jahren, die ich dort nun arbeite, noch nie erlebt. Sie freut uns aber sehr, denn es bedeutet für uns eine ungeheure Arbeitserleichterung. Neben vielen weiteren Akten in unterschiedlichen Archiven sind die Dokumente aus der „Ebrei“-Serie zentral für unsere Arbeit. Hier befindet sich ein Teil der Bittschreiben jüdischer Menschen an Papst Pius XII., die wir für unsere Online-Edition aufarbeiten. Diese nun nicht mehr händisch im Vatikan abschreiben oder als Kopie bestellen zu müssen, sondern stattdessen vom heimischen Schreibtisch aus einsehen zu können, bringt uns enorm weiter.

In anderen Archiven, wie beispielsweise dem Bundesarchiv in Deutschland, ist das Onlinestellen von Dokumenten keine Seltenheit mehr. Warum ist das für das Vatikanische Archiv so etwas Besonderes?

Die vatikanische Archivpolitik war bislang eine ganz andere. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mussten stets in die Lesesäle der Archive, um sich die entsprechenden Akten dort im Original ansehen und gegebenenfalls abschreiben zu können. Mit der Weiterverbreitung seiner Archivmaterialien waren die vatikanischen Archive bislang sehr zurückhaltend. Nun eine so ungeheure Menge an Dokumenten – es dürfte sich schon jetzt um rund 20.000 Seiten handeln – digital abrufen zu können, ist ein echter Quantensprung. Ähnlich wie wir waren auch große Gedenkstätten wie Yad Vashem in Jerusalem oder das Holocaust Memorial in Washington interessiert an dem Material. Kopien in dieser Größenordnung sind allerdings sehr kostspielig. Daher sind wir natürlich dankbar, dass sich das historische Archiv zu so einem Schritt entschlossen hat.

Ihr Projekt hat das Ziel, die Bittbriefe jüdischer Menschen aufzubereiten und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Wird diese Arbeit durch die Veröffentlichung der Serie „Ebrei“ nun überflüssig?

Im Gegenteil. Unser Projekt bleibt genauso relevant wie vor der Veröffentlichung. Das hat mehrere Gründe: Zum einen sind die Akten ohne weitere Erklärungen für Laien nur schwer verständlich. Das Archiv hat lediglich die originalen Dokumente entsprechend ihrer Sortierung in dieser Serie gescannt und online gestellt. Darunter befinden sich schwer lesbare handschriftliche Briefe auf Italienisch, Rumänisch, Französisch und vielen weiteren Sprachen. Zudem werden einzelne Mitarbeiter der Kurie häufig direkt adressiert. Ohne entsprechendes Fachwissen erfährt man jedoch nicht, wofür diese Person überhaupt zuständig war. Auch handschriftliche Anmerkungen auf den Dokumenten bleiben für den normalen Leser ein Rätsel. Man muss beispielsweise erst einmal verstehen, dass eine kleine Randbemerkung wie „Ex. Aud. SS“, bedeutet, dass dieses Schreiben tatsächlich dem Papst persönlich vorgelegt wurde. Ohne entsprechendes Knowhow fällt es dem Nutzer schwer, diese wichtigen Vorgänge innerhalb der Kurie zu verstehen. Unsere Edition soll aber genau das für die Öffentlichkeit leisten: Handschriftliche Briefe werden transkribiert und damit lesbar, Personen sowie Anmerkungen werden transparent erklärt und systematisiert. Und es werden natürlich viele Fragen an die Quellen gestellt: Wie vielen Juden hat der Heilige Stuhl geholfen? Wem hat er geholfen und wem nicht? Wie hat er geholfen? … Eine kritische Edition bleibt allein deshalb unerlässlich.

Und zum anderen?

Zum anderen ist auch dieser nun öffentliche ungeheure Fundus an Dokumenten nur ein Teil der Geschichte. In den vatikanischen Archiven ist nicht alles an einem Ort gesammelt worden. Die Serie „Ebrei“ im Archiv der Ersten Abteilung des Staatssekretariats enthält keineswegs alle jüdischen „Fälle“, weil sich auch in zahlreichen anderen Serien des Apostolischen Archivs, insbesondere in der Abteilung „Razza“ („Rasse“) der „Commissione Soccorsi“, aber auch in den rund 70 Archiven der Nuntiaturen unzählige Bittschreiben finden. Zudem sind die einzelnen Hilfsgesuche in der Serie „Ebrei“ dort keineswegs immer vollständig dokumentiert. Oft war eine ganze Reihe kirchlicher Akteure an einem Vorgang beteiligt und hat mit- und gegeneinander kommuniziert. Die entsprechende Korrespondenz liegt daher auch in unterschiedlichen Archiven. Sich nur auf die Serie „Ebrei“ zu stützen, würde daher zu kurz greifen.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Ja, etwa der Fall des jüdischen Handelsvertreters Georg Meyerstein, an dem man das gut illustrieren kann. Die Akten zu seinem Fall – ein Faszikel liegt in der jetzt online zugänglichen Posizione 92 der „Ebrei“-Serie – finden sich überwiegend im Bestand „Razza“ und dem Archiv der Lissaboner Nuntiatur. Aus den wenigen Stücken in der Serie „Ebrei“ erschließt sich der Fall nicht. Auch die entscheidende Bittschrift findet man hier nicht. Eine umfassende Rekonstruktion ist nämlich nur möglich, wenn man einen Fall durch alle vatikanischen Büros und durch die verschiedenen Quellenbestände hindurch verfolgt. Im Fall Meyerstein etwa ist der Papst selbst involviert. Dies wird aus den nun in den „Ebrei“ zugänglichen Dokumenten nicht ersichtlich. Die Serie „Ebrei“ liefert für die Rekonstruktion der jüdischen Schicksale einen wertvollen Baustein, die hier enthaltenen Dokumente müssen allerdings mit Informationen aus anderen Archiven abgeglichen und verknüpft werden, um den jüdischen Menschen, die sich im Zweiten Weltkrieg an den Papst wandten, wirklich eine authentische Stimme zu geben.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Westfälische Wilhlelms-Universität Münster.