Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und „Judenforscher“ Gerhard Kittel

Die beiden Historiker Manfred Gailus und Clemens Vollnhals veröffentlichen die Beiträge einer Konferenz, die 2017 in Dresden stattgefunden hat. Sie bemerken dazu in ihrer Einführung: „Seit vielen Jahren, um nicht zu sagen seit Jahrzehnten, war eine wissenschaftliche Tagung zum weithin beschwiegenen ‚Fall Kittel‘ überfällig. Sie ist niemals gekommen. Und auch im Jahr 2017 kam der Anstoß nicht aus Kittels Fach selbst, also aus der evangelischen Theologie, die doch das Thema eigentlich am meisten anginge. Eine Tagung zum offenbar heiklen ‚Fall Kittel‘, die für viele ähnlich gelagerte ‚Fälle? stehen kann, hätte bereits in die wissenschaftliche Konjunktur der 1980er-Jahre gehört und der angemessene Ort wäre wohl eher Tübingen und nicht Dresden gewesen. Aber offensichtlich war das Thema sehr lange Zeit ein Tabu, und teilweise scheint es das noch heute zu sein.“ (10)

Auch der Beitrag von Robert P. Ericksen („Schweigen und Sprechen über den ,Fall Kittel‘ nach 1945“; 19–41) thematisiert die Schwierigkeit, vor der eine Erforschung des Wirkens Kittels in Deutschland stand: „Ich war […] in der komfortablen Position, meine Arbeit in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren als US-amerikanischer Historiker und als ein Profanhistoriker zu beginnen, als jemand, der keine negativen Konsequenzen zu befürchten hatte, wenn er Kittel und andere deutsche protestantische Theologen aus der Zeit des NS kritisierte. Siegele-Wenschkewitz arbeitete dagegen in Deutschland, an einer theologischen Fakultät, an Kittels eigener Universität in Tübingen, wo sie wichtigen Leuten auf die Füße trat und gegen Tabus kämpfte. Jetzt verstehe ich, dass sie Recht hatte, als sie mir sagte, dass ein mehr kritischer, umfassenderer Bericht über Kittel nicht veröffentlicht worden wäre und ihre Karriere beschädigt hätte.“ (38) Den Abschluss des Beitrags kann man nur mit Betroffenheit zur Kenntnis nehmen: „Siegele-Wenschkewitz hatte Recht, als sie mir 1979 schrieb und Kittels Ideen als Spiegel immer noch geltender Theologien darstellte.“ (41)

Der Beitrag von Clemens Vollnhals diskutiert die positive Aufnahme des Nationalsozialismus bei vielen Vertretern des Protestantismus („Nationalprotestantische Traditionen und das euphorische Aufbruchserlebnis der Kirchen im Jahr 1933“; 43–61). Als Resümee seiner Untersuchung hält er fest: „Die Machtübernahme der Nationalsozialisten war im deutschen Protestantismus 1933 – sieht man von einigen liberalen Theologen und der kleinen Gruppe der religiösen Sozialisten ab – geradezu euphorisch als der Aufbruch in eine bessere Zukunft begrüßt worden, was nur vor dem Hintergrund der nationalprotestantischen Traditionen und der Traumatisierung durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs in der Novemberrevolution 1918 zu verstehen ist.“ (58)

Die Biographie von Gerhard Kittel wird von zwei Forschern beleuchtet. Gerhard Lindemann beschäftigt sich mit der Herkunft Kittels („Gerhard Kittel: familiäre Herkunft, Ausbildung und wissenschaftliche Anfänge“; 63–82), während Horst Junginger dessen Wirken im Nationalsozialismus thematisiert („Gerhard Kittel im ,Dritten Reich‘: Die Karriere eines evangelischen Theologen im Fahrwasser der nationalsozialistischen Judenpolitik“; 83–100). Lindemann weist dabei auf Kontinuitäten in Kittels Denken hin. In besonderer Weise ist hier natürlich die „unüberbrückbare Gegensätzlichkeit“ von Judentum und Christentum zu erwähnen (80). Horst Junginger weist auf die propagandistische Wirkung der Ausstellungen hin, an denen Kittel im Rahmen seiner Einbindung in die „Forschungsabteilung Judenfrage“ mitwirkte: „Die von der Forschungsabteilung ‚Judenfrage‘ mitorganisierte Ausstellung ‚Der ewige Jude‘ lässt deutlich erkennen, wie eng die theoretischen und praktischen Aspekte des Umgangs mit der ‚Judenfrage‘ zusammenhingen.“ (92) Auch die anderen beiden Ausstellungen, an denen Kittel mitwirkte, werden erwähnt („Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden“ und „Europas Schicksalskampf im Osten“; vgl. 93). Junginger kommt zu folgendem Ergebnis: „In Kittels Umfeld hat man sich besonders in Tübingen lange dagegen gesträubt, das Ausmaß seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus zur Kenntnis zu nehmen.“ (100)

Diese Zurückhaltung hat wohl auch verhindert, dass das von Kittel herausgegebene ThWNT die nötige Kritik erfahren hat. Bereits der Titel des Beitrags von Martin Leutzsch deutet darauf hin, dass keine große Zurückhaltung geübt wird („Wissenschaftliche Selbstvergötzung des Christentums: Antijudaismus und Antisemitismus im ,Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament‘“; 101–118). Die Kritik könnte fundamentaler nicht sein: „Es ist dieser strukturelle moderne christliche Antijudaismus, der das ThWNT insgesamt als philologisches Instrument unbrauchbar macht.“ (113)

Oliver Arnhold thematisiert die Beziehung Kittels zum „Entjudungsinstitut“ („Gerhard Kittel und seine Schüler. Welche Verbindungen bestanden zum Eisenacher ,Entjudungsinstitut‘?“; 119–134). Sein Fazit mahnt zur Zurückhaltung beim Gebrauch des ThWNT: „Auch wenn nach 1945 in dem theologischen Standardwerk der innere Zusammenhang des traditionell ‚theologisch begründeten Antijudaismus‘ und des ‚modernen rassischen Antisemitismus‘ weniger offensichtlich ist als noch in den Arbeiten des kirchlichen ‚Entjudungsinstituts‘, so ist trotzdem davon auszugehen, dass die im ThWNT verfolgten antijüdischen Konzepte auch nach der Nazizeit weiter wirkungsmächtig geblieben sind.“ (134)

Der Beitrag von Lukas Bormann beschäftigt sich mit Kittels Netzwerk („Gerhard Kittels wissenschaftliche Auslandsbeziehungen und die internationale Rezeption seiner Werke“; 135–160). Bezüglich des ThWNT bemerkt Bormann: „Die nach wie vor unersetzliche Leistung des ThWNT und die damit verbundene wissenschaftliche Anerkennung des Herausgebers auf der einen Seite und die heute mehr noch als in der direkten Nachkriegszeit offensichtliche Tatsache seiner tiefen Verstrickung in die judenfeindliche Propaganda des NS und seiner Beteiligung an dessen Verbrechen auf der anderen Seite.“ (159)

Die Ausführungen von Manfred Gailus („Gerhard Kittels ,Meine Verteidigung‘ von 1946: Rechtfertigungsversuche eines schwer kompromittierten Theologen“; 161–182) stellen den letzten Beitrag dar und können gleichzeitig als Einleitung zu den im Anhang (183–267) gebotenen Texten verstanden werden. („Kittels Gutachten gegen Herschel Grynszpan“; 185–194; Auszüge aus Kittels „Verteidigung“; 195–202; biographischer Abriss im Kontext der Zeitgeschichte [zusammengestellt von Horst Junginger]; 203–258; Bibliographie Kittels [ebenfalls zusammengestellt von Horst Junginger]; 259–267). Gailus’ Fazit zeigt die weiterhin bestehende Notwendigkeit einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem „Fall Kittel“: „[…] so wird deutlich, dass es im Fall Kittel nicht allein um ‚Meine Verteidigung‘ ging, sondern viel grundsätzlicher um ‚Unsere Verteidigung‘, in der Spitzenvertreter beider großen christlichen Konfessionen sich selbst, ihre tradierte antijudaistische Theologie, ihren religiösen Glauben, nicht zuletzt ihr Handeln im ‚Dritten Reich‘ und damit die Unschuld und ungebrochene Legitimität eines christlichen theologischen Antijudaismus im 20. Jahrhundert verteidigten. Wäre Kittel als politischer Akteur für seine Mittäterschaft und seine teils antisemitischen Schriften der Jahre 1933 bis 1945 vor der Spruchkammer für schuldig befunden worden, so wären zugleich die beiden großen christlichen Konfessionen, jedenfalls zu erheblichen Teilen, für ihr Wirken während der Hitlerzeit für schuldig gesprochen worden.“ (182)

Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und „Judenforscher“ Gerhard Kittel,
hg. v. Manfred GAILUS / Clemens VOLLNHALS.

Göttingen: V& R unipress 2020.
276 S. (Berichte und Studien, 79), kt € 40,00

Editorische Anmerkungen

Hans Förster, Dr., Projektleiter am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Quelle: Theologische Revue, 116. Jahrgang, Juli 2020.