Christlich-jüdischer Dialog: Weichenstellung in die Zukunft

Freiburg/ Fribourg – Vom 26. bis 29. Oktober wurde die Universität Freiburg (Schweiz) zum Zentrum der weltweiten christlich-jüdischen Begegnung. Die theologische Fakultät und der Internationale Rat der Christen und Juden ICCJ hatten zu einer Arbeitstagung über Bilanz und Perspektiven des christlich-jüdischen Dialogs geladen.

Christlich-jüdischer Dialog: Weichenstellung in die Zukunft

1947: Grundlagentext aus Seelisberg

Die Schweiz spielte eine besondere Rolle im Neuanfang der Beziehungen von Christen und Juden nach der Schoa. Gab es schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem im englischsprachigen Raum gemeinsame Gesprächskreise von Christen und Juden, so war nach den leidvollen Erfahrungen der NS-Diktatur und dem Ende des Krieges eine neue Klärung des Verhältnisses beider Bekenntnisse notwendig. 1947 trafen in Seelisberg 65 Vertreterinnen und Vertreter christlicher und jüdischer Organisationen zu einer internationalen „Dringlichkeitskonferenz gegen den Antisemitismus“ zusammen. In zehn Thesen einer „Botschaft an die Kirchen“ wurde die Notwendigkeit einer Neuorientierung unterstrichen und an konkreten Schritten für kirchliche Lehre und Verkündigung festgemacht. Diese Thesen gelten heute als programmatischer Ausgangspunkt des christlich-jüdischen Dialogs. Sie rufen die jüdische Identität Jesu, seiner Mutter Maria und der Apostel in Erinnerung und beziehen Stellung gegen eine antijüdische Interpretation der Passionserzählungen. Heute sind diese Tatsachen selbstverständliche Grundlage kirchlicher Lehre und Verkündigung, ebenso wie Predigten über Verfluchung und Verwerfung des jüdischen Volkes kein Thema mehr sind. 

Es bleibt allerdings auch Unerledigtes: Wie etwa schon deutsche Rabbinerkonferenzen des 19. Jahrhunderts, so bekräftigten auch die Seelisberger Thesen die unbedingte Geltung der Nächstenliebe für Juden und Christen: „Es ist hervorzuheben, dass das höchste Gebot für die Christenheit, die Liebe zu Gott und zum Nächsten, schon im Alten Testament verkündigt, von Jesus bestätigt, für beide, Christen und Juden, gleich bindend ist, und zwar in allen menschlichen Beziehungen und ohne jede Ausnahme.“ Dennoch hält sich bis heute hartnäckig das Fehlurteil, christliche Nächstenliebe sei letztlich doch umfassender, vollkommener und reiner als die jüdische. 

1948: Antisemitismus ist Sünde

Unter Anknüpfung an das Seelisberger Treffen wurde ein Jahr später, 1948, der ICCJ bei einem Kongress an der angesehenen Universität Freiburg formell begründet. Der spätere Kardinal Charles Journet, damals Dogmatikprofessor am diözesanen Priesterseminar, war gemeinsam mit dem Religionswissenschaftler Jean de Menasce in Seelisberg dabei gewesen.

An der historischen Konferenz in Freiburg wurde eine Resolution an den in Gründung begriffenen Ökumenischen Rat der Kirchen verfasst. Er enthielt die Bitte, den Antisemitismus als Sünde zu verurteilen. In der Folge wurde bei der Gründungsversammlung des Weltkirchenrats Ende August 1948 in Amsterdam Antisemitismus als „schlechterdings unvereinbar“ mit dem christlichen Glauben und als „Sünde gegen Gott und Menschen“ verurteilt: „Gott hat uns mit den Juden in einer Solidarität besonderer Art verbunden, indem er in seinem Heilsplan unser beider Bestimmung miteinander verknüpfte“, hieß es in der Erklärung.

Wie ist Verstehen möglich?

1987 war der Internationale Rat der Christen und Juden wieder an der Universität Freiburg mit seiner Jahrestagung zu Gast. Damals war das Thema „Vorurteile überwinden – eine Herausforderung vierzig Jahre nach den zehn Punkten von Seelisberg“. 2008 war es eine kleinere Konferenz von Expertinnen und Experten. Etwa 60 Personen vornehmlich aus Nordamerika, Europa und Israel nahmen an dieser Konsultation teil. Drei Hauptreferenten boten programmatische Impulse. Weihbischof Richard Sklba (Milwaukee), in der US-amerikanischen Bischofskonferenz mit dem interreligiösen Dialog betraut, benannte aktuelle Themen im Gespräch von Christen und Juden, betonte aber ebenso das in den letzten sechs Jahrzehnten Erreichte. Papst Johannes Paul II. sei es gelungen, Juden in ihrer eigenen Sprache anzusprechen und ihnen die Einsichten der Kirche im Konzilsdokument Nostra Aetate zu vermitteln. Wer könne heute diese kommunikative Aufgabe übernehmen? „Unsere Unterschiede sind aus der Notwendigkeit gewachsen, den Weg Gottes zu verstehen. Wir wissen nicht alles und brauchen die Erleuchtung durch den Heiligen Geist“, so Sklba. Als Hauptbereiche gemeinsamer Vertiefungen nannte Sklba die Frage nach dem Bund, das Thema des Landes Israel und die Mission. Als unverrückbarer Ausgangspunkt christlicher Reflexion dazu müsse das Pauluswort der unwiderruflichen Gnade und Berufung stehen, die Gott gewährt (Röm 11,29).

Der jüdische Theologe Marc Saperstein, Rektor des „Leo Baeck-College“ in London, fragte nach den Vorbedingungen des Dialogs und dem, was für jede Seiten unaufgebbar sei. Er rief dazu auf, kein „falsches Zeugnis“ gegenüber dem Dialogpartner zu geben. Eine klare Analyse der verwendeten Sprache sei dafür Voraussetzung; von metaphorischen Begriffen möge man sich um der Klarheit willen fernhalten: Was meint „Herrschaft Gottes“, was bedeutet „den Weg weiter gehen“? Im Dialog dürfe es keine Vorbedingungen, konstruierte Empörung und ritualisierte Anklagen geben. Darunter verstand er etwa auch die Feststellung einer direkte Schuld der traditionellen christlichen Verkündigung am Holocaust, was erwartungsgemäß heftigen Widerspruch auslöste.

Saperstein relativierte die Diskussion um die katholische Karfreitagsfürbitte: Benedikt XVI. hätte sicherlich keine Abwertung der Juden und des jüdischen Glaubens im Sinn gehabt, sondern nur aufgrund innerkirchlicher Notwendigkeiten gehandelt. Im „Alenu“-Gebet stehe ein jüdischer Universalismus dem katholischen entgegen: Universalismus sei grundlegend für religiöses Selbstverständnis. Ein fester Glaube auf dem Fundament der Schriften und Aufgeschlossenheit für eine Kultur des Dialogs schließen einander nicht aus, war Saperstein überzeugt..

Pluralismus ist wertvoll

ICCJ-Präsidentin Deborah Weissman (Jerusalem) thematisierte die gemeinsame Aufgabe von Christen und Juden in der heutigen Gesellschaft. Umweltschutz und wirtschaftlich-soziale Gerechtigkeit seien existenzielle Themen. Die Suche nach einem möglichen Ausgleich zwischen Religionen, die einen für sie unaufgebbaren Wahrheitsanspruch vertreten, und diesem Pluralismus galt ihr als vordringliches Anliegen: „Wie sprechen wir über den Anderen und über den Glauben des Anderen?“ In jeder Tradition gebe es peinliche Texte: „Auch die beste Rebe muss beschnitten werden, damit sie neue Frucht trägt“, ermutigte Weissmann, überholte Traditionen aufzugeben. Dazu gebe es verschiedene Wege: Manchmal sei es nötig, solche Traditionen abzuschaffen und zu beenden, manchmal genüge es, sie neu zu interpretieren. Charakteristisch für das Judentum sei, Vielfalt zu unterstützen und Verschiedenheit zu akzeptieren. Endgültigen Entscheidungen zur Wahrheit begegne das Judentum mit Skepsis. Friede sei, die Vielfalt zu organisieren und nicht, Einförmigkeit zu erzwingen. In ihrem Vortrag bot Weissmann auch einen Überblick über die biblischen und rabbinischen Traditionen der Nächstenliebe, die im Kern jüdischen Selbstverständnisses stehen.

2008: Auf dem Weg zur Gegenseitigkeit

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz in Freiburg arbeiteten nun an einem Thesenpapier, das ein Wegweiser für eine Neuausrichtung der christlich-jüdischen Zusammenarbeit sein soll. Die Kirchen sind seit Seelisberg bereits ein gutes Stück der Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses gegangen. Heute richtet sich die Einladung, das christlich-jüdische Gespräch zu vertiefen, an beide Bekenntnisse. In der vorläufigen Arbeitsfassung werden an die Kirchen Fragen gestellt, wie ernst sie die Gleichwertigkeit beider Teile der Bibel nehmen. Es geht weiter um die Anerkennung der besonderen Bedeutung des Landes Israel für jüdische Menschen und um einen aktiven Einsatz, Brücken für einen gerechten Frieden für alle dort lebenden Bewohnerinnen und Bewohner zu bauen. Auf weltweiter Ebene werden die Kirchen angeregt, auch außerhalb europäisch-westlicher Theologie den jüdischen Kontext der christlichen Botschaft bewusst zu reflektieren. Darüber hinaus sollten Christen und die Kirchen die öffentliche Anwaltschaft für den Bestand kleiner jüdischer Gemeinden in der Diaspora übernehmen.

Die jüdischen Gemeinden werden gebeten, die Anstrengungen der Kirchen und der Christinnen und Christen für eine veränderte Haltung zum Judentum wahrzunehmen und anzuerkennen. Welche Bedeutung können diese Wertschätzung und der Wunsch nach Partnerschaft für das heutige Judentum und jüdische Menschen haben? Auch die Schriften des Neuen Testaments sind jüdische Schriften und sollten als solche in jüdischen Lehrplänen in Schule und Erwachsenenbildung angesprochen werden. Unter Anderem wird auch nach der Bewertung liturgischer Texte gefragt, die als fremdenfeindlich oder elitär unzeitgemäß angesehen werden und Anstoß erregen.

Christlich-jüdische Dialogorganisationen werden aufgefordert, die über die Jahrzehnte gewachsenen positiven Erfahrungen der christlich-jüdischen Zusammenarbeit selbstbewusst und konstruktiv in den interreligiösen Dialog einzubringen. Die religiöse Überzeugung, dass jeder Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, sei der Grund, sich weltweit vorbehaltlos gemeinsam für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit einzusetzen.

ICCJ: 38 Mitgliedsorganisationen

Der Internationale Rat der Christen und Juden ICCJ ist die Dachorganisation von weltweit 38 nationalen christlich-jüdischen und interreligiösen Dialogvereinigungen. In der persönlichen Begegnung, durch wissenschaftliche Forschung, durch Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit sowie Bewusstseinsbildung in Kirchen und Gesellschaft tragen sie erfolgreich zur historischen Erneuerung des jüdisch-christlichen Verhältnisses bei. In den letzten Jahren beschäftigt sich der ICCJ zunehmend mit dem abrahamischen Dialog, der Begegnung von Juden, Christen und Muslimen. Durch seine Konferenzen bietet der ICCJ ein Forum, in dem Menschen der verschiedensten religiösen Traditionen sich über nationale und religiöse Grenzen hinweg aktueller Probleme annehmen können, um sie in persönlicher Begegnung und im Austausch von Erfahrung und Sachkenntnis zu untersuchen. Der Sitz des ICCJ befindet sich im hessischen Heppenheim im Haus, das der jüdische Denker Martin Buber bewohnte, bis die Verfolgung der Nationalsozialisten ihn zwang, aus Deutschland zu fliehen.

An den in Freiburg diskutierten Thesen feilt nun eine interne Arbeitsgruppe des ICCJ. Im Sommer 2009 sollen sie im Rahmen der ICCJ-Jahreskonferenz in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Editorische Anmerkungen

Veröffentlicht in der Schweizer Katholischen Kirchenzeitung, Januar 2009, Luzern