Bubers Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage

Die Aufsätze, die die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zu Bubers Tod umfassen, teilen sich wie folgt auf:

– Vorbemerkungen (S. 11– 45)
– Schriften zur jüdisch-arabischen Frage (S. 49–353)
– Schriften zur zionistischen Politik (S. 357– 507)
– Kommentar (S. 510 –775)
– Chronologisches Gesamtregister (S. 777– 832)

Inhaltlich gibt es zwischen den beiden Hauptteilen deutlich wahrnehmbare Überschneidungen, die auch nicht verwundern, weil Buber sich schon sehr früh von der Herzlschen Position distanziert hatte. Theodor Herzl hatte Palästina als Land ohne Volk für ein Volk ohne Land charakterisiert. Buber hat dieser Sichtweise von Anfang an heftig widersprochen und trat für ein binationales Gemeinwesen in Palästina ein, in dem die arabische Bevölkerung (christlich/muslimisch) und jüdische Migrant:innen gleichberechtigt in einem gemeinsamen Palästina arbeiten sollten.

Den politischen Zionismus à la Herzl geißelte Buber noch zu Lebzeiten Herzls und gewiss nach dessen Tod als imperialistisch und nationalistisch, und Bubers Befürchtungen wurden mit der Staatsgründung Israels 1948 dann zur politischen Realität. Buber sah im ursprünglichen Zionismus eine Art Befreiungsbewegung der jüdischen Bevölkerung vor allem Osteuropas, die sich aber mit der arabischen Bevölkerung Palästinas zu arrangieren hätte (S. 15). Die Präsenz einer arabischen Bevölkerung in Palästina war nicht zu übersehen, und Buber forderte politische, soziale und ökonomische Konsequenzen, die jedoch nur einem kleinen Teil der zionistischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts bewusst war: Achad Haam und Martin Buber opponierten gegen die viel größere Herzl-Gruppe mit ihrem Projekt des kulturellen gegen den politischen Zionismus Herzls und seiner Anhänger:innen.

Die sog. arabische Frage war von Anfang an virulent (S. 19). Die Gruppe um Ben Gurion gab sich der Illusion hin, die arabische Bevölkerung werde angesichts der jüdischen Einwanderung klein beigeben und die Vorteile wahrnehmen, die sich aus einer jüdischen Einwanderung ergeben würden (S. 23). 1922 lebten in Palästina ca. 660.641 Araber:innen gegen ca. 83.790 Jüdinnen und Juden – die arabische Mehrheit in Palästina war eine unleugbare Tatsache (S. 24). In der Balfour Declaration von 1917 wurde europäischen Juden eine Heimstatt in Palästina versprochen, ohne dieses Versprechen tatsächlich auch zu konkretisieren und mit der arabischen Bevölkerung zu kommunizieren (S. 25). Die zionistische Antwort war, von einer Minderheit zu einer Bevölkerungsmehrheit zu werden: »Dem lag die Hoffnung zugrunde, die Araber würden dies stillschweigend dulden, schließlich akzeptieren und danach trachten, mit den Juden brüderlich und friedlich zu leben« (S. 26).

Chaim Weizmann, Präsident der zionistischen Weltorganisation, plädierte 1930 für ein Palästina, in dem beide Nationen gleichberechtigt seien (S. 26). Buber unterstrich eine kommunikativ-ausgleichende Politik, in deren Zentrum die ethische Grundfrage nach einem friedlichen Zusammenleben mit der arabischen Bevölkerung stand (S. 28). Die arabische Frage sollte nicht machtpolitisch-taktisch infragegestellt werden (S. 29): »[D]ie moralische Aufgabe bestehe darin, die arabischen Befürchtungen zu zerstreuen, ohne andererseits auf die zionistischen Interessen zu verzichten, die in einem echten jüdischen, moralisch zwingenden Bedürfnis gründeten« (S. 29).

Buber forderte politische Selbstlosigkeit und gegenseitiges Vertrauen ein (S. 30). Für ihn war die Staatsgründung Israels allein auf der Linie des politischen Zionismus ein »törichtes, nicht zu rechtfertigendes Unterfangen « (S. 32). Die rote Linie für Buber war das, was er selbst »hebräischen bzw. biblischen Humanismus« nannte, nämlich die unbedingte Achtung des Nächsten (S. 34), die Anerkennung seiner jeweiligen kulturellen Leistungen und eine konsequente, individuelle und kollektive Praxis gerechten Handelns (S. 41): »Frieden ist möglich, weil er notwendig ist« (Gustav Landauer) (S. 43). Was in der gegenwärtigen israelischen Innenpolitik geschieht (zum Beispiel Benjamin Netanjahus Justizreform), unterstreicht Bubers Befürchtungen und zeigt, wie der politische Zionismus sich letztlich nicht nur gegen die arabische Bevölkerung Israels, sondern auch gegen die jüdische Bevölkerung in Israel richtet und einem autokratisch-autoritären Gemeinwesen Tür und Tor öffnet: »Solch ein rigider politischer Dualismus führt nur allzu leicht zu einer Dämonisierung des Anderen, mit dem man sich in Unfreiheit befindet… Vielmehr verpflichtet der biblische Glaube uns, unseren Nachbarn zu lieben wie uns selbst« (S. 45).

Buber sah in einer imperialistischen Interpretation einen hemmungslosen Nationalismus am Werk (S. 50) und setzte den imperialen Nationalismus mit politischem Zionismus gleich (S. 53). In der kulturellen Spielart des Zionismus geht es demgegenüber um eine religiöse- ethische Begründung und um eine umfassende »brüderliche Solidarität« mit der in Palästina lebenden arabischen Bevölkerung (S. 57) (vgl. Bubers Rede auf dem 12. Zionistenkongress 1921, S. 64–71/S. 72– 81). Buber geht es in dieser Rede darum, »mit dem arabischen Volk in einem Verhältnis der Eintracht und der gegenseitigen Achtung zu leben und im Bunde mit ihm die gemeinsame Wohnstätte zu einem blühenden Gemeinwesen zu machen« (S. 82). Gleichzeitig warf Buber von Anfang an den politischen Zionisten vor, dieses übergeordnete Ziel kontinuierlich zu vernachlässigen (S. 89) und realitätsblind zu sein (S. 91).

Die Palästina-Politik Großbritanniens wurde von Buber als ambivalent charakterisiert (Streiflichter, S. 99– 105). Buber gründete daraufhin mit anderen zusammen den Brith Shalom und forderte von der zionistischen Bewegung Selbstbesinnung (S. 108–118), was er dann nochmals 1929 in Zürich hervorhob (S. 119 –124). Buber war strikt gegen eine Marginalisierung der arabischen Bevölkerung (S. 130): »[G]ewiss, wir tun Unrecht. Genauso wie der Mensch, der lebt, Unrecht tut … ich will nicht mehr Unrecht tun, als ich muss, um zu leben « (S. 131). Buber forderte auf, Arabisch zu lernen und sich intensiv mit dem Islam zu beschäftigen. (S. 132) Ein Gemeinwesen könne nur mit Gerechtigkeit erbaut werden (S. 139): »Aber es ist ein törichter Selbstbetrug, man könne selber ein wüstes Leben führen und seine Kinder zu guten und glücklichen Menschen erziehen. Sie werden zumeist Heuchler oder Friedlose« (S. 140).

Im Brief an Mahatma Gandhi (S. 150–162) fordert Buber das Recht auf Selbstverteidigung ein und gegen die NS-Vernichtungspolitik das Recht, in Palästina leben zu dürfen: »Wir wollen nicht majorisiert werden und nicht majorisieren« (S. 163). Im Artikel Pseudo-Simsonismus wehrt sich Buber vehement gegen die Terrorpolitik des Irgun unter Menachim Begin (S. 167–171; 589–592) und plädiert für einen eigenen Weg (Haben wir einen eigenen Weg?, S. 172–175).

Sehr kritisch gegen den politischen Zionismus richtet sich der Artikel Falsche Propheten (S. 176–180) von 1940, der Bubers grundsätzliche, politische Botschaft enthält (S. 594): »Die Sucht nach dem Erfolg beherrscht ihre Herzen und bestimmt, was daraus aufsteigt; das ist’s, was Jeremia den ›Trug ihrer Herzen‹ nennt: sie trügen nicht, sie werden getrogen und können in keiner anderen Luft atmen als in der dieses Trugs« (S. 179). Und weiter: »Der falsche Prophet lebt vom Traum aus und verfährt, als ob der Traum die Wirklichkeit wäre. Der echte Prophet lebt vom wahren Worte aus, das er vernimmt …« (S. 179)

Buber plädierte zwar weiterhin für so viele Juden wie möglich in Palästina, ist aber strikt gegen eine Mehrheit. (S. 195) Aufschlussreich ist das Zwiegespräch über ›Biltmore‹ (S. 200–202), in dem Buber die Rolle des Verräters übernahm. Das Biltmore-Programm (1942) war eine Kampfansage an das Weißbuch von 1939 (S. 605ff.). Das Programm wurde 1942 in New York unter Ben Gurion verabschiedet und wollte die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina nicht länger den Briten überlassen und sah zudem eine Majorisierung der jüdischen Bevölkerung in Palästina vor. Jeder, der gegen dieses Programm war, wurde als Verräter markiert – Buber war strikt gegen diesen Plan, denn die Umsetzung dieses Plans würde einen »beispiellosen Kampf mit den Arabern nach sich ziehen« (S. 606).

Im Aufsatz Zum Problem ›Politik und Moral‹ (S. 203–206) fokussierte Buber die Implementierung einer moralisch bzw. ethisch sich reflektierenden Politik und scheiterte grandios in diesem Versuch. Die Hegemonie der Politik gegen die Moral führe zum Untergang (S. 250). Grundlegend für Bubers Position eines binationalen föderativen Staats ist der Aufsatz Zwei Völker in Palästina (S. 255–261) von 1947. Fokussiert werden darin die Selbstbestimmung der beiden Völker, Autonomie und freie Entscheidungsmöglichkeit (S. 258), was im folgenden Aufsatz Nicht ein Judenstaat, sondern ein nationales jüdisch-arabisches Staatsgebilde (S. 262– 269) noch einmal verstärkt wird: »Damit soll gesagt sein, daß ein Gemeinwesen angestrebt wird, das auf der Realität des Zusammenlebens zweier Völker errichtet ist und dessen konstruktive Grundlagen daher andere sein müssen, als die gewohnten und verbrauchten von Majorität und Minorität« (S. 265).

In Zweierlei Zionismus (S. 285–287) unterscheidet Buber noch einmal die beiden Formen des Zionismus, die eine als Wiedergeburt einer Nation und die andere als Rückkehr zur Normalität. Auch nach der Staatsgründung hörten der Jehud und Buber nicht auf, für eine Verständigung und Versöhnung zwischen den beiden Völkern zu arbeiten (S. 298–353).

Die nachfolgenden Aufsätze sind zum Teil politische, ethische und poetische Reflexionen, wie zum Beispiel Der Acker und die Sterne. Den Chaverim in Daganja zur Erinnerung (S. 369–370) oder Weisheit und Tat der Frauen (S. 376 –380), auch die versammelten Grußworte und Trauerreden gehen in diese Richtung. Sichtbar wird der leidenschaftliche Mensch Martin Buber, dessen sozialistischen und anarchistischen Ideen in der Bewegung der zionistischen Pioniere im Kibbuz und Moschaw verwirklicht worden sind (S. 402).

Beeindruckend ist das Grußwort Über Ernst Simon, den Erzieher (S. 465– 466, 719–720) vom 15.3.1959. Simon war Professor für Philosophie und Geschichte der Pädagogik und auch Direktor der School of Education an der Hebräischen Universität in Jerusalem (S. 719). Buber betont in dieser Rede die Rezeption der pädagogischen Tradition wie Jan Amos Comenius und PestaPestalozzi, d. h., der Blick geht auf das, was den zu Erziehenden unmittelbar angeht. (S. 465)

Wer die Fülle der Aufsätze in diesem Band der Werkausgabe wahrnimmt, kommt m. E. nicht umhin, den Hut vor der visionären Kraft Bubers zu ziehen, immer wieder auf die Realität zweier Völker in Palästina hinzuweisen und auch sein Problembewusstsein für die inzwischen verfahrene politische Situation in Israel/ Palästina hervorzuheben – Bubers Sicht und Kritik sind leider immer noch hochaktuell. Die im ersten Hauptteil der Schriften zusammengestellten Einwände Bubers gegen den sog. nationalen Zionismus haben auch noch heute ihre Gültigkeit und sind längst nicht überholt.

Martin Buber Werkausgabe Bd. 21:
Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage

Gütersloh 2019
Gütersloher Verlagshaus,
832 Seiten, Euro 249

Editorische Anmerkungen

Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext, 2/3-2023.