Ben Chorin, Schalom

Leo Maier

Zeuge des Einzigen
Erinnerungen an Schalom ben Chorin
20.7.1913 - 7.5.1999

Bei der ersten Begegnung wurde ich sehr spontan von Prof. Schalom ben Chorin gefragt, ob ich die Stuttgarter Ausgabe der hebräischen Bibel besitze und dort den Text des ersten Satzes des jüdischen Glaubensbekenntnisses, des Sch´ma Israel gelesen habe. Dann machte er uns auf etwas aufmerksam, was ich vorher nicht beachtet hatte: Der letzte Buchstabe des ersten Wortes ist ein Ain, der letzte Buchstabe des letzten Wortes ein Daleth, beide hervorgehoben durch größeren Druck. Beide Buchstaben zusammen ergeben die Konsonantencharakteristik des Wortes ed, Zeuge. Und der Inhalt dieses Zeugnisses ist dieser erste Satz: Höre Israel, JHVH ist unser Gott, JHVH ist ein einziger. Die Ehrfurcht vor seinem heiligen Namen verbietet uns, diesen auszusprechen, weshalb wir stattdessen stets „der Herr” sagen. Daran schloß Prof. ben Chorin seine Ausführungen über das Zeugnis des Rabbi Akiba, der bis zum letzten Atemzug seines Lebens unter größter Marterqual dem Herrn nicht untreu geworden war und das Wort echad, ein Einziger, immer wieder ausgesprochen hat. Er erzählte den aufmerksamen Zuhörern, dass dieses Wort jedem Juden beim Sterben noch vorgesprochen wird und er es, solange er kann, wiederholt. Diese Gedanken kamen mir immer wieder in den Sinn und das gerade jetzt, wo an einem schönen Frühlingstag in Israel Prof. Schalom ben Chorin am 7.5.1999 verstorben ist. Dieser Todestag zwischen den beiden jüdischen Hochfesten Pesach und Schavuoth ist ein Anlaß, die Gedanken an diesen großen Theologen, Religionswissenschaftler und Philosophen um drei Themen zu gruppieren: Pesach: Erinnere Dich — Schavuoth: Tora — Schavuoth: Erntedank.

1. Pesach: „Erinnere Dich”

Beim Pesachfest wird die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gefeiert. Immer wieder zieht sich der Grundkonsens jüdischen Glaubens durch die hebräische Bibel: Erinnere dich, dass ich der Herr, dein Gott, dich herausgeführt habe aus dem Lande Mizraim (Ägypten), aus dem Hause der Knechtschaft. Als Prof. Schalom ben Chorin als Fritz Rosenthal am 20.7.1913 in München geboren wurde, fand gerade die zweite große (Alija) Einwanderungswelle in das damalige Palästina statt und im Sprachstreit ging es darum, welche Sprache im neuen Heimatland der Juden gesprochen werden sollte. Elieser ben Jehuda hat sich damals durchgesetzt, im neuen Judenstaat sollte hebräisch gesprochen werden. Der Uganda-Plan war längst verworfen und das Land der Väter als zukünftige Heimat Zion erkoren. In den Familien vieler europäischer Juden ging es damals um die Frage der Emanzipation und Assimilation. Schalom ben Chorin wurde in eine assimilierte jüdische Familie hineingeboren. Die Auseinandersetzung mit seinen Eltern führte dazu, daß er sich zunächst an befreundete streng orthodoxe Juden anschloß.

Als Schalom ben Chorin im Jahr 1935 nach Jerusalem kam, wurden in Deutschland gerade die sogenannten „Nürnberger Gesetze” beschlossen, jene Rechtsgrundlagen, die für Millionen von Juden Vernichtung, Zwangsarbeit, untermenschliche Behandlung u.a. zur Folge hatten. Gott hatte ihn also wirklich aus dem Haus der Knechtschaft, aus der Stätte des Todes herausgeführt in das Land der Väter. Als David ben Gurion 1948 im Haus des Bürgermeisters Dizengoff in Tel Aviv den Staat Israel proklamierte, war Schalom ben Chorin schon 13 Jahre in Israel und es war für ihn die Erfüllung jener Vision des Ezechiel im 37. Kapitel: Aus den zerstreuten und vertrockneten Gebeinen ist wieder ein Volk geworden. Er konnte diese Realität erleben. In diese Freude hat Schalom ben Chorin auch seinen „Bruder Jesus” hinein genommen, wenn er schreibt, ob nicht der gekreuzigte, verhöhnte und sterbende Jesus ein Gleichnis für sein Volk geworden ist und die Osterbotschaft seiner Auferstehung ein Gleichnis für das heute wieder auferstandene Israel, das sich aus der tiefsten Erniedrigung und Schändung der dunkelsten zwölf Jahre seiner Geschichte zu neuer Gestalt erhebt. Auf die Frage eines Zuhörers, ob er auf einen noch kommenden Messias warte und welche Gestalt dieser haben sollte, hat ben Chorin im gleichen Sinne geantwortet: Müssen wir denn unbedingt an eine physische Person denken, hat nicht der Knecht Gottes in dem leidenden und erhöhten Volk Israel seinen Ausdruck gefunden? In diesem seinem Todesjahr finden wieder Verhandlungen statt, die vielleicht doch bald entscheidende Schritte zur Verwirklichung eines Friedens im Land der Väter bringen werden, wenn auch immer noch das Problem der Friedensstadt Jerusalem den schwersten Verhandlungsinhalt bilden wird. Der Name Schalom ben Chorin heißt „Friede, Sohn des Freigeborenen” — eine Zukunftsvision in seinem Todesjahr?

2. Schavuoth: „Tora”

Wie allgemein bekannt ist, gilt Pfingsten als Doppelfest einerseits der Erinnerung an die Gesetzgebung am Berg Sinai und andererseits dem Dank für die erste Ernte. Prof. Schalom ben Chorin hat in der Tora geforscht. Auch die mündliche Tora, die in den Talmud mündete, hat er wissenschaftlich erarbeitet. Ebenso auch andere Religionen bis zu verschiedensten christlichen Sekten. Er ist ein Bekenner der Tora geblieben, Zeuge des Einzigen, der in seinem Bundesvolk lebt, und er hat uns an den Schätzen seiner Erkenntnisse teilhaben lassen. Sein Hauptwerk, Die Heimkehr, ist eine Trilogie in der er Bruder Jesus, Mutter Mirjam und Paulus, zentrale Persönlichkeiten des Christentums, in das Judentum heimholen wollte. Ein ungeheures Unterfangen für einen gläubigen Juden, aber wer diese Werke liest, dem fällt auf einmal ein ganz neues Licht auf Jesus, Maria und Paulus. Jesus ist Jude, von einer jüdischen Mutter in das jüdische Volk hineingeboren. Er wurde beschnitten und war damit Mitglied des Bundes Gottes mit Abraham, dessen sichtbares Zeichen die Beschneidung ist. Er zog zu den Hochfesten des Judentums in den Tempel nach Jerusalem: Pesach, Schavuoth und Sukoth. Schon ehe er mit der Vollendung des 13. Lebensjahres zur Einhaltung der Tora verpflichtet war, diskutierte er nach dem Modell des Frage-Antwort-Lehrgesprächs als Zwölfjähriger mit den Schriftgelehrten im Tempel. Er hielt den Sabbath ein und predigte in Synagogen.

Gerade mit der Lehrtätigkeit Jesu hat sich u.a. Schalom ben Chorin auseinandergesetzt und siedelt Jesus außerhalb der damals klassischen Schulen des Rabbi Hillel und Rabbi Schammai an. Nach Schalom ben Chorins treffender Feststellung interpretiert Jesus zuweilen so milde wie Hillel, zuweilen wieder so schroff wie Schammai, aber die für Jesus so bezeichnende Interpretation des Gesetzes läßt eine neue Dimension erkennen: Das Gesetz ist verinnerlicht zu interpretieren und zu praktizieren, wobei die Liebe das entscheidende und motorische Element bildet. Dabei weist uns Schalom ben Chorin in seinen Schriften und Vorträgen darauf hin, dass diese Liebe andere Dimensionen hat. Besonders berührt hat mich Schaloms Übersetzung des kamocha in Lev 19,18: „Liebe Deinen Nächsten, er ist wie Du.”

Dieses genaue Lesen der Tora und die umfassende Kenntnis der gesamten jüdischen und christlichen Literatur hierzu hat Prof. Schalom ben Chorin immer besonders ausgezeichnet. Man lese etwa den Abschnitt „Lehre uns beten" im Buch Bruder Jesus. Hier tun sich Welten zum Verständnis des Textes des „Vater unser" auf. Als ich Prof. ben Chorin einmal nach einem seiner großartigen Vorträge als einen „Sprecher Gottes” bezeichnete und an die aufrüttelnden Worte der Schriftpropheten und des Eliahu erinnerte, korrigierte er mich sofort: In Israel gibt es seit Maleachi keinen Propheten mehr. Aber einen Rabbiner durfte ich ihn dann doch nennen. Er war ein großer, ein Lehrer in Israel. Sein Weg ist nicht einfach einer Schule des mosaischen Glaubens zuzuordnen: Freilich gehörte er nicht einer streng orthodoxen Glaubensrichtung an, wie es dem Sturm und Drang seiner Jugendjahre entsprochen hätte. Aber er war auch nicht einfach als Konservativer oder als Reformjude einzuordnen, obwohl er in Jerusalem eine Reform-Synagoge begründet hatte. Er blieb stets seinem akademischen Gewissen und seiner wissenschaftlichen Grundhaltung treu als Zeuge des Einzigen. Wie Jesus hat er nicht ein Jota an der Tora geändert und an den Einzigen geglaubt, auf ihn mit jenem Psalmenwort vertraut: Becha adonai chasiti, al-eboschah le´olam (Ps 71,1). Frommer Glaube und wissenschaftliche Einstellung waren seine Merkmale.

3. Schavuoth: „Erntedank”

Reiche Ernte hat das Leben Schalom ben Chorins gebracht. Sein Hauptwerk wurde ein Bestseller in einem Ausmaß, das für theologische Bücher zweifellos als außerordentlich zu bezeichnen ist. Seine Bildbände über Hijob und Sinai haben viele Menschen angesprochen und ihnen meditativen Zugang zur hebräischen Bibel verschafft. Zahlreiche akademische und staatliche Auszeichnungen haben das Werk Prof. Schalom ben Chorins gewürdigt und ihn als großen Vermittler zwischen seinem jüdischen Volk und seiner deutschen Heimat geehrt. Alle seine Werke sind in deutscher Sprache geschrieben. Er war gerade im deutschen Sprachraum der gültige Zeuge des Einzigen, der in ungebrochener Treue und in einem ungekündigten Bund zu seinem erwählten Volk steht. Besonders in seinen Vorträgen hat Schalom ben Chorin immer wieder darauf hingewiesen, daß wir durch ständiges Bemühen um Verständnis und Kennenlernen jene Schranken des Mißtrauens abbauen sollten, die zu Verdächtigung, Hass und Feindschaft führen. Auch so war er Zeuge des Einzigen in jenem Sinn, der auch im Kaddisch enthalten ist: „Er, der Frieden stiftet in seinen Höhen, der stifte Frieden über uns und über ganz Israel.”

So war es für uns eine Reise zu den Wurzeln unseres Glaubens, wenn wir ihn in Jerusalem erleben durften. Für ihn und für uns wurde das Wort aus Jes 2,3 Wirklichkeit: Von Zion geht die Tora aus und das Wort Gottes von Jerusalem. Besonders bewegend war es zu erleben, wie Prof. Schalom ben Chorin, der körperlich von Jahr zu Jahr schwächer wurde, von seiner Gattin Avital liebevoll in den Vortragssaal geführt wurde. Sie war einst seine Studienkollegin unter Martin Buber gewesen und ist selbst eine bedeutende Theologin, hat aber immer hinter ihrem Gatten im Hintergrund gestanden. Wenn er am Vortragstisch Platz genommen hatte, leuchtete uns ein Feuerwerk des Geistes auf neue Wege des Verständnisses und motivierte uns zum christlich-jüdischen Dialog. Sprühender Humor begleitete seine Ausführungen ebenso wie konstruktive Kritik an geschichtlichen und aktuellen Vorgängen. „Ich will dich vor den Völkern preisen, Herr, und vor den Nationen dein Lob singen” (Ps 108,4).

Schalom ben Chorin hat nicht nur Jesus, Maria und Paulus heimgeholt in das Judentum, er hat uns den Weg zu unseren eigenen christlichen geistigen und religiösen Wurzeln gewiesen. So können wir ihm nach seinem Tod nur dadurch danken, dass wir das Grundanliegen des christlich-jüdischen Dialogs weiter hochhalten und uns um Verstehen zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften bemühen. Ihm, dem hochverehrten Meister, aber wünschen wir, daß er von dem Ewigen, dem Einzigen, dessen unermüdlicher Zeuge er war, reichen Lohn für sein unerschütterliches Zeugnis erhält.

© Copyright 1999 Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit