Begegnung mit der Geschichte - Lernen für die Zukunft

ICCJ-Jahreskonferenz
Wien, 2. bis 5. Juli 2006

INTERNATIONALER RAT DER CHRISTEN UND JUDEN

Begegnung mit der Geschichte – Lernen für die Zukunft

ICCJ-Jahreskonferenz

Wien, 2. bis 5. Juli 2006

Eindrücke und Zusammenfassung

von Ruth Weyl, ICCJ Konsultentin und Konferenz Koordinatorin

1978 hielt der Internationale Rat der Christen und Juden ICCJ zum letzten Mal eine Konferenz in Wien ab. Das Thema damals lautete „Entstehung und Entwicklung des Neo-Nazismus und anderer Formen des politischen Extremismus“. In jenem Jahr wurde auch zum ersten Mal eine Verlegung des Sitzes des ICCJ erörtert. Ein Vertreter der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich gehörte einer der ersten Gruppierungen an, die vor nun sechs Jahrzehnten und unmittelbar nach dem Krieg jene Organisation bildeten, aus der schließlich der ICCJ hervorging. So konnte auch unser Gastgeber, der Österreichische Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit in diesem Jahr sein 50jähriges Bestehen feiern und die Wahl des diesjährigen Themas hätte nicht passender ausfallen können.

Über viele Jahrhunderte hinweg war Wien sowohl ein bedeutendes religiöses als auch soziales Zentrum und erlebte zahlreiche tragische Konflikte wie auch kreatives Miteinander zwischen Christen und Juden. Viele oft unauffällige aber deshalb nicht weniger bedeutende Stätten zeugen von vergangenem und gegenwärtigem jüdischen Leben. Sie berichten von einer einstmals starken und lebendigen jüdischen Gemeinde – einst die drittgrößte Europas – sie sind aber auch Symbol eines verschwundenen Lebens, das im 20. Jahrhundert in nur kurzer Zeit ausgelöscht wurde, wie es bereits im 12., 15. und 17. Jahrhundert immer wieder gänzlich vernichtet worden war.

Kernpunkt des Konferenzprogramms war das Bestreben, die Bedeutung dieser historischen Stätten und Kunstgegenstände für die christlich-jüdischen Beziehungen zu bewerten. Wie können diese Stätten mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und ihre Bedeutung stärker hervorgehoben werden? Wie können sie für Lehrzwecke eingesetzt werden? Welche Wirkung haben sie darüber hinaus auf Menschen der heutigen Generation – einmal auf jene, die neue Zugänge zu den christlich-jüdischen Begegnungen finden wollen, aber auch auf jene, die beständig Vorurteile und Hass verbreiten? Auf welche Weise können moderne Kunstwerke und Denkmäler christlich-jüdische Beziehungen verbessern? Und wie gehen wir mit der Erinnerung um, die auch mit diesen Stätten verknüpft ist?

So bestand das Programm dieser Konferenz wie noch nie vorher in der Hauptsache aus Besuchen und Exkursionen, die in starkem Maße die sonst üblichen Arbeitsgruppen ersetzten, dafür jedoch sehr guten persönlichen Kontakt und Austausch der Eindrücke während der Spaziergänge, Busfahrten und an den besuchten Stätten ermöglichten.

Wie bisher stets auf ICCJ-Konferenzen, wurden auch diesmal im Programmablauf die lokalen Belange wie auch die weiter reichenden Wirkungen und internationalen Bemühungen des ICCJ gleichermaßen und in wohl ausgewogener Mischung beleuchtet. Mit Wien als Veranstaltungsort, einer Stadt, die von jeher als Zentrum enger Kontakte zu seinen mitteleuropäischen Nachbarn Ungarn, Slowakei und Tschechien galt, erlaubte das Programm interessante Einblicke in eine Region, die noch immer darum ringt, die politischen Grenzen der Vergangenheit zu überwinden, wie auch Zugänge in die Beziehungen zwischen den drei abrahamischen Glaubensgemeinschaften.

Einschließlich zahlreicher lokaler Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie der Referentinnen und Referenten und religiöser Führer waren etwa 130 Personen nach Wien gekommen. Das Kardinal König-Haus in einem der Außenbezirke Wiens bot ausgezeichnete Konferenzeinrichtungen wie auch Unterkunft für die Mehrzahl der Teilnehmer aus zwanzig ICCJ-Mitgliedsländern. Großen Dank schulden wir der stets hilfsbereiten Geschäftsleitung, dem Personal und nicht zuletzt dem Küchenchef des Kardinal König-Hauses sowie den Vertretern des Österreichischen Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit für die exzellente Planung der vielen Besuche.

Die Eröffnungsveranstaltung, an der Botschafter einiger ICCJ-Mitgliedsländer, sowie Persönlichkeiten aus dem religiösen und zivilen Leben teilnahmen, wurde von Violin- und Klaviermusik jüdischer Wiener Komponisten aus dem 19. und 20. Jahrhundert gestaltet. In seiner Begrüßung hob ICCJ-Präsident Fr. Prof. Dr. John Pawlikowski die geografische Bedeutung Wiens in der Mitte Europas hervor sowie die Bedeutung des Konferenzthemas für die Erinnerungsarbeit und die Art und Weise, in der unsere heutige multi-ethnische, multi-religiöse und multi-kulturelle Gesellschaft nach Krieg und Kommunismus damit umgeht.

Seine Exzellenz, der Botschafter Israels, Dan Ashbel, überbrachte besondere Grußworte und zeigte sich erfreut über das Konferenzprogramm, das einen aufrichtigen und ehrlichen Zugang zu jenen antisemitischen Ideologien verspräche, welche schließlich die Schrecken der Schoa möglich gemacht hatten. Die bloße Tatsache, dass die Konferenz in einem Gebäude stattfand, das nach dem verstorbenen Kardinal König benannt ist, sei mehr als symbolhaft; es komme einer Verpflichtung gegenüber den Werten gegenseitiger Achtung, gegenseitigen Respekts dem Menschen gegenüber gleich, ungeachtet seiner Hautfarbe, Rasse oder Religion, eine Haltung, für die der verstorbene Kardinal sein Leben lang einstand.

Als israelischer Botschafter in Österreich, bei der OSZE und in Kürze auch in Slowenien sähe er sich in einer Position, Völker einander näher bringen zu können, ja fühle sich geradezu verpflichtet, dies zu tun. Mit Freude entdeckte er unter den Teilnehmern seinen alten Freund Irvin Borowsky. Während seiner Zeit als Generalkonsul in Philadelphia hatte er das Privileg, an der Eröffnung des Liberty Museums (integraler Bestandteil des American Interfaith Institute, das seinerseits demnächst Mitgliedsorganisation des ICCJ sein wird) teilnehmen zu dürfen. In diesem Museum stehe eine kleine Skulptur aus bunten Gummibonbons, ein Zeichen unserer vielfarbigen, multireligiösen und multikulturellen Menschheit und ein Symbol für die Verständigung, zu der die Konferenz in Wien ohne Zweifel einen fruchtbaren Beitrag leisten würde.

Vor dem Eröffnungsvortrag ehrte Sir Sigmund Sternberg, Schirmherr des ICCJ, Dr. Eugene Fisher mit der ICCJ-Goldmedaille „Frieden durch Dialog“ in Anerkennung seiner Untersuchungen zahlreicher Schulbücher, die die Ergebnisse früherer Schulbuchuntersuchungen zu untermauern helfen, auch in Anerkennung seiner langjährigen Bemühungen um christlich-jüdische Beziehungen am Sekretariat für ökumenische und interreligiöse Angelegenheiten der US-amerikanischen katholischen Bischofskonferenz sowie der Planung und Organisation vieler Konferenzen und Begegnungen der internationalen Dialoggruppe Vatican-IJCIC, zahlreicher Veröffentlichungen zum christlich-jüdischen Miteinander in Büchern und Zeitschriften, was ebenfalls in hohem Maße dazu beitrug, eine breite Öffentlichkeit mit bedeutenden Erklärungen der Kirche über christlich-jüdische Beziehungen vertraut zu machen.

Judith Banki, langjährige Begleiterin Eugene Fishers auf einem Weg des christlich-jüdischen Dialogs, der sowohl voller Meilen- als auch Stolpersteine ist, gratulierte ihm in einer kleiner bewegenden, persönlichen Rede. In ihren Augen erfülle Eugene Fisher eine der schwersten Aufgaben überhaupt: er erläutert den Führern seiner Kirche die Position der jüdischen Gemeinschaft (und meistens verteidigt er sie ihnen gegenüber) und erläutert und verteidigt die Kirche Juden gegenüber, wobei er stets von seiner Frau Cathy und seiner Tochter Sarah unterstützt wird.

Damit war ein ermutigender Auftakt gegeben für die Konferenz sowie den Eröffnungsvortrag durch Dr. Jiři Gruša, früherer tschechischer Botschafter in Deutschland und Österreich, Direktor der Diplomatischen Akademie Österreichs und Vorsitzender des internationalen PEN-Clubs. Im Rückgriff auf seine Erfahrungen und Beobachtungen konfrontierte er die aufmerksamen Zuhörer mit philosophischen Betrachtungen aus mitteleuropäischem Blickwinkel: Hätte, wenn man das Konferenzthema einer näheren Untersuchung unterzieht, Geschichte nicht eigentlich niemals geschehen dürfen? Und berge in den meisten Fällen „Begegnung“ nicht eine Gefahr in sich und biete nur manchmal eine echte Erfahrung? Mitteleuropa habe er einmal als das „Bermuda-Dreieck“ unseres Kontinents bezeichnet, sei doch aus Wien, München und Prag soviel Unheil gekommen, welches die gesamte Welt der Zerstörung preisgab. Auch der moderne Nationalismus, eine Art säkularisierte Religion, habe in unseren Ländern Wurzeln geschlagen. Was, so fragte er, bringe die Menschen dazu, sich selbst alles Menschlichen zu entledigen und es durch Verherrlichung alles Bösen zu ersetzen? Was hat uns dabei geholfen, den Begriff ‚Nation’ zu entmenschlichen, obwohl er seinen Ursprung in der jüdisch-christlichen Tradition habe?

Erst vor ca. 50 Jahren hat sich Demokratie auf dem europäischen Kontinent stärker etabliert.

Was sei es also, das so viel Hass auf etwas möglich mache, das doch das Wertvollste im jüdischen Glauben überhaupt sei? Liegt es daran, dass relevante Lehrsätze eher Merkmale von Mission (mission) statt Unterwerfung (submission) enthielten? Ihm selbst habe der Einfluss des jüdischen Ethos auf sein moralisches Denken und Handeln nach 1989 das Attribut, die Diplomatie „judaisiert“ zu haben, eingebracht. Er, der in der Zeit der „Kristallnacht“ geboren wurde, habe während seines Lebens viele Regierungswechsel erlebt und sei sich nur allzu gut der Bedeutung bewusst, welche die Vermittlung des Holocaust als festen Bestandteil im allgemeinen Geschichtsunterricht sowie als Unterkapitel über aufrichtige nationale Widerstandsbewegungen einnehme. Dem Teil der Welt, in der er lebte, habe die Befreiung nach dem Krieg keine Befreiung gebracht, auch wenn der Kommunismus unter diesem Mäntelchen zur Macht gelangte, gleich wie der Nazismus in den frühen 30er Jahren in Deutschland zur Macht kam. Dies zeige einen gewissen verwandten Geist, der noch immer nicht überwunden ist. Zwar gab es in den Jahren 1960-1968 berechtigte Hoffnung auf Tauwetter, eine Zeit, in der man sich mutig einer Aufarbeitung der Vergangenheit insgesamt stellte, in der man versuchte, mit den Verantwortlichkeiten Einzelner fertig zu werden und offen seine Meinung zu sagen und zu schreiben, doch dauerte es weitere 20 Jahre, bis echte Freiheit und Befreiung des Geistes erreicht waren. Und trotzdem bleibe „jüdisch“ ein negativer Begriff. In der alten bi-polaren Welt war es noch immer möglich, den Begriff „Feind“ zu wechseln, heute, so fürchte er, gäbe es jedoch, besonders nach den Anschlägen vom 11. September, nur noch einen austauschbaren „Teufel“: Liberalismus und Israel.

Er glaube, dass es unsere gemeinsame Aufgabe bleibe, unser christliches und jüdisches Erbe, deren Ethik und Glaube zu bekräftigen sowie auch weiterhin den Preis für die Bereitschaft zu zahlen, unseren individuellen Beitrag in die Zukunft zu leisten. Auf diese Weise werden wir schließlich breiteren Raum für ein Leben in Freiheit gewinnen.

Die recht düsteren Betrachtungen dieses Vortrags eines erfahrenen Diplomaten lösten sich in angeregten Gesprächen während des darauf folgenden festlichen Abendessens auf.

Am sonnigen Montag Morgen führte Pastor Prof. Helmut Nausner, Präsident des österreichischen Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die Teilnehmer in das Konferenzthema ein und brachte es in einen ortsbezogenen Zusammenhang. Dabei erwähnte er auch den verstorbenen Kurt Pordes, Präsident der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich, der langjährigen Partnerorganisation des Koordinierungsausschusses, und ICCJ-Präsident von 1964 bis 1968 war. Obwohl vergleichsweise nur eine kleine Organisation mit kleinem Teilzeitpersonal, arbeite der Koordinierungsausschuss im Rahmen seiner Möglichkeiten recht aktiv. Er unterhält eine viel frequentierte Internetseite, organisiert kleinere Konferenzen und Begegnungen mit Organisationen der Nachbarländer und publiziert mit Unterstützung mehrerer interessierter und kompetenter Freiwilliger eine vierteljährlich erscheinende Zeitschrift.

Im Rückblick auf die Geschichte seiner Organisation erwähnte Helmut Nausner zwei herausragende Persönlichkeiten: Schwester Hedwig Wahle nds, geistige Kraft hinter vielen Projekten, und Professor Kurt Schubert. Auf dieser Konferenz wolle man uns, den Teilnehmern, Einblick in die Erziehungsarbeit dieser beiden Persönlichkeiten vermitteln. Die Bedeutung, die die Organisation ihrer Geschichte und dem Sinn der historischen Stätten beimisst, bestimmt in hohem Maße den von ihr praktizierten christlich-jüdischen Dialog. Die zahlreichen im Programm vorgesehenen Besuche seien nicht als bloße Besichtigungen zu verstehen, sondern sollen den Konferenzteilnehmern aus aller Welt helfen, die Bedeutung der Geschichte der Stadt Wien neben Mozart, Beethoven und Johann Strauss zu erkennen. So sei eine Frage für ihre Arbeit in Österreich besonders wichtig: welche Bedeutung hat diese Vergangenheit für ihre Gesellschaft angesichts der Tatsache, dass die heutige jüdische Gemeinde nur noch sehr klein ist? In einem Land, in dem viel Geld in die Erhaltung alter Schlösser und Paläste investiert wird, obwohl es schon lange keine Ritter oder Prinzessinnen mehr gibt, erscheint es umso wichtiger, Synagogen und jüdische Friedhöfe zu erhalten, auch wenn an vielen Orten keine Juden mehr lebten.

Er schloss seine Ausführungen mit den Worten: „Erinnerung mittels Kunst, Geschichtsforschung, durch Gedenktafeln und Denkmäler – dies sind einige der Diskussionspunkte unserer Konferenz. Es gibt jedoch, besonders für Christen und Juden, noch einen anderen Weg, sich zu erinnern: den Weg des Gebets und der aufrichtigen Überzeugung, dass der Ewige alle Schmerzen stillt und uns die Möglichkeit eines Neubeginns gibt, ohne die Fehler und Sünden der Vergangenheit dabei zu leugnen, jedoch sie auch nicht zu vergessen oder sie von Generation zu Generation zu vertuschen.“

Der nachfolgende Hauptvortrag dieses Tages von Prof. Dr. Kurt Schubert zum Thema Christlich-jüdische Beziehungen in Österreich von der Revolution 1848 bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus wurde von einem seiner Studenten, Dr. Bernhard Dolna, verlesen, da er ihn auf Grund eines Krankenhausaufenthaltes nicht selbst halten konnte. In diesem geschichtlichen Abriss eines Experten untersucht Prof. Schubert die christlichen Wurzeln des Antisemitismus im christlichen und politischen Leben Österreichs, die den Nährboden bereiteten, auf welchen die Saat der Nazi-Ideologie fiel. Der Zeitraum erstreckt sich vom Wiener Kongress über die Entwicklung des Judentums in der liberalen Hälfte des 19. Jahrhunderts und der deutschen Assimilation, den erwachenden Nationalismus der Diaspora-Juden und den Proto-Zionismus, den Antisemitismus, der sich Ende des Jahrhunderts verstärkt zeigte, die Zeit der sozialen Reformen bis hin zur Zwischenkriegszeit 1918 bis 1938.

In minutiösen, weit reichenden Betrachtungen vermittelte er einen Überblick über Wirtschaft, den freien Kapitalismus, das weite Feld der Literatur, die Dollfuß-Ära, in der auch ein Gesetz zum Schutz deutsch-jüdischer Flüchtlinge verabschiedet wurde, bis hin zu Dollfuß’ Ermordung 1934. Die Beziehungen der Regierung zu Juden und zum Judentum wurden in hohem Maße von der Haltung der Kirche bestimmt. Nur wenige Tage vor dem berüchtigten ‚Anschluss’, so erinnerte sich Prof. Schubert, führte das hebräische Theater, Habimah, eine Inszenierung des ‚Dybbuk’ auf und zitierte aus einer Kritik, die in der letzten Ausgabe der „Jüdischen Front“ vom 23. Februar 1938 erschien: „... der stärkste Eindruck, den diese Aufführung hinterlassen hat, ist der, dass das Judentum über ein Sprache verfügt, die schöner, melodischer ist als alles, was wir bisher gehört haben ... eine Sprache, befreit von den Miseren und den Leiden des Gettos.“ – Dieser auf Deutsch gehaltene Vortrag Professor Schuberts endete mit den Worten: „Dann folgte die dunkelste Zeit, nicht nur für Österreich, sondern für die gesamte Judenheit.“

An diesem Morgen fanden noch zwei weitere Plenarsitzungen statt:

Mythen und Monumente – die Belagerung Wiens durch die Türken und deren Auswirkung auf die Identität des heutigen Österreichs, ein Thema, mit dem sich Prof. Dr. Susanne Heine, Vorstand des Instituts für praktische Theologie und Religionspsychologie der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, befasste.

In einer abwechslungsreichen Schilderung der jahrhundertealten Auseinandersetzung zwischen den Habsburgern und dem Osmanischen Reich beschrieb sie die außergewöhnliche damalige Situation, die sich so völlig von jenen anderen europäischen Staaten mit muslimischer Bevölkerung unterschied. Aufgrund der gesetzlichen Anerkennung des Islam 1912 und deren Bestätigung im Jahre 1979 als anerkannte Religion innerhalb der Republik Österreich, wichen die Haltungen gegenüber den Türken und dem türkischen Nationalismus in der Alpenrepublik weitgehend von jenen ab, die man Muslimen in anderen früheren europäischen Siedlungsgebieten gegenüber eingenommen hatte. Obwohl sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch Ägypter, Syrer, Iraker und Iraner in Österreich niederließen, prägt doch bis heute das türkische Gesicht des Islam die Erinnerung der Öffentlichkeit sowie deren Denken.

Zur Verdeutlichung der Situation im gegenwärtigen 21. Jahrhundert führte uns Prof. Heine – unter Einbeziehung Ungarns und Bosniens – sachkundig durch 400 Jahre muslimischer Präsenz und entsprechender Einflüsse in Österreich, wo stets auf hohem Niveau auch theologischer Austausch mit dem Christentum, vornehmlich des katholischen Christentums, stattfand. Und sie sparte nicht die Kriege aus, die im späten 16. und 17. Jahrhundert hauptsächlich von den europäischen Religionskämpfen gekennzeichnet waren. Es war die Zeit, als Martin Luther die „türkische Gefahr als Strafe Gottes für die christliche Unzulänglichkeit“ bezeichnete. Der Sieg, der schließlich über die Türken errungen wurde, wird in der historischen Erinnerung der Bevölkerung vielleicht als Höhepunkt der österreichischen Geschichte gesehen, ein Meilenstein, der den Nationalstolz und das Selbstbewusstsein, insbesondere des römisch-katholischen, stärkte. Sie verwies auf die Lehrbücher der Schulen, die in ihren Augen noch immer als die einflussreichste Literatur auf dem Gebiet der Information und Erziehung gesehen werden müssen und die bis heute das zumindest problematische öffentliche Selbstverständnis als vorwiegend römisch-katholisches Land widerspiegeln und bekräftigen. Auch in der Sprache sind zahlreiche türkische Ausdrücke zu finden, hauptsächlich in der Kochkunst, ganz zu schweigen von Lessings „Nathan der Weise“ und Mozarts „Entführung aus dem Serail“, die beide doch praktisch zu österreichischer Folklore mutiert sind.

Der Zusammenbruch der alten europäischen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg, der zweifellos auch die Zerstörung des Osmanischen Reiches nach sich zog, bewirkte eine neue Symbiose von Nationalismus und religiöser Intoleranz. Die erst kürzlich geführte Diskussion um den Beitritt der Türkei zur EU hat politische Parolen hervorgebracht, deren Ursprung in religiöser Unwissenheit und historischem Eklektizismus zu suchen ist. Trotz der Zuwanderung von Muslimen aus anderen Nationen, wie Ägypten, Syrien und sogar Pakistan, reduziert sich der Islam für die Bevölkerung insgesamt auf den türkischen Islam, mit ihm sind sie am meisten vertraut, ihm stehen sie am argwöhnischsten gegenüber. Leider sind auf dem Weg zur Verbesserung der Beziehungen zum österreichischen Islam die Aufrufe zuwandernder Imame für einen national-türkischen Islam wenig hilfreich. Wien und Istanbul, Ankara und Wien, schloss Dr. Heine ihren Vortrag, machen ein ganzes Kapitel europäischer Geschichte aus, das nicht übersehen werden darf, wenn neue Konzepte für ein Miteinander latente und reale Ängste vor der Macht der Geschichte überwinden helfen sollen.

Den folgenden Vortrag hielt Dr. Amir Zaidan, Direktor des Islamisch-Pädagogischen Instituts Wien, über den Islam in Österreich und den wachsenden Wunsch, auch als Muslime in allen Bereichen der österreichischen Gesellschaft eine vollwertige Rolle zu spielen.

Am Nachmittag stand – weiter unter dem Thema Mythen und Monumente – ein Besuch des Stefansdoms auf dem Programm. Dr. Annemarie Fenzl, Archivarin der Erzdiözese Wien und langjährige Assistentin des verstorbenen Kardinal Franz König, machte uns auf eine Reihe von Darstellungen am Dom aufmerksam – Zeichen des Hasses und der Ablehnung gegenüber Juden – wie z.B. die Tür des Westeingangs, an der Tiere und andere Kreaturen den Dom entweihen, darunter auch ein Jude. Weitere Beispiele finden sich in der Reliquienkammer. Andererseits enthalten Buntglasfenster aus dem 12. Jahrhundert auch einige realistische Darstellungen von Wiener Juden jener Zeit.

In der Gruft, am Grab von Kardinal König, der viel zur Erklärung Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils und zur Verbesserung christlich-jüdischer Beziehungen beigetragen hat, sprachen Rabbiner Ehud Bandel und P. Norbert Hofmann kurze Gebete. Der Gruppe im Rücken befand sich dabei das Grab von Kardinal Theodor Innitzer. Mit „Heil Hitler“ hatte er im März 1938 seine Unterschrift unter die Wahlempfehlung zur Volksabstimmung zugunsten des „Anschlusses“ gesetzt. Nach diesem Widerspruch befragt, antwortete Dr. Fenzl, dass es wichtig sei, auch an dieses hässliche Kapitel der österreichischen Geschichte zu erinnern. Denn andererseits habe Kardinal Innitzer in seinem Haus die „Hilfsstelle für nicht arische Katholiken“ eingerichtet und in einer seiner späteren Predigten zum Thema „Christ ist unser Führer“ indirekt zum Widerstand gegen die Nazis aufgerufen.

Dr. Markus Himmelbauer, Geschäftsführer des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit vermittelte uns bei der Besichtigung der Außenfassade interessante Einblicke in die Bedeutung mittelalterlicher Fresken, darunter auch Jesus, dargestellt mit einem Judenhut. Unter Hinweis auf eine Reihe von Tafeln und Gedenkstätten, die an vergangenes jüdisches Leben erinnern, führte er uns zum Judenplatz, der heute symbolisch mehr als 600 Jahre wechselvolle jüdische Geschichte repräsentiert. Hier wurden wir von Dr. Ariel Muzicant, dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, begrüßt und hier, zwischen dem Denkmal der britischen Künstlerin Rachel Witheread in Erinnerung die 65.000 jüdischen Opfer der Schoa in Österreich und dem Lessing-Denkmal, vermittelte er uns einen hervorragenden Abriss über die Geschichte dieses Platzes und der jüdischen Gemeinde, die ab 1848 in Wien ihre Renaissance erlebte und mit der Verleihung der Bürgerrechte und der vollen Staatsangehörigkeit im Jahr 1867 zu ihrer Blüte gelangte. Präsident Muzicant nahm auch am Nachmittagsprogramm teil und konnte somit weitere Fragen der Teilnehmer beantworten, auch sprach er von seiner Hoffnung auf eine stete Erneuerung des jüdischen Lebens. In der Ausstellung „Visionen aus dem Inferno - Kunst gegen das Vergessen“ mit den bedrückenden Arbeiten des Auschwitzüberlebenden Adolf Frankl, erzählte uns dessen Sohn Thomas Frankl die Geschichte dieser Bilder. Wir besuchten das jüdische Museum, das ein integraler Bestandteil des gesamten Judenplatzkomplexes ist und u.a. einen Raum beherbergt, in dem die Archäologen auf die Überreste einer Synagoge stießen, die vor etwa 600 Jahren zerstört worden war. Nach dem anschließenden Besuch im Stadttempel, der beeindruckenden Hauptsynagoge von Wien, in der wir am Abendgottesdienst unter der Leitung von Oberrabbiner Chaim Eisenberg und Kantor Shmuel Barzilai teilnahmen, kehrten wir in das Konferenzzentrum zurück.

Hier wurden während eines ausgezeichneten Abendessens, 24 Stunden nach Konferenzbeginn, bereits alte Freundschaften erneuert und neue geknüpft wurden. Den Abschluss dieses Abends bildete die Vorführung des eindringlichen slowakischen Films „Visionen aus dem Inferno“ über das Leben und die Bilder des Malers Adolf Frankl.

Das Podiumsgespräch am Dienstag Vormittag begann mit der brisanten Fragestellung „Wie beeinflusst der Staat Israel den gegenwärtigen jüdisch-christlichen Dialog

Prof. Dr Simon Schoon von der theologischen Universität Kampen und Pfarrer der reformierten Kirche in Gouda, Niederlande, führte verschiedene Aspekte des christlichen Zugangs und der entsprechenden Einstellung zu dieser Frage an – einschließlich aller Ambivalenz, die sich aus einer leidenschaftlichen Beziehung ergibt – und machte dies an Hand von Kirchendokumenten deutlich, die implizieren, dass auf Grund dieser Beziehung das innerste Wesen des Christentums in Gefahr sei, sowie an dem Gefühl einer starken Verbundenheit, ja sogar Dankbarkeit gegenüber dem jüdischen Volk, weil Jesus aus seiner Mitte geboren wurde, bis hin zu jenem Faktum, das als das sensibelste anzusehen ist: der Staat Israel.

Anhand der unterschiedlichsten Reaktionen gegenüber der Schaffung des Staates Israel ist christlicherseits ein Generationenbruch festzustellen. Prof. Schoons Studenten lassen offenbar wenig Interesse an den klassischen Themen des offiziellen jüdisch-christlichen Dialogs erkennen und haben auch wenig oder keine Kenntnisse über oder Erinnerung an die Schoa. Sie interessieren sich mehr für die Rolle von Religion innerhalb der heutigen Gesellschaft, wobei der Islam das brennendste Thema ist. Reaktionen reichen von der Einstufung einer „großen Bewegung für Israel“ bis hin zu der Überzeugung, dass Israel ein rassistischer Staat sei. Die Haltung gegenüber den Ereignissen in Israel und den palästinensischen Territorien kann sehr schnell von Liebe in Hass umschlagen und umgekehrt. Festgefahrene Muster und Gedanken beherrschen nach wie vor jeweilige Vorstellungen und Sichtweisen. Man muss jedoch zwischen den einzelnen Zugangsformen unterscheiden: Im traditionellen Substitutionsmodell spielt der Staat Israel für Christen eigentlich keine besondere theologische oder religiöse Rolle. In der Realität bedeutet dies jedoch nach wie vor Antijudaismus in Predigten und Religionsunterricht sowie antizionistische Reaktionen. Nach altem Typenmuster wird auch das heutige Volk Israel als ein Volk im Schatten angesehen, was schließlich in einer neuen triumphalistischen Theologie resultiert, mit der Überzeugung, dass allein eine Massenkonversion zum Christentum die Lösung des Nahost-Konfliktes herbeiführen könnte. Einige Christen halten die Selbstidentifizierung des jüdischen Volkes und des jüdischen Staates mit dem Namen ‚Israel’ für bedenklich. Diese Sichtweise klassifiziert das biblische Israel nicht unter ‚Nation’ sondern hält es lediglich für einen Gedanken, eine Idee. Wiederkehrende Fragen in christlichen Kreisen sind: Ist der Staat Israel ein Staat wie andere Staaten, mit guter und schlechter Politik, mit Erfolg und Misserfolg, oder hat der Staat Israel für Christen eine spezielle theologische Bedeutung? Sollte man ihn als Gottes eigenes Wunder in unserer heutigen Zeit betrachten? Ist dieser Staat nach den Maßgaben der Bibel oder ganz schlicht wie jeder andere Staat zu bewerten, nach den Maßgaben des internationalen Rechts?

Im Zusammenhang mit der Herausgabe eines Buches über messianische Erwartungen von Juden und Christen versuchte Prof. Schoon in einem Artikel die Vorstellungen der verschiedenen Gruppen zu analysieren: der religiösen Siedler in der Westbank, der militanten Islamisten sowie der christlichen Zionisten mit ihren individuellen Auffassungen. Auf jeweils eigene Weise vernimmt jede dieser Gruppierungen bereits die Schritte des nahenden Messias oder spürt das Nahen des Jüngsten Gerichts.

Überschüttet mit all diesen Fragen vermittelt sich nicht selten der Eindruck eines Dialogs der Tauben. Abschließend fragte Prof. Schoon, ob sich der gesamte Nahe Osten in einem Selbstmordakt wohl selbst auslöschen wird oder – um Bernard Lewis zu zitieren – ob Juden und Palästinenser doch in der Lage sein werden, Groll und Leid und Opfertum zu überwinden und statt dessen ihre Unterschiedlichkeit akzeptieren und bereit sein werden, ihre Fähigkeiten, Tatkraft und Potentiale miteinander einzubringen und in gemeinsamen kreativen Bemühungen zu nutzen. Oder ist auch dies ein unrealistischer messianischer Traum?

Darauf folgte ein völlig gegensätzlicher Zugang zum gleichen Thema: Dr. Racelle Weiman, Leitende Direktorin des Instituts für Interreligiösen und Interkulturellen Dialog der Temple University, Pennsylvania, in den USA geborene Israelin, machte uns in ihrem Vortrag mit dem Titel Begegnungen mit dem Staat Israel heute im Lichte des christlich-jüdischen Dialogs und im Bemühen, die unbegrenzten Möglichkeiten des christlich-jüdischen Dialogs im 21. Jahrhundert mit einer weiteren Form der Begegnung mit Juden, den Juden in ihrem Staat, zu untersuchen, vertraut. In diesem einzigartigen und oft diskutierten Nationalstaat mit Namen Israel – wobei sich der Terminus ‚Israel’ eigentlich auf das Volk bezieht – leben heute sechs Millionen Menschen auf einem kleinen Flecken dieser Erde, zugewandert aus allen Ecken der Welt, die sich durch Zugehörigkeit zum jüdischen Volk identifizieren. Es geht dabei in erster Linie nicht um den geheiligten Lebensraum, auch nicht um die Erfüllung jemandes messianischen Wunsches oder Strebens. Es ist vielmehr das Grundbedürfnis jeder lebenden Kreatur, einen Platz für sich zu finden, an dem man sich wohl fühlt, an dem man zu Hause ist. Der christlich-jüdische Dialog wird erst dann in ein konstruktives und förderliches Stadium eintreten, wenn Juden, und insbesondere nicht die in Israel lebenden, nicht mehr als theologische Objekte, als Gottes großes Mysterium, als mythologisierte Wesen, oder gar für christliche Reue- und Schuldbezeigungen heran gezogen werden. „Macht uns nicht zu einem gottesähnlichen Volk, denn auch wir versuchen nur das Rätsel zu lösen, wie jeder andere auf diesem Globus auch.“ Dr. Weiman forderte nicht dazu auf, den Dialog zu beenden, sondern ihn im Gegenteil zu vertiefen, ohne sich jedoch verfrühten und vordergründigen Erwartungen hinzugeben oder auf Grund der Tatsache, „dass wir einst Opfer waren, gar ‚Übermenschliches’ vom jüdischen Volk zu verlangen“. Statt dessen sollte Verständnis für eine fortwährend gequälte Minderheit aufgebracht werden, sollte man Juden als Am B’Israel (Volk Israel in Israel) begegnen, die sich ihrer neuen Stimme – auf Hebräisch – erfreuen. Es geht um reale Menschen, nicht um Abstrakta. Und sie verkörpern nicht leere Synagogen, Friedhöfe und Konzentrationslager. „Nennt uns nicht mehr Kinder des Teufels – aber macht uns deshalb bitte auch nicht zu Engeln.“

In ihren weiteren Ausführungen bezog sich Dr. Weiman auf James Parkes, einen der Begründer des modernen Dialogs, der Juden wirklich gern mochte, sich ihrer Gesellschaft erfreute und in ihrer Gegenwart zu Hause fühlte. Bereits von seinen frühesten Reisen nach Israel an vermerkte er, „dass es dort stets eine andauernde und bedeutende jüdische Präsenz gab und dass stets so viele Juden dort lebten, wie das Land wirtschaftlich verkraften konnte und die Behörden erlaubten“. Es spiele keine Rolle, ob Christen sich mit der Idee Am B’Israel als Experiment oder Wiedergutmachung christlichen Antisemitismus’ und der daraus erwachsenen Schoa oder auch als einen fehlgeschlagenen messianischen Traum anfreunden. Sechzig Jahre und sechs Millionen Juden sind, wenn auch aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet, sehr wohl ein Staat, eine Realität, ein Faktum. Wie kann ein Mensch dieses Recht in Frage stellen?

Das 21. Jahrhundert biete außerordentliche Herausforderungen für einen wachsenden christlich-jüdischen Dialog, dessen Elemente auch die Einflüsse unseres globalisierten Zeitalters berücksichtigen, sich dem Dialog mit den Gemeinschaften heute lebender Juden öffnen, Grundlagen eines ebenbürtigen Miteinanders mit Am B’Israel erforschen. Dr. Weiman erwähnte die Welt-Konferenz 2001 gegen den Rassismus in Durban, Südafrika, die von den Ereignissen des 11. September überschattet wurde. Diese Konferenz, die als Zusammenkunft gegen den Rassismus gedacht war, schlug unter dem Druck der aktuellen Ereignisse in eine rassistische Konferenz gegen die Juden um und wurde – was zutiefst bedauert werden muss – von aller Welt ignoriert. Es müssen neue Wörter und Begriffe gefunden werden, diese neue Form von Antisemitismus zu definieren und zu bekämpfen, welche heute – fünf Jahre später, als ‚völkermordender Antisemitismus’ bezeichnet wird.

Das heutige Israel mit seiner Bevölkerung aus Äthiopien, den Golfstaaten, dem ehemaligen Sowjetblock sowie der stark wachsenden Zahl israelischer Sabras (Israelis, die in Israel geboren werden) zeugt von lebendiger Begegnung mit einer großen Zahl von Dialogpartnern, einschließlich Arabern, seien sie Christen oder Muslime, und einem hohen Anteil an erfahrenen, weit gereisten Israelis, die auch große Kenntnisse in Bezug auf östliche Religionen einbringen. Juden betrachten es als Luxus, eine Mehrheitskultur zu sein und zum ersten Mal in 2000 Jahren zu erfahren was es bedeutet, staatliche Eigenständigkeit zu besitzen, und - bisher unerreicht - eine gemeinsame Identität zu genießen. Das bedeutet auch, dass sich christlich-jüdische Begegnungen in Israel von Kontakten zwischen Juden und Christen an anderen Orten der Welt völlig unterscheiden. Hier zitierte Dr. Weiman John Pawlikowskis Deutung jener vier Kernpunkte, welche er als ursächlich für jüdisches Desinteresse oder zumindest starke Zurückhaltung ansieht:

  • Während das Judentum für das Christentum unerlässlich sei, um seine eigene Identität zu finden, brauchen Juden Christen nicht zu ihrer Selbstdefinition;
  • die bittere Geschichte des christlichen Antisemitismus;
  • der jüdische Anspruch, in ihrer Glaubensausübung weniger theologisch ausgerichtet zu sein als Christen;
  • die Furcht vor christlicher Mission.

Keiner dieser Umstände ist jedoch auf den Dialog mit Am B’Israel anwendbar. Am B’Israel gestattet psychologische sowie zahlenmäßige Sicherheit. Dort gibt es gemeinsames Bibel- und Sprachstudium, ökologische, anthropologische sowie archäologische Untersuchungen des jeweiligen Ortes. Dort wird selbst säkulares Verständnis zur schöpferischen Begegnung, wie beispielsweise ein allen gemeinsames Interesse zu Beginn des frühen Jahrhunderts, das sowohl die Jesusbewegung als auch das rabbinische Judentum hervorbrachte. Jeder, der sich dem christlich-jüdischen Dialog verschreibt, sollte auch jederzeit neue Erkenntnisse interpretieren und entsprechend anwenden, nicht als Reaktion auf die Ereignisse in der Welt, sondern um einen Weg durch sie hindurch zu finden und gestärkt daraus hervorzugehen. Es würde den Dialog aushöhlen, ihn verwässern und seine Bedeutung schmälern, würde man dieses neue Zeitalter des globalen Denkens ignorieren, seine Inhalte nicht anwenden oder neue erschaffen.

Dr. Weiman schloss ihren Vortrag mit einem Zitat von Rabbiner David Hartman: „Unsere Rückkehr sollte uns nicht nur einen Hafen gegen Antisemitismus öffnen, sondern einen neuen Weg finden, auf dem der Andere, der sich von uns unterscheidet, in unser Bewusstsein treten sollte ... Die Gegenwart des Anderen in seiner Würde, sei er Christ oder Muslim, macht uns in unserem jüdischen Denken die gewichtige empirische Tatsache deutlich, dass alle geistige Möglichkeiten nie durch nur eine einzelne Person oder Gemeinschaft voll ausgeschöpft werden können.“

Während ich diese Zusammenfassung fast drei Wochen nach der Konferenz und unter dem Eindruck der Geschehnisse an der israelisch-libanesischen Grenze niederschreibe, scheint mir daraus die einzig mögliche Entscheidung zu resultieren, dieses Thema künftig noch eingehender zu erörtern, wie auch John Pawlikowski in seinen Schlussworten am Ende der Konferenz äußert.

Zum Abschluss dieses Podiumsgesprächs bat John Pawlikowski Irvin Borowsky um einige Worte. Borowskys sachkundige Betrachtungen einer Reihe von Gegenwartsthemen mit Geschichtsbezug waren bereits in schriftlicher Form den Konferenzpapieren der Teilnehmer beigelegt worden. Unter anderem enthielten seine Ausführungen einen dringenden Aufruf gegen anti-jüdische Passagen in den christlichen Evangelien und gegen die üblichen, Vorurteile enthaltenden Formulierungen traditioneller Bibelübersetzungen. Er habe das American Interfaith Institute gegründet, um zu helfen, den Anti-Judaismus im Christentum auszumerzen, und dies schließe insbesondere die ethische Verpflichtung ein, beleidigende Texte zu redigieren und zu entfernen, speziell aus Bibeln, die für den Religionsunterricht für Kinder verwendet werden. Seine Unterstützung der „gereinigten Fassung“ der zeitgenössischen englischen Ausgabe hat das Institut dadurch zum Ausdruck gebracht, dass es der Heilsarmee 25.000 Exemplare für den Gebrauch in ihren Zentren schenkte. Zur Zeit finanziert es die Herausgabe der ersten hassfreien Bibel auf Spanisch. Er appellierte an die Vertreter der ICCJ-Mitgliedsorganisationen, auf die Herausgeber von Bibeln in ihren Länder einzuwirken, Bibelübersetzungen und -kommentare zu veröffentlichen, die dem neuen konstruktiven Verständnis in den christlich-jüdischen Beziehungen entsprechen.

Der Nachmittag war wiederum für beispielhafte Exkursionen von sachbezogenem Interesse sowie kurzen Bibellesungen an den jeweiligen Stätten reserviert:

  • In der jüdischen Gemeinde Baden, deren 1938 zerstörte Synagoge jüngst im Jahre 2005 wiederhergestellt wurde, wurde die Gruppe vom Präsidenten der Gemeinde, Mag. Thomas Schärf, begrüßt. Dr. Debbie Weissman aus Jerusalem und Prof. Dr. Joseph Sievers von der Universität Gregoriana in Rom und Vertreter der Focolare-Bewegung, leiteten die Bibellesung zum 4. Buch Mose 20:1-13 und 22-29.
  • Der Wiener Zentralfriedhof weist als Besonderheit christliche Gräber inmitten des jüdischen Teils auf. Mag. Ruth Steiner, Vorstandsmitglied des österreichischen Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die Historiker Prof. Dr. Gerald Stourzh und Dr. Philomela Leiter sprachen sehr einfühlsam über dieses ergreifende Erlebnis, an so vielen Grabmalen von Menschen zu stehen, die entweder durch Geburt oder auch selbst gewählt teilweise jüdisch waren, jedoch alle zur Deportation und für den Tod bestimmt - der rechte Ort, einen Psalm zu lesen. Nach der herzlichen Begrüßung durch Dr. Ingolf Friedrich in der kleinen römisch-katholischen Kirche „Namen Jesu“ mit ihrem „Ecclesia und Synagoga“-Glasfenster aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts(!) behandelte die Gruppe die Bibellesung über Markus 5:21-43, geleitet von Rev. Dr. Marcus Braybrooke, Anglikanischer Pfarrer aus Großbritannien, und Rabbiner Ehud Bandel, Leitender Rabbiner der Masorti-Gemeinde in Melbourne, Australien.
  • Die Leopoldstadt, das traditionsreiche jüdische Viertel Wiens, war das Ziel der dritten Gruppe, die von Dr. Markus Himmelbauer geführt wurde. Der Bibeltext, Psalm 112, wurde von Rabbinerin Irit Shillor von der Or Chadash Reform-Synagoge und von Pfarrer Mag. Roland Werneck, Direktor für interreligiöse Studien der Evangelischen Akademie Wien ausgelegt.

Die drei Gruppen fanden gegen Abend in Klosterneuburg, dem wundervollen Chorherrenstift aus dem 12. Jahrhundert, die sich trotz der dominierenden Barockkirche äußerlich ein romanisches Gepräge gibt, wieder zusammen. Höhepunkt des Abteibesuches war zweifellos der Verdun-Altar von 1180, an dem sein Meister 10 Jahre bis zur Fertigstellung arbeitete. Die äußerst komplizierten Tafeln zeigen in typologischer Ausdeutung biblische Geschichten aus der Zeit vor Moses, darauf bezogen Szenen von Begebenheiten aus der Zeit zwischen Moses und Christus; der Mittelteil enthält Tafeln zum Neuen Testament. Abschließend lauschten wir in dieser Kapelle dem beeindruckenden Abendgebet in monastischer Tradition. Während des Abschlussempfangs wurde uns der ausgezeichnete Klosterwein serviert.

Im Rückblick erscheint es mir wie ein kleines Wunder, welch umfangreiches Programm wir an einem einzigen Tag absolvierten. Großer Dank gilt daher unseren österreichischen Gastgebern für ihre exzellente Organisation.

Und nun zum Mittwoch. Nach einem frühen Frühstück fuhren wir zum Palais Epstein, einem Gebäude, das zum österreichischen Parlament gehört. Im 19. Jahrhundert für den Industriellen und Bankier Ritter Gustav von Epstein erbaut, befindet sich dieses wunderschöne Haus zwischen dem Parlamentsgebäude, der Oper und anderen bedeutenden Gebäuden an der Ringstraße. Es wird heute für internationale Konferenzen und wichtige Begegnungen, auch internationaler jüdischer Gruppen, genutzt. Im Namen des Nationalratspräsidenten, Prof. Dr. Andreas Khol, der auf Grund anderer Verpflichtungen leider verhindert war, uns selbst zu empfangen, verlas sein Parlamentssekretär, Dr. Christoph Konrath, die Begrüßungsworte.

In seinen Ausführungen, in denen er das Konferenzthema berücksichtigte, bezeichnete es der Präsident als eine schwierige Aufgabe, konkret von einer ‚Begegnung mit der Geschichte’ zu sprechen und ‚Lernen für die Zukunft’ als echte Herausforderung, der Geschichte gegenüber eine moralische Geisteshaltung einzunehmen, zu betrachten. Seines Erachtens sei eine einheitliche Geschichtsbetrachtung, insbesondere in den heutigen liberalen und pluralistisch ausgerichteten Demokratien, nicht möglich – zumindest in Bezug auf die jüngere Geschichte, die noch immer oder gerade noch Teil des lebendigen Erinnerns ist, so wie jüdisches Leben in Österreich vor 1938 zur lebendigen Erinnerung gehörte, das für heutige Schulkinder jedoch in unendlich ferner Vergangenheit liegt.

Auch müsse man berücksichtigen, dass, wenn Fragen zur Geschichte und der Erinnerung aufgeworfen werden, wir der Religionsfälschung bezichtigt werden können, gehören Termini wir Erinnerung, Vergebung der heilenden Kraft der Wahrheit, Katharsis etc. doch zum Wortschatz von Religionen. Als ‚Erinnerungsgemeinschaften’ haben religiöse Gemeinschaften sowie deren Anliegen, sich mit der Geschichte und sich selbst auseinander zu setzen, dauerhafte Wirkung und erfüllen in unseren Gesellschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle. Anders als viele andere Gemeinschaften stärken sie das Band der Erinnerung und die Riten des Gedenkens. Dem Österreichischen Parlament, so sein Text, sei es ein ganz besonderes Anliegen, Verbindungen dieser Art zu schaffen, sie zu pflegen und auf verschiedenste Weise zu bereichern. Seit 1998 hält das Parlament jährlich am 5. Mai, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen in Oberösterreich, einen Tag des Gedenkens und des Bekennens gegen Gewalt, Hass und Rassismus ab. Er nannte noch eine Reihe weiterer Initiativen dieser Art und wünschte der Konferenz abschließend den Erfolg, dem sich ihr Motto verpflichtete hatte.

Im Mittelpunkt des Besuches im Palais Epstein stand die Ehrung Prof. Dr. Kurt Schuberts mit dem Internationalen ICCJ Sir Sigmund Sternberg-Preis 2006 in Anerkennung seines lebenslangen mutigen und sachkundigen Einsatzes als gläubiger Katholik für christlich-jüdische Begegnung und Dialog, für sein persönliches Engagement bei der Umsetzung der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils „Nostra Aetate“ im Religionsunterricht und Bibelstudium in der katholischen Kirche Österreichs, in Würdigung seiner mutigen Haltung während der Zeit der Naziherrschaft wie auch in Anerkennung der Gründung des beispielhaften Instituts für Judaistik an der Universität Wien, womit er im Nachkriegseuropa das Fundament zum akademischen Studium des Judentums und jüdischer Geschichte und Kultur legte und dem Judentum seinen berechtigten Platz und die gebührende Anerkennung im öffentlichen Bewusstsein einräumte.

Die Laudatio hielt Prof. Dr. Stefan Schreiner, ICCJ-Vorstandsmitglied und Vorsitzender des Abrahamischen Forums. Er begann mit einem Zitat aus einem Gespräch von Prof. Schubert mit Kardinal König von Anfang Februar 2003: „Zwischen meinem Christentum und dem Judaismus besteht doch irgendwie ein metaphysischer Zusammenhang. Theologisch gesprochen: Die Juden gehören zu uns, wir sind ein und derselbe Bund, den Gott geschlossen hat.“ Stefan Schreiners ausführliche Laudatio beinhaltete, was über sechzig Jahre hinweg Prof. Schubert immer von neuem motiviert hat, nach den Wurzeln des Antisemitismus und auch theologischen Antworten zu suchen. Unmittelbar nach Ende des Krieges schuf er an der Universität Wien die Möglichkeit für hebräische und jüdische Studien und hat dieses Jahr das 122. Semester beendet. Im Rahmen dieser Lehrtätigkeit war es ihm stets ein Anliegen, Christen verständlich zu machen, dass in Bezug auf das Judentum jede Analogie zu anderen Gemeinschaften falsch sei, dass jedoch bereits die Beschäftigung mit dem Judentum aus sich heraus das Engagement für eine Gemeinschaft, ihre Religion und Kultur bedeute. Stets habe Kurt Schubert im Gespräch mit Juden zu erklären versucht, dass und weshalb genau diese „Unvergleichbarkeit“ und Einzigartigkeit des Judentums für all jene, die nicht von innen heraus mit dem Judentum vertraut sind, die Ursache aller Missverständnisse sind. Prof. Schubert habe sich aber nicht nur als Forscher und akademischer Lehrer profiliert, er habe sich zeit seines Lebens auch für Politik eingesetzt, die untrennbar war von seinem religiösen und sozialen Engagement. So sah Stefan Schreiner es nicht nur als eine Ehre an, Prof. Schubert zur Verleihung dieser Auszeichnung gratulieren zu dürfen, sondern auch als eine Gelegenheit, seine Dankbarkeit für die unschätzbare Führung erweisen zu können.

Prof. Schubert hatte für diese Preisverleihung einen Krankenhausaufenthalt unterbrochen und dankte aus seinem Rollstuhl heraus Stefan Schreiner persönlich und dem ICCJ für dessen langjährigen Einsatz für Dialog und Begegnung.

Prof. John Pawlikowski dankte Nationalratspräsident Khol für den großzügigen Empfang und seine wichtige Rede. Durch das Engagement von Menschen wie Prof. Schubert habe der ICCJ aus der Asche der Schoa erwachsen können, um sich für eine neue politische Ordnung einzusetzen, die von grundlegendem Respekt vor der Menschenwürde und interreligiösem Verständnis getragen wird. Die Gedenkfeierlichkeiten zur Wiederkehr der Verabschiedung der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum, an denen er selbst im Oktober 2005 in Wien teilgenommen habe, seien ein neuer Impuls dafür gewesen, diese Thematik auch weiterhin in die Erziehungsprogramme und in aktive soziale Bemühungen unserer Religionsgemeinschaften zu integrieren. So äußerte Prof. Pawlikowski die Hoffnung, dass das Österreichische Parlament und die Regierung diesen Prozess auch in Zukunft auf jede mögliche Art und Weise unterstützen werden, insbesondere die Arbeit des Österreichischen Koordinierungsausschusses. Er dankte Dr. Khol im Namen des ICCJ für die Bereitschaft, einen großen Bürger Österreichs, einen Verfechter menschlicher Würde, moralischer Integrität und des christlich-jüdischen Verständnisses in diesem parlamentarischen Rahmen ehren zu dürfen.

Als Geste der Erneuerung und Wiedergutmachung war 1995 anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung Österreichs der Vorschlag eingebracht worden, einen Nationalfonds zu gründen, der daran erinnern sollte, dass auch Österreich an den Verbrechen beteiligt gewesen war, die zu den unermesslichen Gräueln an Millionen von Menschen führten. Diese Eingabe resultierte in einer Reihe neuer Gesetze für Entschädigung und Wiedergutmachung, die 1997 in einen Sozialfonds für Verfolgte des Naziregimes einflossen. Seit seiner Gründung steht der Nationalfond in engem Kontakt mit dem Österreichischen Parlament, das ihm auch die Verwaltungsräume zur Verfügung stellt.

In bewegenden Worten vermittelten uns Mag. Hannah Lessing, österreichische Jüdin und Generalsekretärin des Fonds und die Parlamentarierin Mag. Terezija Stoisits Einblick die Arbeit des Fonds. Sie wird gewöhnlich mit dem Terminus „Wiedergutmachung“ bezeichnet, wobei Lessing sich natürlich darüber im Klaren ist, dass keine noch so hohe Zahlung jemals jene Verluste, die die Menschen erlitten haben, wieder gut machen könne. So könne man dieses Verfahren sowohl aus rechtlicher als auch aus ethischer Sicht interpretieren. Lange Jahre habe Österreich sich nur zu rechtlichen Antworten auf seine Rolle im Zweiten Weltkrieg bereit gefunden. Und es habe lange Jahre gedauert, bis Österreich dazu bereit war, von der Rolle des ersten Opfers der Aggressionspolitik Hitler-Deutschlands abzurücken und einzugestehen, dass es ebenfalls eine Verantwortung trage, die es angesichts seiner Teilnahme am Krieg auf Seiten Nazi-Deutschlands nicht länger leugnen konnte. Im Zuge dieses neuen politischen Zugangs zu seiner Geschichte übernimmt Österreich eine neue moralische wie auch finanzielle Verpflichtung. Hanna Lessings Bericht über die finanziellen Regulierungen und Zahlungen erlaubte uns Einsicht in das, was man am besten wohl mit dem Ausdruck „das menschliche Gesicht“ bezeichnen kann und ließ uns auf eine völlig neue Weise verstehen, welch schweren Weg Österreich gegangen ist, um Brücken zu jenen zu bauen, die unter seiner Verfolgung gelitten haben. Die Erinnerungen Einzelner, mit denen sie und ihre Kollegen immer wieder konfrontiert werde und die mit sehr viel Einfühlungsvermögen und Mitempfinden gehört werden – inzwischen seien bereits 15.000 persönlich gekommen, um in vielen Fällen das erste Mal über ihre Erlebnisse, über das Schicksal ihrer Familien, ihrer Freunde zu berichten, - und die Berichte über die Reisen, die sie in alle Ecken dieser Welt zu Opfern führt, die nicht nach Österreich kommen könnten, machten uns deutlich, dass es noch andere Wege der Begegnung und des Dialogs gibt, des Überwindens der Angst, sich der Vergangenheit und des Erlebens zu stellen, und zerstreuten zumindest bei einigen von uns den Zynismus und den Zweifel an Österreichs Bemühen um echte Wiedergutmachung.

So war klar, dass während des Aufenthaltes in Wien, dem traditionellen Zentrum Mitteleuropas, auch die Situation des christlich-jüdischen Dialogs in Mitteleuropa einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden musste. Unter der erfahrenen Leitung von Prof. Stefan Schreiner beleuchteten am Nachmittag drei junge Wissenschaftlerinnen Themen sozio-kultureller und historischer Zusammenhänge im interreligiösen Dialog ihrer Heimatländer. Alzbĕta Dvořaková aus Tschechien, Lucia Hidveghyová aus der Slowakei und Maria Šerić aus Bosnien-Herzegowina, unterstützt von Dr. Maros Borsky, ebenfalls Slowakei, und Dr. Antal Leisen, Ungarn, nahmen zu folgenden Fragen Stellung:

  • Wer sind die Dialogpartner und welchen individuellen Beitrag leisten sie?
  • Wie wirkt sich die Last der Geschichte auf die gegenwärtige Situation aus?
  • 15 Jahre nach der „Wende“ – was hat sich verändert?
  • Auswirkungen des Krieges in Bosnien-Herzegowina – welche Rolle spielten die Religionsführer während des Krieges?
  • Wie wirkt sich das Bewusstwerden einer neuen nationalen Identität oder Identitäten aus?
  • Antisemitismus in neuer Gestalt oder seine alten Stereotypen.
  • Bringt die Wiederbelebung von Religion eine Bedrohung durch religiösen Fundamentalismus mit sich?
  • Informationen über Religionsgemeinschaften oder –organisationen – ihre Aktivitäten im und ihre Haltungen zum interreligiösen Dialog?
  • Welche Wechselbeziehungen bestehen zwischen interreligiösem Dialog und der Politik?
  • Wirken sich die politische Lage im Nahen Osten allgemein und der israelisch-palästinensische Konflikt im Besonderen auf den Dialog ihres Landes aus?
  • Der Dialog mit Muslimen (dem Islam) und seine politischen Dimensionen.

Diese Themen zu diskutieren war keine leichte Aufgabe und die Antworten der Gesprächspartner reichten von Erfahrungen in der Tschechischen Republik, die als einer der atheistischsten Staaten der Welt angesehen wird, in dem eine theologische Diskussion nur latent vorhanden ist und Selbstidentifikation nicht existiert und in dem die Mehrheit der Bevölkerung so gut wie nichts über das Christentum oder andere Religionen weiß, bis hin zu dem noch immer alles beherrschenden Trauma des Krieges in Bosnien-Herzegowina.

Mit Ausnahme des Ungarischen zeugten die Berichte noch weitgehend von großem historischem Missverständnis. Alle bedauerten jedoch, dass es an entsprechendem Informationsmaterial fehle, welches hingegen in den Ländern Westeuropas leicht zugänglich sei und entsprechend genutzt werde. Wie schwer sei es z.B. in Ungarn, sich mit dem Thema der Schoa und einer gewissen Mitschuld daran auseinander zu setzen, obwohl doch auch dieses Land eine sehr hohe Zahl an Kriegsopfern zu verzeichnen hatte. Statt beweisen zu müssen, dass sie Opfer waren, mussten häufig Bewohner jener dem Kommunismus und späteren Kriegen ausgesetzter Länder beweisen, dass sie keine Opfer waren.

So zeigte sich, dass es nun Sache der jüngeren Generation in Mitteleuropa ist, neue Zugänge zu finden und neue Entwicklungen anzustoßen, eine Aufgabe, die der ICCJ und seine Mitglieder aktiv unterstützen müssen. Es müssen Wege gefunden werden, unterschiedliche religiöse und sozio-politische Sichtweisen anzuwenden und respektive Identitäten zu stärken. So sollte z.B. der ICCJ mit diesen neuen Gruppen spezielle Partnerschaften gründen. Zeigten die jungen Menschen doch nicht nur Engagement, sondern auch sachkundiges Verständnis.

Mit ihrem Dank an die österreichischen Gastgeber, die ihnen nicht nur die Teilnahme ermöglicht hatten, sondern auch, von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten, beendeten sie die Diskussion.

Ein weiterer Vortrag ermöglichte uns einen exemplarischen Einblick in die Entwicklung der christlich-jüdischen beziehungen in Österreich: Die Evangelische Kirche in Österreich 1938-2006: ihre Wandlung vom Antisemitismus zum christlich-jüdischen Dialog.

Anhand entsprechender Daten und Unterlagen zeigte Prof. Dr. Michael Bünker, Oberkirchenrat der evangelisch lutherischen Kirche in Österreich, den Weg der Kirche am Beispiel von vier Generationen der Familie Dantine von 1938 bis in die Gegenwart auf. Als Vertreter der ersten Generation konnte Wilhelm Dantine sen., Rechtsanwalt, Kurator und Vorsitzender des Presbyteriums der Gemeinde Leoben in der Steiermark sich noch dahingehend äußern, dass er „es als geradezu empörend empfinde, auf welch hartnäckige Art und Weise die Judenheit – eine unerfreuliche Bezeichnung für die Darstellung jüdischer Kultur – in unsere Gemeinden eingedrungen ist“. In Briefen vom Januar und Juni 1938 an seinen Sohn brachte er seine antisemitischen Ansichten und seine völliges Einverständnis mit dem „Anschluss“, der Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich, unmissverständlich zum Ausdruck – obwohl er sich später über die Ereignisse der Kristallnacht vom 11. November 1938 betrübt zeigte. Sein Sohn, Wilhelm Dantine jr., hatte in Bonn bei Karl Barth protestantische Theologie studiert. Schon vor 1938 hatte der junge Wilhelm eine andere Haltung gegenüber den politischen Entwicklungen und der Instrumentalisierung der protestantischen Kirche eingenommen, was zu Konflikten mit seinem Vater führte. Er gehörte jener Gruppe an, die das euphorische Pamphlet der protestantischen Kirche über den Anschluss ablehnten. In den fünfziger Jahren wurde er Leiter eines theologischen Studentenwohnheimes, Studentenpfarrer und in der Folge Professor für Dogmatik, was ihm den Ruf eines Wegbereiters des christlich-jüdischen Dialogs in der evangelischen Kirche einbrachte. Über die ‚Arbeitsgemeinschaft Dienst an Israel’ war es ihm möglich, Einfluss auf kirchliche Verlautbarungen zu nehmen, die sich mit christlich-jüdischen Beziehungen und insbesondere dem christlichen Antisemitismus befassten, einschließlich einer Erklärung aus dem Jahr 1950, welche das Fehlen irgend eines Zusammenhangs zwischen dem christlichen Glauben und dem Antisemitismus betonte. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die Einbeziehung der Evangelischen Akademie Wien am Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit, damals unter der Führung von Professor Kurt Schubert. Auf diese Weise beteiligte sich die evangelische Kirche im November 1965 auch an einer Vortragsreihe zum Thema „Judenhass (Antisemitismus) – die Schuld der Christen“. Nach längerer Vorbereitungsphase wurde ein „Beratungspapier für Kirchengemeinden hinsichtlich Christen und Juden’ verabschiedet, in dem Antisemitismus als „unbegreifliche Verirrung“ definiert wird. 1970 veröffentlichte Wilhelm Dantine jr. einen Artikel über Proselytenmacherei unter Juden, in seinen Augen das Phänomen eines „fundamentalen Missverständnisses“.

Und damit zur dritten Generation der Familie Dantine, Johannes, ältester Sohn von Wilhelm Dantine jr. Als Lehrer und Erzieher machte er die Ökumene zu seinen Hauptaufgaben und wird heute als theologischer Vater der Erklärung der Evangelischen Generalsynode A. und H.B. von 1998 „Zeit zur Umkehr“ angesehen. Diese Erklärung ist die erste synodale Verlautbarung, das deutlich Bezug nimmt auf das 50. Jubiläum der Gründung des Staates Israel im Jahr 1998 und die 60. Wiederkehr der Pogromnacht vom 9. November 1938. An der Aufarbeitung der Geschichte der evangelischen Kirche und Israel waren zwei Personen beteiligt, die in Israel selbst ihr Studium absolvierten, einer davon Pastor Roland Werneck. Im Oktober 1998 wurde das Papier vorgelegt. Es beginnt mit dem Eingeständnis, dass Christen und die Kirche mitschuldig an der Schoa waren, und mit der von Scham geprägten Erkenntnis, dass „unsere Kirche sich vom Schicksal der Juden und den zahllosen Opfern der Verfolgung ungerührt zeigte.“ Die vierte Generation der Dantines – Oliver, geboren 1973 – absolvierte in Jerusalem ein Studium im Rahmen von „Studium in Israel“. Er gehört zu der Generation, die ein Erkennen der Beziehungen zwischen Christen und Juden mehr und mehr in die Aktivitäten ihrer Kirche einbringt und dabei auch gegen den Antijudaismus in Lehrbüchern vorgeht. Er ist heute im Burgenland der offizielle Vertreter der Kirche für den christlich-jüdischen Dialog.

Seit 2000 gedenken die Christen Österreichs jährlich am „17. Jänner– Tag des Judentums“ (17. Januar), einen Tag vor der Weltgebetswoche für die Einheit des Christen, der Verwurzelung ihres christlichen Bekenntnisses im Judentum. Die Liturgie am Tag des Judentums ist von der Einsicht in die Schuld der Kirche geprägt. Kritiker wandten sich mit der Frage an die Kirche, ob ein ‚Tag des Judentums’ ohne jüdische Beteiligung letztlich nicht einen Schritt vom erreichten Niveau der christlich-jüdischen Beziehungen zurück bedeute, denn mit der gegenwärtigen Praxis bleibe der Tag des Judentums doch ein Tag von und für Christen. Doch genau das sollte er letztendlich auch werden, ein Lehr- und Lerntag zur Vertiefung der eigenen spirituellen Herkunft.

Dieser Vortrag zeigte erneut auf, wie beschwerlich der Weg zur Normalisierung der Beziehungen vor uns ist, und auch, dass Geschichte letztlich nur auf eine schmerzliche und schleppende Weise überwunden werden kann.

Während der Konferenz fand nur eine Arbeitsgruppe statt: Christliche, muslimische und jüdische Frauen im neuen Europa: Ein neuer Glaube? Unter dem Vorsitz von Gunnel Borgegård, Vizepräsidentin des ICCJ und Vorsitzende des ICCJ-Frauenkomitees, nahmen Mag. Gülmihri Aytac, Lehrerin aus Wien und Leiterin des Präsidialbüros der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, Mag. Gabriele Kienesberger von der Katholischen Sozialakademie Österreichs und Prof. Judith Narrowe, Anthropologin aus Schweden, daran teil.

In ihrer Einführung erläuterte Gunnel Borgegård, dass das Thema absichtlich auf Europa ausgerichtet worden war. Sie habe jedoch keinen Zweifel, dass in unserer flexiblen Welt die Teilnehmer aus anderen Ländern und Kontinenten jeweils zu den für sie passenden Schlüssen gelangen. Was bedeutet eigentlich „Ein neues Europa“? Zu Europa gehören 25 Länder und die Europäische Union dient als Rahmen für dieses neue Europa, aber Länder, die nicht zur Union gehören, werden ebenfalls von den Veränderungen, den neuen Zusammenhängen tangiert. Vor geraumer Zeit wurde eine mögliche Verfassung für diese EU zur Formulierung ihrer Wertegrundlagen heftig diskutiert. Die Diskussion konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Frage, ob Gott in dieser Verfassung genannt werden solle oder nicht, ob Religion darin eine Rolle spielen solle oder nicht. Obwohl diese Diskussion offiziell vorüber ist, ist sie doch nicht beendet. Wie steht es um den Beitritt der Türkei? Wie sollen wir mit der Furcht vor dem islamischen Einfluss umgehen?

Und was bedeutet eigentlich „neuer Glaube“? Gibt es einen Unterschied zwischen Glaube und Religion? Im Dialog wird zwischen Glaube und Religion differenziert. Der Begriff „interfaith“ bezieht sich auf den subjektiven, persönlichen Austausch über Glaubensfragen, während „interreligious“, interreligiös, den offiziellen Dialog zwischen Vertretern der einzelnen Religionsgemeinschaften bezeichnet. Dialog wird oft sehr unterschiedlich bewertet: Die Spanne reicht vom alltäglichen Dialog, den man mit Personen anderen Glaubens führt – und dies erstreckt sich über die unterschiedlichsten Ebenen –, über den Glaubensdialog, bis hin zum Dialog von Experten, Sachkundigen und Theologen, dem interreligiösen Dialog. In welchem Dialog begegnen uns die meisten Frauen? Im Glaubensdialog oder im interreligiösen Dialog?

Kürzlich wurde an der Universität Uppsala eine Doktorarbeit vorgelegt. Die Autorin behandelte alle Möglichkeiten des Dialogs und sprach vom ‚Beitrag zur kleinen Tradition und dem Beitrag zur großen Tradition’. Die ‚kleine Tradition’ bezog sich auf Themen des alltäglichen Lebens, die ‚große Tradition’ auf Dogmen, philosophische Ordnungen und Theorien. Von der Kirche und der ökumenischen Bewegung wurde als noch immer gültiges Schlüsselwort der Ausdruck ‚Einheit in versöhnter Verschiedenheit’ geprägt. Viele Jahre lang lag die Betonung auf dem Wort ‚Einheit’, während sie sich heute mehr und mehr auf ‚Verschiedenheit’ verlagert.

Gühlmihri Aytac sprach über ‚europäische Muslime’ – etwa 15 bis 20 Millionen leben in Europa. Allen gemeinsam ist das Din, die Denk- und Lebensweise, und Aman, der unveränderliche Glaube. Beide Konzepte beinhalten die für alle Muslime einheitlichen Verpflichtungen. Während jedoch Männer aufgrund ihrer normalen Kleidung geradezu „unsichtbar“ sind, stellen Frauen bereits durch ihre