Abraham Joshua Heschel – Rebbe und Philosoph

Ein biographisches Porträt Abraham Joshua Heschels anhand einer Skizze seiner Lebensstationen und seines Denkens.

Abraham Joshua Heschel – Rebbe und Philosoph

Abraham Joshua Heschel1 wird am 11. Januar 1907 in Warschau in eine chassidische Familie hineingeboren. Bei dem Wort „Chassidismus“ mögen zunächst Assoziationen von Stedtl und heiler religiöser Welt entstehen. Warschau jedoch war eine Großstadt mit einer Million Einwohnern; 1917 waren ca. 40% der Bevölkerung jüdisch. In der Stadt gab es alle Facetten jüdischen Lebens: Chassidische Synagogen sowie die ihrer Gegner, der Mitnagdim; es gab von der jüdischen Aufklärung, der Haskala, beeinflusste Denker, es gab zionistische und sozialistische Gruppen – dazu ein reiches kulturelles jüdische Leben: jiddisches Theater, zahlreiche Zeitungen und Bücher, die auf Jiddisch oder Hebräisch erschienen.

Kindheit und Jugend

Heschel betont die Bedeutung des Chassidismus für die Entwicklung seiner Persönlichkeit.

Ich wurde in Warschau, Polen, geboren, aber meine Wiege stand in Miedzyboz, einer kleinen Stadt der Provinz Podolien in der Ukraine, wo der Baal Schem Tow, der Begründer der chassidischen Bewegung während der letzten zwanzig Jahre seines Lebens lebte.2

Der Chassidismus, der etwa zur gleichen Zeit wie die christliche Bewegung des Pietismus entstand, war eine innerjüdische Erneuerungsbewegung im 18. Jahrhundert. Ihr hervorstechendes Kennzeichen ist die Herzensbeziehung des Einzelnen zu Gott. Der Begründer des Chassidismus ist Israel ben Elieser, eher bekannt unter dem Namen Baal Schem Tow, der sich in Miedzyboz niederließ. Von ihm sind zahlreiche Legenden und viele Wundertaten überliefert – manchen von Ihnen wird der Baal Schem Tow aus Martin Bubers Erzählungen der Chassidim vertraut sein.

Heschel sieht sich dem Baal Schem Tow verbunden: „Ich wurde nach meinem Großvater, Reb Abraham Joshua Heschel – „dem Apter Raw“, dem letzten großen Rebbe von Miedzyboz benannt. Er war wunderbar in jeglicher Hinsicht, und es war als wäre der Baal Schem Tow in ihm zum Leben erweckt. Als er 1925 starb, wurde er direkt neben dem Baal Schem begraben.3

Heschels Familie zählte sich zur Elite des Chassidismus. Sein Vater war ein Rebbe, ein Mann mit Einfluss und einer großen Anhängerschaft. Abraham Joschua war selber dazu ersehen, Nachfolger seines Vaters zu werden.

Heschel war ein begabtes Kind; im Rahmen seines Milieus wurde er entsprechend gefördert. Die Kinder wurden in die Tradition der Erwachsenen eingeführt. Es gab keine Kinderbibeln und es gab keine Wissensvermittlung außerhalb der religiösen Texte. Dieses Lernen war mit Praxis verbunden. Studieren der Weisungen Gottes und das Tun der Gebote gingen Hand in Hand. Im Alter von drei Jahren begann er mit dem Lernen: Hebräisch, das Gebetbuch, Bibel, Mischna, weitere Werke der Tradition bis hin zum Talmud, den er mit acht Jahren zu studieren begann. Er wurde nicht in eine Schule geschickt, sondern hatte einen Privatlehrer.

Die Atmosphäre, in der ich aufwuchs war gefüllt mit Theologie. Tag und Nacht hörte ich sie nur über „Gebet“ und „Kawana“ (ungeteilte Aufmerksamkeit, besonders während des Gebetes), und über den „Kadosch Boruch Hu“ (den Heiligen, gepriesen sei Er) und über „mesiras nefesch“ (extreme Anbetung, wörtlich: Übergabe der Seele) sprechen.4

Neben der Hinwendung zu Gott und dem Studium der Tradition war die Zuwendung zum Nächsten wichtig. Heschel erinnert seinen Vater als sehr empathisch im Umgang mit jenen, die mit ihren Sorgen zu ihm kamen. Diese Fähigkeit der empathischen Zuwendung wird später zu einer hervorstechenden und charakteristischen Eigenschaft von Heschel.

Der Tod des Vaters in der Typhusepidemie 1916, wenige Wochen vor Heschels 10. Geburtstag, ist ein tiefer Einschnitt in seinem Leben. Er ist nicht allein ein persönlicher Verlust, sondern auch ein Einschnitt in seiner Erziehung. Sein Onkel, Alter Israel Schimon Perlow, der Novominsker Rebbe, ist von nun an für seine Erziehung verantwortlich; sein Erziehungsziel ist dem des Vaters entgegengesetzt:

Sein einziges Ziel war es in meinem Herzen das Gefühl von Zerknirschung, von Reue ... einzupflanzen. Er zerbrach mein Selbstwertgefühl, er unterminierte meine Zuversicht.5

Heschel selbst beschreibt später den Gegensatz der Erziehungsstile mit den unterschiedlichen Haltungen des Baal Schem Tow und des Kotzker Rebbe:

Der Baal Schem war in meinem Leben wie eine Lampe, der Kotzker schlug ein, wie ein Blitz.... Der Baal Schem gab mir Flügel, der Kotzker umkreiste mich mit Ketten... Die Begeisterung verdanke ich dem Baal Schem, dem Kotzker den Segen von Demut.6

Wie alle jüdischen Jungen wurde Heschel mit 13 Jahren Bar-Mizwa. Mit 16 Jahren wurde er ordiniert. Ordination, Smicha, ist die Qualifikation halachische – religionsgesetzliche – Entscheidungen treffen zu können, also in konkreten Fragen jüdischer Praxis eine verbindliche Antwort zu geben. Mit der Ordination hört das Studieren jedoch nicht auf: Lernen, die Beschäftigung mit der Tradition, ist eine lebenslange Aufgabe. Heschel setzt sein Studium an der Mesiwta Jeschiwe in Warschau fort. Dort lernt er neben den religiösen Inhalten auch Mathematik, Geschichte und Literatur usw. – wenn auch nur für zwei Stunden am Tag. Es ist seine erste Begegnung mit nicht-religiöser und nicht-jüdischer Kultur. Offensichtlich weckt sie seine Neugier auf mehr, denn anstatt in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und ihm als Rebbe nachzufolgen, entschließt Heschel sich, 1925 nach Wilna ans Mathematisch-naturwissenschaftliche Realgymnasium zu gehen. Das ist ein Bruch mit den Traditionen seines Milieus. Allerdings geschieht der Schritt mit dem Segen der Familie. Sein Onkel verabschiedete ihn mit der Auslegung eines Satzes aus den Sprüchen der Väter. In Avot 5,8 heißt es: „Das heilige Fleisch wurde nicht unrein.“7 Im literarischen Kontext bezieht sich die Aussage auf Opferfleisch im Tempel, das nicht verweste. Der Onkel bezieht diesen Wunsch auf Heschel, dass er keine „Unreinheit“ annehmen möge. Und auf gewisse Weise ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen: Heschel bleibt sein ganzes Leben lang observant und gegenüber dem, was er als Schatz seiner Jugend erachtet, auch treu.

Wilna

Wilna ist ein lebendiges Zentrum jüdischer Kultur. Die Stadt wird auch das „Jerusalem des Nordens“ genannt. Die Unterrichtssprache am Realgymnasium ist Jiddisch; der Lernstoff umfasst das polnische gymnasiale Curriculum.

In dieser Zeit entdeckt Heschel seine poetische Ader: er verfasste zahlreiche jiddische Gedichte, die auch veröffentlicht wurden. Das folgende Gedicht zeigt weniger ein großes lyrisches Talent, als vielmehr den Wunsch, den Unterdrückten und Leidenden zu helfen.

Ich gebe dir, o Welt –

das Gerüst meiner Glieder,

Meine Worte, meine Hände,

die Wunder meiner Augen.

Nimm mich als deinen Sklaven

und lass mich dir dienen.

Sende mich zu den verbannten Brüdern,

die in Gefängnissen eingeschlossen sind.

Sende mich zu den Schmachtenden

mit Krügen frischer Tränen um sie zu trösten.

Mit Hilfe zu den Armen.

Mit Heilung zu den Kranken

Nimm mich als ein Bruder – Welt –

Nimm mich als einen Sklaven.8

Wilna öffnet Heschel die Augen für den Kosmos jüdischer und nicht-jüdischer Kultur und Politik. Mit dem Schulabschluss ist der Wissensdrang Heschels nicht gestillt – im Gegenteil: Er will studieren. Sein nächstes Ziel ist die Universität in Berlin, wo er 1927, im Alter von 20 Jahren sein Studium aufnimmt.

Berlin

Die Universität in Berlin ist in jenen Jahren das Ziel zahlreicher junger jüdischer Intellektueller, die sich für westliche Kultur interessieren. Zahlreiche große jüdische Denker des 20. Jahrhunderts befinden sich zu dieser Zeit in der Stadt: Jeshajahu Leibowitz,9 der unorthodox orthodoxe Querkopf, später Professor für Neurophysiologie an der Hebräischen Universität, der sich immer wieder auf pointierte Weise zu religiösen und politischen Fragen der Zeit äußert; Joseph B. Soloveitchik,10 der Kopf der Modernen Orthodoxie in den USA, er promoviert 1931 mit einer philosophischen Arbeit über Hermann Cohens11 Epistemologie; Menachem Mendel Schneersohn, der die chassidische Chabad-Bewegung, auch bekannt als Lubawitcher, in New York zum Blühen bringen wird. Es wäre interessant, diese Menschen miteinander in ein imaginäres Gespräch zu bringen.

Heschel erinnert sich an seine Ankunft in Berlin:

Ich kam mit einem großen Hunger an die Universität in Berlin, um Philosophie zu studieren. Ich suchte ein Gedankensystem, Tiefe des Geistes, die Bedeutung des Lebens. Gelehrte und tiefsinnige Wissenschaftler gaben Kurse in Logik, Epistemologie, Ästhetik, Ethik und Metaphysik. Sie öffneten mir die Tore der Philosophiegeschichte.12

Begierig nimmt Heschel die Angebote wahr, saugt die neue Welt in sich ein. Zugleich stellt er fest, dass er sich in einer Spannung zur Welt seiner Herkunft befindet:

In diesen Monaten in Berlin erlebte ich Augenblicke tiefer Bitterkeit. Ich fühlte mich mit meinen Problemen und Ängsten sehr allein. Eines Abends ging ich durch die prächtigen Straßen Berlins. Ich bewunderte die Solidität der Architektur, die überwältigende Energie und Kraft einer dynamischen Kultur. Es gab Konzerte, Theater und Vorlesungen von berühmten Wissenschaftlern über die neuesten Theorien und Erfindungen. Ich überlegte, ob ich das neue Stück von Max Reinhardt besuchen sollte oder zu einer Vorlesung über die Relativitätstheorie gehen sollte.

Plötzlich beobachtete ich, dass die Sonne untergegangen war und es Abend war...

Ich hatte Gott vergessen. Ich hatte den Sinai vergessen. Ich hatte vergessen, dass ich beim Sonnenuntergang eine Aufgabe hatte: „die Welt der Königsherrschaft Gottes wiederherzustellen“. Ich begann die Worte des Abendgebetes zu sprechen...13

Heschel passt sich nicht vollständig an.

Zunehmend wurde mir der Graben deutlich, der meine Ansichten von denen trennte, die es an der Universität gab. ... Wie kann ich auf rationale Weise einen Weg dahin finden, wo letzte Wahrheit ist? Warum existiere ich überhaupt und was ist mein Zweck? Ich wusste nicht einmal, wie ich meine Frage formulieren sollte. Für meine Lehrer jedoch waren dies Fragen, die einer philosophischen Analyse nicht wert waren.14

Heschel lebt in Berlin in mehreren Welten: er studiert an der Universität und bewegt sich dort zum ersten Mal in einem nicht-jüdischen Umfeld, zugleich ist er an der Hochschule der Wissenschaft des Judentums eingeschrieben, belegt aber auch Seminare am orthodoxen Rabbinerseminar und betet in chassidischen Kreisen. An der Universität ist Philosophie sein Hauptfach, Kunstgeschichte und semitische Sprachen sind die Nebenfächer. 1932 beendet er seine Dissertation „Das prophetische Bewußtsein“, die aber erst 1935 erscheinen wird.

Frankfurt

1937 wird er Nachfolger Martin Bubers am Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt. Das Lehrhaus ist eine innovative Institution: ein Ort der Erwachsenenbildung, an dem es darum geht, jüdische Tradition zurückzugewinnen bzw. neu zu entdecken. Die meisten Hörerinnen und Hörer und auch einige der Lehrenden sind assimilierte Juden.

Diese Tätigkeit kommt 1938 abrupt zu einem Ende, als nach dem Anschlag Herschel Grünspans auf den Legionsrat Rath die polnischen Juden aus Deutschland ausgewiesen werden. Für kurze Zeit hält Heschel sich in Polen auf. Nach einem Aufenthalt in England, wo das Institute for Jewish Learning in London gründet, gelingt es ihm 1940 in die USA zu emigrieren, wo er am Hebrew Union College eine Stelle erhält. Hebrew Union College ist die große Ausbildungsstätte reformierter Rabbiner – und inzwischen auch Rabbinerinnen – in Cincinatti. 1945 geht Heschel an das Jewish Theological Seminary of America in New York, wo er Professor für Mystik und Ethik wird.

In New York begegnet er seiner späteren Frau, der Pianistin Sylvia; sie haben eine Tochter Susannah Heschel, die in die Fußstapfen des Vaters tritt. Susannah Heschel ist Professorin für Religious Studies, Herausgeberin von On Being a Jewish Feminist, Autorin einer Studie über Abraham Geiger15 und wie ihr Vater auch im christlich-jüdischen Dialog engagiert.

Soziales und politisches Engagement gehören zu den herausragenden Charakterzügen von Heschels Person. So ist er in den sechziger Jahren in der Bürgerrechtsbewegung an der Seite Martin Luther Kings aktiv. Er setzt sich für die Emigration von Juden aus der Sowjetunion ein, damit es nicht zu einem „spirituellen Genozid“ komme. Der Staat Israel und ein friedliches Miteinander von Israelis und Palästinensern sind ihm ein wichtiges Anliegen. Und last, but not least ist er im christlich-jüdischen Gespräch aktiv. Hier ist vor allem seine Rolle in der Vorbereitung des 2. Vatikanischen Konzils zu erwähnen.

Abraham Joschua Heschel ist Rabbiner, Denker, Hochschullehrer, Aktivist und Zeit seines Lebens observanter Jude. Am 23. Dezember 1972 stirbt er – erst 65 jährig – im Schlaf.

Die Urteile über den Mann und sein Werk fallen meist hymnisch aus. Er wird als „der größte jüdische Theologe“ des 20. Jahrhunderts,16 „der herausragende jüdische Denker seiner Generation“ und als „eine bedeutende spirituelle Kraft im zeitgenössischen Amerika“ bezeichnet.17 So widmet ihm das katholische Magazin America drei Monate nach seinem Tod eine ganze Ausgabe, in der Katholiken, Protestanten und Juden sein Leben und Werk reflektieren. Der Präsident des Union Theological Seminary, der protestantischen Ausbildungsstätte, auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom Jewish Theological Seminary, schreibt: „Abraham Heschel gehörte der gesamten amerikanischen religiösen Gesellschaft. Ich weiß von keiner anderen Person, über die sich dies sagen ließe... Er schien gleichermaßen bei Protestanten und Katholiken zu Hause zu sein.“18

Sein Denken

Wer Heschel ist, spiegelt sich deutlich in seinem Werk. Leben und Werk sind bei ihm aufs Engste miteinander verknüpft. Die Welten, in denen Heschel sich bewegte, erscheinen auch in seinem Werk. Was ihm wertvoll scheint, nimmt er auf. So bleibt er sein ganzes Leben lang ein observanter Jude, der sich an die Gebote der Tradition hält. Grundlegende Überzeugungen des Chassidismus, wie die Bedeutung von Mystik und Ethik, durchziehen auch sein Hauptwerk. Er sucht und pflegt den Kontakt und Austausch mit Vertretern anderer Religionen.

Es lässt sich eine Linie von seinem ersten Werk, der Dissertation Über das prophetische Bewußtsein, hin zu seinem Hauptwerk Gott sucht den Menschen ziehen. Heschel war kein Vielschreiber. Neben einer Reihe von Essays verfasste er nicht mehr als zehn Bücher. Jedes von ihnen hat einen ganz eigenen Charakter. Heschel publizierte in vier Sprachen: Jiddisch, Deutsch, Englisch und Hebräisch. Und jedes Mal ist der charakteristische Ton Heschels zu erkennen: seine poetisch-philosophische Art über existentielle religiöse Fragen zu schreiben.

Heschel schreibt für andere, er möchte gewinnen. Er richtet sich nicht an Insider, sondern an Outsider, an nicht-observante Juden oder auch an Nicht-Juden.

Wenn das Wort „Apologie“ nicht einen negativen Beigeschmack hätte, so könnte man sein Werk als eine Apologie, eine Verteidigung des Judentums, begreifen. In seinen Büchern versucht Heschel, einer im Wesentlichen säkularen, nicht-jüdischen Umwelt, die Bedeutung von Religion im Allgemeinen und die Schätze des Judentums im Besonderen zu erschließen. Heschel stellt sich den religiösen und ethischen Herausforderungen seiner Zeit und seines Lebensumfeldes.

Sein Hauptwerk heißt Gott sucht den Menschen. Der Titel verblüfft. Denn in ihm wird die übliche Suchbewegung umgekehrt. Nicht Menschen fragen und suchen nach Gott. Sondern Gott selber macht sich auf die Suche nach den Menschen.

Adam wo bist Du?“ (Gen 3,9).Das ist der Ruf, der immer wieder ergeht. Er ist ein leises, zartes Echo auf eine leise, zarte Stimme; nicht in Worte gefasst, nicht ausgedrückt in den Kategorien des Geistes, sondern unbeschreiblich und geheimnisvoll wie die Herrlichkeit, von der die ganze Erde erfüllt ist.19

Heschels Gottesvorstellung ist stark von der Lektüre biblischer Propheten beeinflusst. Dieser Gott ist keiner, der sich nach der Schöpfung aus der Welt zurückgezogen hätte, sondern ein Gott der Anteil nimmt, ein Gott dem das Wohlergehen der Menschen am Herzen liegt, der empathisch ist und vom Menschen dasselbe fordert. Die Antwort des Menschen auf den Ruf Gottes liegt im Tun. Seine Bedeutung erläutert Heschel folgendermaßen:

Erst in seinen Taten wird der Mensch gewahr, was sein Leben wirklich ist; welche Macht er hat, zu verletzen und zu kränken, zu zerstören und zu vernichten, aber auch sich zu freuen und anderen Freude zu bereiten, eigene und fremde Spannungen zu lösen oder zu vermehren. Nur wenn er seinen Willen einsetzt, nicht wenn er reflektiert, begegnet der Mensch seinem eigenen Ich, wie es wirklich ist, nicht wie er es gerne sähe.20

Implizit ist dies eine Auseinandersetzung mit dem protestantischen Christentum. Das Luthertum betont die Bedeutung des Glaubens, das sola fide, im Hinblick auf das künftige Heil. Häufig ist damit eine Abwertung des Tuns und ein pessimistisches Menschenbild verbunden. Heschel dagegen hält ganz grundsätzlich an der Bedeutung menschlichen Handelns fest. Er sucht Verständnis zu schaffen für die Erfüllung der Mizwot, der Weisungen Gottes für das Leben, die im traditionellen Judentum einen zentralen Raum einnehmen. Dabei geht er auf Vorstellungen der nichtjüdischen Umwelt, wie auch nicht-observanter Juden ein.

Für Außenstehende mögen die Mizwot wie Hieroglyphen erscheinen, obskur, absurd, Ketten eines toten Legalismus. Für Menschen, die keine Teilhabe am Beispiellosen und Überragenden anstreben, mag Observanz zu einer freudlosen und lästigen Routine werden. Für diejenigen aber, die ihr Leben mit dem Ewig-Dauernden verbinden wollen, sind die Mizwot ein Kunstwerk, beglückend, ausdrucksstark, voller Bedeutung.21

Nach traditionellem jüdischen Verständnis entstammen die Gebote der Offenbarung am Sinai: Gott offenbarte Mose die schriftliche Tora, die Fünf Bücher Mose und darüber hinaus die mündliche Tora, die später ihren Niederschlag in Talmud und Midrasch gefunden hat. Die Gebote beschreiben Gottes Wegweisung für ein gelingendes Leben. Heschel widerspricht einem weitverbreiteten Vorurteil:

Judentum ist kein Synonym für Legalismus. Die Regeln der Observanz sind der Form nach Gesetz; der Substanz nach sind sie Liebe. Die Tora enthält beides: Gesetz und Liebe. Das Gesetz hält die Welt zusammen, Liebe bringt sie voran22

Heschel beschreibt zwei Aspekte beim Vollzug der Gebote. Zum einen gibt es die konkrete Ausführung eines Gebotes, wie z. B. das Sprechen eines Segensspruches vor dem Essen, das tägliche Gebet, das Halten der Feier- und Fasttage usw. Zum andern – und hier kommt Heschels chassidischer Hintergrund zum Tragen – ist die seelische Einstellung beim Vollzug der Gebote ein ebenso wichtiger Aspekt. Der hebräische Begriff, den Heschel in diesem Zusammenhang benutzt, ist Kawana. Er bedeutet so viel wie Achtsamkeit, bzw. Aufmerksamkeit, Konzentration, Hinwendung. Kawana haben bedeutet nach einer klassischen Formulierung: ‚Das Herz zum Vater im Himmel erheben.‘23

Wird die Beachtung der Gebote recht verstanden und vollzogen, dann können sich im Tun Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis ereignen:

Wenn wir auf Seinen Willen antworten, [und also eine Mizwa erfüllen], dann erkennen wir Seine Gegenwart in unserem Tun. Sein Wille wird in unserem Tun offenbar. Wenn wir eine heilige Tat vollbringen, erschließen wir die Brunnen des Glaubens.24

Indem wir eine heilige Aufgabe erfüllen, enthüllen wir eine göttliche Absicht ... In einer frommen Tat sind wir Echo auf Gottes heimlichen Gesang; wenn wir lieben, singen wir Gottes unvollendetes Lied weiter. Man kann kein anderes Bild des Allerhöchsten anfertigen als nur dies eine: unser eigenes Leben als Abbild seines Willens. Der Mensch nach Seinem Bilde geschaffen, ist dazu bestimmt Seine Wege des Erbarmens nachzuahmen. Er hat dem Menschen die Macht delegiert, an Seiner statt zu handeln. Wir sind Seine Stellvertreter, wenn wir Leiden lindern und Freude bringen.“25

„Wer eine Mizwa vollbringt, zündet vor Gott eine Lampe an und gibt seiner Seele mehr Leben. (Ex. Rabba 36,3)“26

Die Gedanken, die ich Ihnen von Heschel vorgestellt habe, machen seine Vorgehensweise deutlich: Er nimmt die Fragen seiner Umwelt auf; er zitiert immer wieder aus der Bibel und anderen Texten der jüdischen Tradition – in all dem kommt sein chassidischer Hintergrund hervor. Aber anders als manche Haredi-Gruppen begibt Heschel sich in das Gespräch mit Menschen, die nicht bereits „dazu“ gehören. Die Chabad-Bewegung bemüht sich nicht-oberservante Juden zu mehr Observanz zu führen und tut dies auch mit modernen Mitteln; der Unterschied ist, dass Heschel auch das Gespräch mit Nicht-Juden sucht.

Es ist lebenswichtig für das Judentum, in nicht-jüdische Kulturen Einblick zu gewinnen, damit es Elemente daraus entnehmen kann für die Bereicherung seines Lebens und Denkens. Die Einschränkung die er vornimmt lautet: Das darf aber nicht auf Kosten seiner intellektuellen Integrität geschehen.“27

So lehnt Heschel z. B. die historisch-kritische Methode zur Erforschung der Bibel nicht ab, aber ihre „Entheiligung“ der Bibel, wie er es nennt. „Das Gefühl für das Mysterium und die Transzendenz dessen, worum es in der Bibel geht, verliert sich im Prozeß der Analyse ...“28

Weil zu Heschels Person und Werk das Gespräch mit anderen gehört, schließe ich einige Reflexionen christlich-jüdischen Gespräch an. Sie stammen aus seiner Antrittsvorlesung, die er 1965 am protestantischen Union Theological Seminary in New York hielt, wo er der erste jüdische Gastprofessor war. Der Titel seiner Vorlesung Keine Religion ist ein Eiland lehnt sich an ein Gedicht des großen englischen Dichters John Dunne No man is an Island. Der Titel ist Programm.

Keine Religion ist ein Eiland. Wir alle sind miteinander verbunden. Verrat am Geist seiten von eines von uns berührt den Glauben aller.... Religiöser Isolationismus ist heute eine Illusion. Trotz aller tiefen Unterschiede in Standpunkt und Wesen wird das Judentum früher oder später von den intellektuellen, moralischen und spirituellen Ereignissen innerhalb der christlichen Gesellschaft betroffen – das Gleiche gilt umgekehrt.29

Heschel fordert ein Zusammenstehen von Judentum und Christentum vor den Herausforderungen der Zeit, die er vor allem in Nihilismus und Zynismus sieht. Vor dem Hintergrund dieser Aufgabe, die Juden und Christen nur gemeinsam bewältigen können, sieht Heshel dennoch auch das Trennende:

Was trennt uns? Was eint uns? Wir stimmen nicht überein in Fragen des Gesetzes und des Bekenntnisses, in Überzeugungen, die den eigentlichen Kern unserer religiösen Existenz ausmachen. Wir sagen in einigen Lehrsätzen, die für uns wesentlich und heilig sind, nein zueinander. Was eint uns? Daß wir Gott Rechenschaft schulden, daß wir Gegenstand von Gottes Zuwendung sind, kostbar in seinen Augen.30

Er sieht deutlich das Erbe der Vergangenheit, den noch immer existierenden Antijudaismus, die noch immer vorhandene Lehre der Verachtung. Und dennoch gibt es für Heschel keine Alternative zum Gespräch zwischen Juden und Christen.

Was also ist der Zweck interreligiöser Zusammenarbeit? Weder einander zu schmeicheln noch sich gegenseitig zu widerlegen, sondern einander zu helfen, Einsichten und Lernen zu teilen, bei akademischen Unternehmungen auf höchster wissenschaftlicher Ebene zusammenzuarbeiten und, was noch wichtiger ist, in der Wüste nach Quellen der Verehrung zu suchen, nach kostbarer Stille, nach der Kraft der Liebe und Fürsorge für den Menschen.31

Anmerkungen:
  1. Vortrags auf dem Studientag von Begegnung. Niedersachsen am 11. November 2002 in Hannover. Die Form des Vortrags wurde beibehalten. Übersetzung der Zitate aus den englischen Werken Heschels: Ursula Rudnick.
  2. Abraham Joshua Heschel, A Passion for Truth, New York 1973, S. xiii.
  3. Ebd.
  4. Nach: Edward K. Kaplan und Samuel H. Dresner: Abraham Joshua Heschel. Prophetic Witness, S. 25.
  5. Witness, 40.
  6. Ebd.
  7. Ebd., 71.
  8. Ebd., 147. Dieses Gedicht erschien am 25. 4. 1930 in der Naye Folks-Zaytung, der Zeitschrift der Bundisten in Warschau.
  9. Jeshajahu Leibowitz (geb. 1903 in Riga, gest. 1994 in Jerusalem). Von ihm ist zuletzt auf Deutsch erschienen: Jeshajahu Leibowitz mit Michael Shashar, Gespräche über Gott du die Welt, Dvorah Verlag, Frankfurt/M., 1990. (W.R.-R.)
  10. Joseph Dov Soloveitchik (1903 – 1992) entstammt einer angesehenen litauischen Rabbinerfamilie; 1932 Emigration in die USA; 1941 Nachfolger eines Vaters als Professor für Talmud an der Yeshiva University. Vorsitzender der Halachischen Kommission des Rabbinical Council of America. Durch eine Vorlesungen und öffentlichen Vorträge wurde er zum geistlichen Mentor der in den USA ausgebildeten orthodoxen Rabbiner und war zweifellos der unbestrittene Führer der aufgeklärten Orthodoxie. (W.R.-R.)
  11. Hermann Cohen (1842 – 1918), Begründer der neukantianischen „Marburger Schule“; bedeutender Einfluss auf Baeck und Rosenzweig. (W.R.-R.)
  12. Witness, 100.
  13. A. J. Heschel, Toward an Understanding of Halacha, in: Yearbook of the Central Conference of American Rabbis 63, 1953, 388.
  14. Ebd., 108.
  15. Susannah Heschel, Abraham Geiger and the Jewish Jesus. Chicago 1998. Deutsch: Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Berlin: JVB, 2001.
  16. Jacob Neusner. Stranger at Home, „The Holocaust“, Zionism and American Judaism. Chicago, 1981, 82.
  17. Fritz A. Rothschild, Varieties of Heschelian Thought. In: John V. Merkle (ed.), Abraham Joshua Heschel. Exploring his Life and Thought. London, New York: Macmillan 1985, 87.
  18. 1John C. Bennet. „Agent of God´s Compassion“. In: America 128/1973. 205.
  19. 1God in Search of Man. A Philosophie of Judaism. Chicago, 1955. Deutsch: Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums. Neukirchen-Vluyn 1. A. 1980, 3. A.1992, 105.
  20. Ebd., 219.
  21. Ebd., 272.
  22. Ebd., 248.
  23. Ebd., 243.
  24. Ebd., 218.
  25. Ebd., 224f.
  26. Ebd., xx
  27. Ebd., 13.
  28. A. J. Heschel. „Erneuerung des Protestantismus. Eine jüdische Stimme“ (1963). In: Fritz A. Rothschild. Christentum aus jüdischer Sicht. Fünf jüdische Denker des 20. Jahrhunderts über das Christentum und sein Verhältnis zum Judentum. Berlin: Institut für Kirche und Judentum, 1998. 318.
  29. Ibid. 326.
  30. Ibid. 329.
  31. Ibid. 340.

Editorische Anmerkungen

Quelle: BEGEGNUNGEN. Zeitschrift für Kirche und

Judentum, Nr. 2, 2003