»Aber ich sage damit nicht, dass Gottes Wort hinfällig geworden sei« (Röm 9,6a). Erwählung und Errettung Israels in Röm 9-11

In Röm 9-11 versucht Paulus eine Spaltung, die in seiner als eschatologischer Endzeit gedeuteten Gegenwart das Gottesvolk Israel durchzieht, zu verstehen: Einerseits gibt es unter seinen jüdischen Glaubensgeschwistern solche, die der endzeitlichen Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium von seinem Sohn Jesus Christus (Röm 1,1-4.16-17) Vertrauen schenken, andererseits solche, die dies nicht tun. Angesichts dieser Spaltung innerhalb des Gottesvolkes betont Paulus zu Beginn seiner Ausführungen in Röm 9,6, dass das Wort Gottes nicht hinfällig geworden sei.

Die Ablehnung der endzeitlichen Offenbarung Gottes durch Israel hat offensichtlich Zweifel an der Wirkmächtigkeit und Verlässlichkeit des Wortes Gottes aufkommen lassen, da heilsgeschichtliche Erwählung und endzeitliche Errettung einander nicht korrespondieren. Paulus tritt diesen Zweifeln mit seiner Argumentation in Röm 9-11 entgegen: Keineswegs sei es so, dass das Wort Gottes hinfällig geworden sei (9,6a). Angefangen mit der im direkten Anschluss erfolgenden Aussage: »Denn nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen« (9,6b), verstehe ich alles in Röm 9-11 Folgende als Begründung der These der Verlässlichkeit und Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes.

Ich werde mich in der folgenden Auslegung auf Röm 9,6-13 fokussieren und interpretiere die Verse im Gesamtkontext der Kapitel 9-11.

9,6: »Aber ich sage damit nicht,
dass Gottes Wort hinfällig geworden sei.
Denn nicht alle sind Israeliten,
die von Israel stammen.«

Röm 9,6 schließt an den die Kapitel Röm 9-11 eröffnenden Abschnitt Röm 9,1-5 an, in dem Paulus seinem großen Schmerz darüber Ausdruck verleiht, dass seine jüdischen Glaubensgeschwister im Widerspruch zu ihrer heilsgeschichtlichen Erwählung gegenwärtig nicht am endzeitlichen Heil partizipieren,[1] obwohl sie Teil des mit den in 9,4-5 aufgezählten, unwiderruflichen Gnadengaben (11,29) begabten und erwählten Volks sind:

»4 Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen,
5 denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch…«

Der Unglaube Israels hinsichtlich der Offenbarung der endzeitlichen Gerechtigkeit Gottes, die vor allem[2] dem jüdischen Volk gilt (Röm 1,16), steht im Widerspruch zur bleibenden Erwählung Israels und wirft die Frage nach der Verlässlichkeit und Durchsetzungskraft des Wortes Gottes auf. Die emphatische Verneinung, dass dieses Wort Gottes hinfällig geworden sei (V. 6a), lässt deshalb in der Fortführung eine Argumentation erwarten, die auf die Entsprechung von Erwählung und endzeitlicher Errettung Israels zuläuft.

Im direkten Anschluss an Röm 9,6a begründet Paulus sein Vertrauen auf die Durchsetzungsfähigkeit des Wortes Gottes damit, dass nicht alle aus Israel Israeliten seien. Das ist in der Auslegungsgeschichte in weiten Teilen so verstanden worden, als würde Gott seine Erwählungsgeschichte nur mit einem Teil Israels, dem durch die Kirche repräsentierten wahren Israel, fortführen. Dann, so die Überzeugung, wäre das Wort Gottes ja nicht hinfällig geworden, weil diejenigen, die die endzeitliche Offenbarung, das Evangelium, nicht angenommen haben, im Gegensatz zu denjenigen Jüdinnen und Juden, die an Jesus als Messias glauben, eben nicht mehr Israel seien. Das wahre Israel, das seien vielmehr allein christusgläubige Juden wie Paulus oder sogar die aus jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen bestehenden Gemeinden. Dem nicht an Jesus als gekommenen und wiederkommenden Messias glaubenden Judentum wird in einer solchen Sichtweise der Ehrenname Israel bzw. die Identität als Israeliten abgesprochen. Aus mehreren Gründen kann eine solche Sichtweise nicht überzeugen.

Sie vermag erstens und vor allem deshalb nicht zu überzeugen, weil Paulus in 9,4 genau das Gegenteil behauptet hatte. Hier hatte er von seinen nichtchristusgläubigen Geschwistern gesagt, dass sie Israel »sind« (Präsens!). Argumentativ bestünde also ein unauflösbarer Widerspruch, der auch noch auf engstem Raum erfolgte: Einmal, in 9,4, wäre das »ungläubige« Israel Israel, ein andermal, in 9,6, wäre das nicht der Fall. Von 9,4 herkommend liegt es deshalb mehr als nahe, in 9,6 diejenigen, die nicht Israeliten sind, nicht mit denjenigen Jüdinnen und Juden zu identifizieren, die dem Evangelium ablehnend gegenüberstehen. Denn diese sind ja »Israeliten«.[3]

Ist es zweitens richtig gesehen, dass die Überzeugung, das Wort Gottes könnte hinfällig geworden sein, gerade deshalb aufkommen konnte, weil die Mehrheit der jüdischen Zeitgenossen des Paulus im Widerspruch zu ihrer Erwählung dem Evangelium keinen Glauben schenkt, dann ist eine Antwort, die diesen Unglauben umgeht, indem sie das Problem dadurch löst, dass der Unglaube die in 9,4 konzedierte Identität des nichtchristusgläubigen Judentums als Israel aufhebt, m. E. gerade keine Antwort. Die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes, das mit der Erwählung Israels auch auf dessen endzeitliches Heil zielt, ist erst dann nicht hinfällig geworden, wenn »ganz Israel« (11,26) auch zu diesem Heil gelangt.

Um in den Worten von Röm 3,3 und 11,29 zu sprechen: Wenn die Treue Gottes, dessen Gnadengaben und Berufung ihn nicht gereuen können (11,29), nicht durch die Untreue Israels aufgehoben werden kann (3,3: hier: einiger!), dann kann diese Treue nicht darin bestehen, dass diejenigen, die untreu geworden sind, außen vorbleiben und die Geschichte Gottes allein mit denjenigen weitergeht, die dem Evangelium vertrauen. Dass diejenigen von allen aus Israel, die gegenwärtig nicht mit Israel identisch sind, die nicht an Jesus als Messias Glaubenden Juden sind, ist auch von daher unwahrscheinlich.

Dass das nicht an Jesus als Messias glaubende Judentum für Paulus Israel ist, legt sich drittens auch deshalb nahe, weil der Völkerapostel in Röm 9-11 seine jüdischen Glaubensgeschwister weiterhin als Israel bezeichnet. So spricht er in 9,31 davon, dass Israel, das die Torah verfolgt, die Torah (9,31) und ihr Ziel (10,4) nicht erreicht hat. In 10,19 stellt er die Frage, ob Israel die aus dem Wort Christi stammende Predigt des Evangeliums nicht verstanden habe, und in 11,7 sagt er, dass Israel das, was es sucht, nicht erlangt habe. Israel bezeichnet an den genannten Stellen das nicht an Jesus als Messias glaubende Judentum. Und wenn Paulus in 11,1 auf die rhetorische Frage seines fiktiven Gesprächspartners, ob Gott sein Volk verstoßen habe, mit »Das sei ferne!«, man könnte auch paraphrasieren: »Um Gottes willen: Nein!« antwortet, und zur Begründung mit den Worten »denn auch ich bin ein Israelit« auf seine eigene Zugehörigkeit zu Israel verweist, dann ist diese Aussage in Gedanken zu vervollständigen: wie sie, meine jüdischen Glaubensgeschwister, es sind.

Auch diese Stelle ist nicht so zu verstehen, als fungiere Paulus hier als Repräsentant des an Jesus als Messias glaubenden Judentums, welches das ungläubige Israel als wahres Israel ablöse. Vielmehr steht auch hier die Partizipation des Paulus und in ihm des dem Evangelium vertrauenden Judentums am eschatologischen Heil für das zukünftige Heil ganz Israels. Daran, dass Paulus auch Israelit ist, zeigt sich, dass Gott das »ungläubige « Israel nicht verstoßen hat.[4] Der Eindruck, dass Paulus nicht mehr zu Israel gehört, so dass er seine Identität als Israelit in 11,1 explizit herausstellen muss, konnte entstehen und ist deshalb aufgekommen, weil die messianischen Gemeinden der Mittelmehrwelt aus jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen bestanden und eine soziale Institution außerhalb der Synagoge bildeten. Sie gehörten nicht zu Israel. Auch Paulus nimmt für seine Gemeinden nicht in Anspruch, Israel zu sein,[5] kann aber in 11,1 auf seine eigene Identität als Israelit verweisen, der diese Identität aber eben nicht mehr als Teil einer Synagogengemeinde, sondern als Glied der ekklesia lebt.[6]

In Röm 11,1-7 gewinnen das Paradox, dass nicht alle aus Israel gegenwärtig mit Israel identisch sind, und die Identität derjenigen, die gegenwärtig nicht zu Israel gehören, deutlichere Konturen als in 9,6. Denn hier benennt Paulus diejenigen, die anders als Israel das Evangelium angenommen haben und bereits am eschatologischen Heil partizipieren:

»5 So geht es auch jetzt zu dieser Zeit: Ein Rest ist geblieben, der erwählt ist aus Gnade. 6 Ist’s aber aus Gnade, so ist's nicht aufgrund von Werken; sonst wäre Gnade nicht Gnade.
7 Wie nun? Was Israel sucht, das hat es nicht erlangt; die Erwählten aber haben es erlangt. Die Übrigen wurden verstockt…«

Es gibt einen Rest (V. 5) bzw. die Erwählten (V. 7) und diese Erwählten sind nicht mit Israel, das das, was es sucht, nicht erlangt hat (V. 7), identisch. Gleichzeitig bilden die Erwählten und die Übrigen, die verstockt wurden (Gott ist als Subjekt der Verstockung vorausgesetzt), eine Gesamtheit, die Paulus aber nicht benennt. Israel bezeichnet nach Röm 11,5-7 das nicht an Jesus als Messias glaubende Judentum; die Erwählten sind (gegenwärtig) nicht mit Israel identisch und doch dürfte auch von ihnen gelten, was Paulus in 11,1 für sich selbst in Anspruch nimmt: »auch ich bin ein Israelit«. Auch hier zeigt sich: Diejenigen aus Israel, die gegenwärtig laut Röm 9,6 nicht mit Israel identisch sind, sind nicht diejenigen, denen Paulus in Röm 9,4 den Ehrentitel Israeliten zugesprochen hatte, sondern an Jesus als Messias glaubende Jüdinnen und Juden wie Paulus.

Ein letzter Punkt ist an dieser Stelle noch zu bedenken: Paulus benennt am Anfang von Röm 9,6 ein Paradox, das die Situation in der als eschatologischer Endzeit verstandenen Gegenwart kennzeichnet: Nicht alle aus Israel sind Israel. Dieses Paradox, das auf den Widerspruch zwischen heilsgeschichtlicher Erwählung und gegenwärtiger Nicht-Teilhabe Israels am eschatologischen Heil zurückzuführen ist, könnte zu der Auffassung führen, das Wort Gottes sei hinfällig geworden.

Am Ende von Röm 9-11 wird Paulus dieses Paradox aufgelöst haben: Gottes Wort ist nicht hinfällig, weil es diejenigen, denen es als aus den Völkern erwähltem Volk Israel zuerst und vor allem gilt (Röm 1,16), zum eschatologischen Heil führt. Auch wenn gegenwärtig einem Teil Israels Verstockung widerfahren ist, »11,26 … wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jes 59,20; Jer 31,33): ›Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.‹«

In der Gegenwart des Paulus hingegen liegt das zukünftige Heil Israels aufgrund des »Unglaubens « Israels und der damit verbundenen Spaltung in Israel nicht offen zu Tage. Deshalb kann Paulus die Erlangung des eschatologischen Heils seitens seiner nichtchristusgläubigen jüdischen Glaubensgeschwister nur als Geheimnis (Röm 11,25) verkünden. Dem entspricht der Lobpreis der unerforschlichen Wege Gottes (Röm 11,33-36), mit denen Röm 9-11 endet. Die unerforschlichen Wege Gottes führen aber, davon ist Paulus überzeugt, zur Einheit und zum Heil ganz Israels. Das Wort Gottes ist nicht hinfällig geworden.

Bis hierhin dürfte deutlich geworden sein: Diejenigen aus Israel, die in der Gegenwart des Paulus nicht mit Israel identisch sind, sind diejenigen, die das Evangelium anerkennen und ihm vertrauen. In den V. 7-13, denen wir uns nun zuwenden, parallelisiert Paulus die endzeitliche Erwählung dieses später so genannten »Rests« (Röm 11,5; vgl. 9,27) mit der Erwählung der Väter Isaak und Jakob, und er versteht sie in Analogie dazu: Wie Gott Abraham in Isaak und Jakob Nachkommenschaft aufgrund seines erwählungsmäßigen freien Ratschlusses bzw. seiner Verheißung berufen hat, so hat er endzeitlich aus dem erwählten Volk Israel einen Teil berufen, der, wie erst im Laufe der Gesamtargumentation der Kapitel 9-11 deutlich werden wird, für die Rettung ganz Israels steht.

Mit den V. 7-13 möchte Paulus also nicht die Identität des ungläubigen Israels als Israel sicherstellen. Vielmehr beschreibt er das paradoxe Verhältnis derjenigen aller aus Israel, die als Teil der eschatologischen Gnadenauswahl gegenwärtig nicht mit Israel identisch sind, zu Israel, dessen bleibende Identität als Israel er trotz des gegenwärtigen Unglaubens gegenüber dem Evangelium voraussetzt.

Wie nun spiegelt sich das Paradox, dass gegenwärtig nicht alle aus Israel Israeliten sind, in den V. 7-13 wider?

Die V. 7-9 lauten:

»7 auch nicht alle, die Abrahams Nachkommen sind, sind darum seine Kinder. Sondern ›nach Isaak soll dein Geschlecht genannt werden‹ (Gen 21,12).
8 Das heißt: Nicht das sind Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind; sondern nur die Kinder der Verheißung werden zur Nachkommenschaft gerechnet.
9 Denn dies ist ein Wort der Verheißung, da er spricht (Gen 18,10): ›Um diese Zeit will ich kommen, und Sara soll einen Sohn haben.‹«

Die Verse beziehen sich inhaltlich auf die Erwählung Isaaks, in dem Gott Abraham Nachkommenschaft in einem qualifizierten Sinne beruft. Nur Isaak ist – anders als der von Hagar geborene Ismael (Gen 16,1-16) – ein Kind der Verheißung. In der biblischen Geschichte zeigt sich der Verheißungscharakter daran, dass Abraham und Sara aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr auf einen leiblichen Nachkommen hoffen können. Sara hat deshalb für das in V. 9 zitierte Verheißungswort („Gottes“) aus Gen 18,10 nur ein Lachen übrig:

»10 Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben. Das hörte Sara hinter ihm, hinter der Tür des Zeltes.
11 Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt, sodass es Sara nicht mehr ging nach der Frauen Weise.
12 Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun, da ich alt bin, soll ich noch Liebeslust erfahren, und auch mein Herr ist alt!«

Mit ihrem Lachen stellt Sara die Wirkmächtigkeit des Verheißungswortes in Frage, das sich aber in der Geburt Isaaks realisiert und Wirklichkeit wird (Gen 21,1-7). Dass Gott Abraham und Sara mit Isaak einen leiblichen Nachkommen schenkt, illustriert für Paulus die Wirkmächtigkeit und Verlässlichkeit des Wortes Gottes, die er ja auch für seine Gegenwart behauptet: Der Gott, der Abraham und Sara trotz ihres hohen Alters einen leiblichen Nachkommen schenkt und darin sein Verheißungswort aufrichtet, der wird – seinen Worten aus Jes 59,20 und Jer 31,33 entsprechend – Israel trotz dessen »Unglauben« zum Heil führen (Röm 11,26-27). Diese Analogie schwingt in Röm 9,7-9 nur im Hintergrund mit, klingt aber von der Gesamtargumentation der Kap. 9-11 her betrachtet durchaus bereits hier an.

Paulus kommt es nun in Röm 9,7-9 auf die Unterscheidung zwischen der leiblichen Kindschaft und der Verheißungsnachkommenschaft an. Er interpretiert das Zitat aus Gen 21,12 im Blick auf seine eigene Gegenwart. Auch in ihr ist leibliche Kindschaft nicht mit der endzeitlichen Verheißungsnachkommenschaft identisch. Die leibliche Nachkommenschaft Abrahams, Isaaks und Jakobs, diejenigen also, die nach Röm 9,4 Israel sind (!), partizipiert aktuell nicht an der eschatologischen Verheißungskindschaft der Gotteskinder aus Juden und Nichtjuden.

Folgende Aspekte sind für ein angemessenes Verständnis dieser Verse zu berücksichtigen:

1 Paulus stellt hier weder in Frage, dass Gott Abraham in Isaak Nachkommenschaft berufen hat, noch, dass das nicht an Jesus als Messias glaubende Judentum Teil dieser Nachkommenschaft ist. Für ihn ist die Verheißungskindschaft Isaaks, an der das »ungläubige« Israel partizipiert (9,4-5), vielmehr transparent für die Verheißungskindschaft der endzeitlichen Kinder Gottes (V. 8). Die Erwählung Isaaks (und Jakobs) und die endzeitliche Erwählung schließen sich nicht aus, auch wenn sie gegenwärtig einander nicht korrespondieren und so zur Spaltung in Israel geführt haben. Was eigentlich Hand in Hand gehen müsste, die Erwählung Israels und die Erwählung der Kinder Gottes aus Juden und Nichtjuden, geht paradoxerweise aufgrund des »Unglaubens« Israels auseinander, so dass eben der Eindruck entstehen kann, das Wort Gottes sei hinfällig geworden (9,6).

2 Es gibt keinen grundlegenden Gegensatz zwischen Verheißungskindschaft und leiblicher Nachkommenschaft: Der Abraham-Erzählung zufolge ist Isaak wie Ismael leiblicher Nachkomme Abrahams, mehr noch, die Abraham- Erzählung dreht sich geradezu darum, dass Abraham und Sara von Gott ein gemeinsamer leiblicher Sohn verheißen wird (Gen 17,17- 22). Nur und gerade als leiblicher Nachkomme Abrahams und Saras ist Isaak Verheißungskind. In diesem Sinne sind auch die jüdischen Glaubensgeschwister des Paulus für den Völkerapostel bleibend Verheißungskinder.

3 Die Verwendung des griechischen Begriffes tekna tes sarkos (V. 8), den ich in Punkt 2 meiner Ausführungen im Sinne einer leiblichen Kind- bzw. Nachkommenschaft gedeutet habe, ist wie die Übersetzung der Lutherbibel, die von Kindern »nach dem Fleisch« spricht, zeigt, mehrdeutig. Fleisch bezeichnet bei Paulus nicht nur leibliche Nachkommenschaft (vgl. Röm 9,3.5), sondern in der als eschatologischer Endzeit gedeuteten Gegenwart auch die menschliche Konstitution, die durch die Anfälligkeit für die Sündenmacht gekennzeichnet und dem Tod verfallen ist. Aus diesem Sünden- und Todesverhängnis, das die individuelle Verantwortung der Menschen für ihr Tun nicht in Frage stellt, sind die in der Taufe mit dem eschatologischen Geist begabten jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen befreit (Röm 7-8). Sie sind keine Kinder des Fleisches, sondern Kinder der Verheißung, insofern sich an ihnen das endzeitliche Wort Gottes, das Evangelium, als wirkmächtig, d. h. als eine lebendig machende bzw. Leben aus den Toten schaffende Kraft Gottes erwiesen hat. Sie sind »neue Schöpfung« (2 Kor 5,17; Gal 6,15). Dass Paulus auch in diesem Punkt eine deutliche Parallele zur Genesiserzählung sehen dürfte, legt Röm 4,17-25 nahe. Hier parallelisiert Paulus den unverbrüchlichen Glauben Abrahams daran, dass Gott ihm und Sara trotz ihrer erstorbenen, d.h. zeugungs- und gebärunfähigen Leiber, einen leiblichen Nachkommen schenken wird, mit dem Glauben an die Auferweckung Jesu. Beide Glaubensinhalte beziehen sich auf Gottes wirkmächtiges Wort und das mit diesem verknüpfte schöpferische bzw. neuschöpferische Handeln, das Leben aus den Toten schafft. In Isaak und Jesus hat Gott Leben aus den Toten geschaffen. Die in Isaak berufenen leiblichen Nachkommen Abrahams, zu denen die nichtchristusgläubigen jüdischen Glaubensgeschwister des Paulus gehören, partizipieren an dieser Verheißungskindschaft.

4 Das aber heißt: Verheißungskinder sind sowohl das nicht an Jesus als Messias glaubende Judentum als auch das der endzeitlichen Offenbarung Gottes vertrauende Judentum. Diejenigen Jüdinnen und Juden, die wie Paulus dem endzeitlichen Handeln Gottes in und durch Jesus Christus vertrauen und Teil der messianischen Gemeinden aus Juden und Nichtjuden sind, sind Verheißungskinder sogar in doppelter Hinsicht: Sie gehören nicht nur – wie ihre ungläubigen Schwestern und Brüder – zur leiblichen Nachkommenschaft Abrahams, Isaaks und Jakobs = Israels, sondern sie sind Teil der in den messianischen Gemeinden versammelten Kinder Gottes, die den Geist als Angeld ihrer Neuschöpfung empfangen haben und die darauf vertrauen dürfen, dass sie im Endgericht als gerechtfertigte Sünder bestehen werden. Diese eschatologische Gotteskindschaft gilt aber nicht nur jüdischen Menschen, sondern auch Menschen aus der Völkerwelt. Dieser Aspekt der universalen Gotteskindschaft klingt in Röm 9,7-9 an, steht aber hier nicht im Vordergrund.

Kommen wir jetzt zu V. 10-13. Diese Verse lauten:

»10 Aber nicht allein hier ist es so, sondern auch bei Rebekka, die von dem einen, unserm Vater Isaak, schwanger wurde.
11 Ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten, da wurde, auf dass Gottes Vorsatz der Erwählung
bestehen bliebe –
12 nicht aus Werken, sondern durch den, der beruft –, zu ihr gesagt: ›Der Ältere wird dem Jüngeren dienen‹ (Gen 25,23), 13 wie geschrieben steht (Mal 1,2–-3): ›Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.‹«

Auch die Jakob-Esau-Erzählung der Genesis (Gen 25,19-36,43) ist für Paulus für die gegenwärtige Spaltung in Israel transparent: So wie Gott hinsichtlich der Isaakkinder und Zwillinge Jakob und Esau seinen Vorsatz bzw. vorzeitlichen Ratschluss durch die Erwählung Jakobs ausgeführt und sein geschichtliches Wort aufgerichtet hat, so verhält es sich auch mit Gottes eschatologischer Gnadenwahl: Die Erwählung derjenigen aus Israel, die als Teil der ekklesia aus jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen gegenwärtig nicht mit ihren Geschwistern aus Israel identisch sind, gründet allein in Gottes freiem und gnädigem Ratschluss, nicht in irgendeinem Tun des Guten oder Bösen bzw. ihrer Werke. Die Souveränität des erwählenden und in der Geschichte seinen vorzeitlichen Ratschluss aufrichtenden Gottes verbürgt für Paulus die Verlässlichkeit und Durchsetzungskraft des Wortes Gottes, das sich menschliche Irrwege wie den »Unglauben« Israels zu Nutzen macht.[7] In diesem Sinne verstehe ich das Gotteswort aus Gen 25,23, dass der Ältere dem Jüngeren dienen muss. In dem Zitat dürfte die erst spä - ter von Paulus explizit gemachte Deutung vorbereitet sein, dass der »Unglaube« Israels die paulinische Völkerweltmission allererst ermöglicht (vgl. Röm 11,11 und Röm 11,25 mit ihrem jeweiligen Kontext).

Und auch das wirkungsgeschichtlich problematische Gotteswort aus Mal 1,2-3 ist transparent für die gegenwärtige Spaltung in Israel: »Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.«

Ich verstehe dieses höchst problematische Wort, das in der Rezeptionsgeschichte aufgrund der paradoxen Identifikation Israels mit Esau im Sinne einer Aufhebung der Identität des »ungläubigen « Judentums als Israel verstanden wurde, in Analogie zur Aussage von Röm 11,28, in der Paulus seine nicht an Jesus als Messias glaubenden Geschwister als Feinde im Blick auf das Evangelium versteht. Die gegenwärtige Situation zwischen der eschatologischen Auswahl und dem erwählten Gottesvolk Israel ist durch Feindschaft und Hass gekennzeichnet. Das »ungläubige« Israel, das Israel ist und bleibt (Röm 9,4-5), übernimmt im Verhältnis zu denjenigen aus Israel, die gegenwärtig nicht mit Israel identisch sind, paradoxerweise die Rolle von Esau.[8] Durch das Gotteswort aus Mal 1,2-3 macht Paulus sehr deutlich, auf welcher Seite er Gott in dem gegenwärtigen Konflikt der beiden Parteien in Israel verortet. Diejenigen, die sich dem Ratschluss und dem Evangelium als endzeitlichem Wort Gottes entgegenstellen, sind aus seiner Perspektive Feinde, die Gott hasst. Dass dieses Wort nicht von seinem historischen Kontext abstrahiert und schon gar nicht von (heiden-)christlicher Seite nachgesprochen werden darf, versteht sich von selbst, zumal Paulus in Röm 11,28 ja dann auch die andere, letztendlich dominierende Seite benennt: Die Feinde hinsichtlich des Evangeliums sind »im Blick auf die Erwählung … Geliebte um der Väter willen« und als solche werden sie am eschatologischen Heil partizipieren. Die Aussage, dass seine nicht an Jesus als Messias glaubenden jüdischen Glaubensgeschwister »Geliebte um der Väter« willen sind, die der Aussage von 9,5 entspricht, dass ihnen die Väter »gehören«, verweist darauf, dass die endzeitliche Erwählung die Erwählung der Väter nicht außer Kraft setzt. Das gilt eben auch für Röm 9,10-13 und das Zitat aus Mal 1,2-3. Nochmals: Dass das »ungläubige« Israel aus paulinischer Perspektive gegenwärtig die Rolle Esaus spielt, ändert nichts daran, dass sie Teil der Verheißungsnachkommenschaft Abrahams und Isaaks sind. Israel spielt paradoxerweise die Rolle von Esau, während diejenigen aus Israel, die gegenwärtig nicht mit Israel identisch sind, sich in der Rolle Jakobs wiederfinden.

Kommen wir zum Schluss: Der Widerspruch zwischen der bleibenden Erwählung und dem gegenwärtigen »Unglauben« Israels hat zu der Schlussfolgerung geführt, dass das Wort Gottes hinfällig geworden sei. Paulus lehnt diese Schlussfolgerung vehement und kategorisch ab (Röm 9,6a). Er zeigt in Röm 9-11, dass die endzeitliche Errettung, die vor allem Israel gilt (Röm 1,16), an diesem nicht vorbeigeht und die gegenwärtige Spaltung in Israel überwunden werden wird (Röm 11,25ff.). Erwählung und Errettung werden letztendlich einander wieder entsprechen, woran offenbar wird, dass das Wort Gottes nicht hinfällig geworden ist.

Gegenwärtig aber geht das Wort Gottes – wie eigentlich immer – verschlungene Wege. Kriterium der Wirkmächtigkeit und Zuverlässigkeit des Wortes Gottes ist für Paulus die Partizipation ganz Israels am eschatologischen Heil. In diesem Sinne muss auch die Aussage, dass gegenwärtig nicht alle aus Israel mit Israel identisch sind (Röm 9,6b), verstanden werden, die die Aussage, Gottes Wort sei keineswegs hinfällig geworden (Röm 9,6a), begründet: Gerade weil gegenwärtig nicht alle aus Israel mit Israel identisch sind, besteht für Paulus kein Zweifel an der Errettung ganz Israels, also auch derjenigen seiner jüdischen Glaubensgeschwister, die trotz ihrer bleibenden Identität als Israeliten das Evangelium, die Offenbarung der endzeitlichen Gerechtigkeit Gottes, ablehnen. Die Gnadenauswahl bzw. der Rest verbürgt das Heil ganz Israels, das Wort Gottes ist nicht hinfällig geworden.

 

 

[1] Dies ist für Röm 9,1-5 vorauszusetzen, auch wenn Paulus hier nicht explizit auf den »Unglauben« Israels zu sprechen kommt.
[2] So die Übersetzung von proton in Röm 1,16 durch Wolter, Michael (2014): Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1– 8, in: Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. VI/1, Neukirchen-Vluyn, S. 101.
[3] Im Verständnis von Röm 9,6b als Aussage bei gleichzeitiger Identifikation derjenigen, die gegenwärtig nicht mit Israel identisch sind, mit dem an Jesus als Messias glaubenden Judentum folge ich dem grundlegenden Beitrag von Stegemann, Ekkehard W. (2012): Alle von Israel, Israel und der Rest. Paradoxie als argumentativ-rhetorische Strategie in Röm 9,6, in: Ders. (2012a): Der Römerbrief: Brennpunkte der Rezeption. Aufsätze, Zürich, S. 169–205.
[4] Vgl. Wengst, Klaus (2008): »Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk«. Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart, S. 349–350.
[5] Dazu, dass das mit aller Wahrscheinlichkeit auch für den Ausdruck »Israel Gottes« in Gal 6,16 gilt, vgl. von der Osten- Sacken, Peter (2019): Der Brief an die Gemeinden in Galatien, in: Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Stuttgart, S. 314–316.
[6] In Röm 9-11 bezeichnen die Substantive »Israelit(en)« (9,4.6.27;11,1) bzw. »Israel« (9,6.27.31;10,19.21; 11,2.7.25.26) entweder »ganz« Israel oder das nicht an Jesus als Messias glaubende Judentum. An keiner Stelle dienen Paulus die Bezeichnungen dazu, die Identität des ungläubigen Israels als Israel in Frage zu stellen, und den Israeltitel programmatisch auf das christusgläubige Judentum zu übertragen. Das gilt auch für Röm 9,13 (Argumentation oben im Fließtext).
[7] Das Motiv des souverän erwählenden und seinen Ratschluss aufrichtenden Gottes spiegelt sich im weiteren Verlauf von Röm 9-11 im Verstockungsmotiv wider (11,7.25; vgl. 9,18). Mit diesem Motiv integriert Paulus den »Unglauben« Israels in den göttlichen Heilsplan.
[8] Gen 33,1-16 erzählt von der Versöhnung zwischen Jakob und Esau, Röm 9-11 zielen mit der Rettung ganz Israels auf die Aufhebung der gegenwärtigen Spaltung.

Editorische Anmerkungen

Dr. Jens-Christian Maschmeier ist Privatdozent im Fachbereich Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum. Die Bibelzitate in diesem Beitrag stammen aus der revidierten Fassung der Lutherbibel von 2017.

Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), 1/2022.