Zwischen Kreationismus und Evolutionismus. Die Deutungen von Hans Jonas und Joseph Ratzinger im Vergleich.

Die so genannte «Ursprungsdebatte» ist der Disput zwischen Kreationismus und Evolutionismus um ihre unterschiedlichen Hypothesen über die Anfänge des Universums, der Erde, des Lebens und der Menschheit.

 Angesichts der Regelmässigkeit und Ordnung im Kosmos sowie der Entwicklungsdynamik, die bestimmte Lebensformen auszeichnet, beginnt der Mensch von selbst, Fragen zu stellen: Woraus besteht die Welt? Auf Grund welchen Prinzips lässt sich die Entwicklung der Materie erklären, bezüglich des Kosmos im Allgemeinen und der Erde im Besonderen, bis hin zu den ausdifferenziertesten organischen Strukturen?

In diesem Zusammenhang stehen sich seit einigen Jahrzehnten zwei antithetische Positionen gegenüber: Die Kreationisten (bis hin zu «Intelligent Design», dem nordamerikanische Autoren wie Michael J. Behe, Philipp E. Johnson, William A. Dembski und Stephen C. Meyer den Weg bereiteten) und die Evolutionisten (z.B. Daniel C. Dennett und Richard Dawkins). Gemeinsam ist beiden Seiten ihr Bestreben, bei den umstrittenen Fragen eine mediale und kulturelle Monopolstellung zu erlangen.

Doch wie so oft, wenn die Debatte von polarisierten Extremstandpunkten ausgeführt wird, gehen vermittelnde Stimmen unter, die um eine ausgewogene Diskussion wissenschaftlicher, philosophischer und kultureller Frageaspekte bemüht wären. Genau solches versuchen wir, indem wir zwei vermittelnde Positionen vergleichen: jene des Philosophen Hans Jonas und jene des Theologen Joseph Ratzinger. Es wird sich zeigen, dass uns eine ausgewogene Gegenüberstellung die Gedanken beider Autoren tiefer und kritischer verstehen lässt, vor allem zum Umgang mit der Moderne und ihren intellektuellen und ethischen Herausforderungen. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Positionen der beiden Denker deutlich erkennbar.

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Wie bereits angetönt, ist die radikalisierte Ursprungsdebatte mit ihren entgegengesetzten «-ismen» weder für sämtliche in der Sache vertretenen Positionen repräsentativ, noch wird sie der Komplexität der anzugehenden Fragen gerecht. Immerhin legen diese Positionen die umstrittenen Sachbegriffe offen. Bekanntlich ist die Debatte in den letzten Jahren vor allem durch zwei Ereignisse erneut ins Rampenlicht gerückt: auf «kreationistischer» Seite die Publikation des Artikels «Finding Design in Nature» von Kardinal Christoph Schönborn in der «New York Times» vom 7. Juli 2005, auf «evolutionistischer» Seite das Darwin-Jahr 2009 (200. Geburtstag, 150 Jahre seit seiner «Entstehung der Arten»).

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Nicht alle, die den Ursprung der Welt auf das Wirken eines Schöpfergottes zurückführen, können sich mit den plakativsten Formen des Kreationismus identifizieren, die den Evolutionismus apodiktisch zurückweisen. Zu den interessantesten Positionen gehören ist in dieser Hinsicht diejenigen von Hans Jonas und Joseph Ratzinger. Für beide ist das Grundproblem, wie die Frage nach der Existenz eines menschlichen Geistes beantwortet werden kann, ohne dabei einer der zwei extremen Erklärungsmodelle (Intelligent Design einerseits, evolutionistischer Materialismus andererseits) zu verfallen. Für Jonas und Ratzinger hängt die Existenz eines menschlichen Geistes gleichzeitig von zwei Grundbedingungen ab: 1. dass die Materie die Fähigkeit besitzt, Geist hervorzubringen und 2. dass ein transzendenter und über der Zeit stehender Geist die Erstursache aller Dinge ist.

1. Die erste dieser beiden Grundbedingungen beruht ihrerseits auf zwei Annahmen:

a) Die Welt ist von Verstand und Ordnung durchdrungen. Demnach verdankt sie ihre Existenz mehr als dem schieren Zufall bzw. – in Monods Worten – dem Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit. Jonas und Ratzinger sehen den Darwinismus grundlegend problematisch: Für den Theologen stellt er die Rationalität der Natur in Frage, für den Philosophen verstrickt sich der Evolutionismus in Widersprüche, zumal wenn er die Evolution als Folge pathologischer Abwandlungen statt als sinnvollen Entwicklungsprozess auffassen will. Für Ratzinger ist die Ordnung der Welt direkt auf die Existenz und das Handeln Gottes zurückzuführen: «Demgegenüber hat der kirchliche Glaube immer daran festgehalten, daß es zwischen Gott und uns, zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen Vernunft eine wirkliche Analogie gibt, in der zwar die Unähnlichkeiten unendlich größer sind als die Ähnlichkeiten, aber eben doch die Analogie und ihre Sprache nicht aufgehoben werden» (Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen, Regensburg, 12. September 2006). Dies also sind die Grundlagen der «rationalen Struktur der Materie» und der «Korrespondenz zwischen unserem Geist und den in der Natur waltenden rationalen Strukturen». Als Philosoph geht Jonas etwas weniger weit: Für ihn sind Regel und Ordnung im Kosmos ohne Weiteres wahrnehmbar, zunächst in den physikalischen Gesetzen und den geordneten Strukturen der Materie. Als komplexere Ordnung stellt sich das Leben «als eine ansteigende Stufenfolge dar, ausgespannt zwischen „primitiv“ und „entwickelt“», um schliesslich zum menschlichen Geist zu gelangen, der «von allem Anfang an im Organischen vorgebildet ist» (Organismus und Freiheit, 1973). Hier jedoch stellt sich die – bis heute unbeantwortete – Frage, welches Evolutionsprinzip die Entwicklung der Materie erklärt: «Das Rätsel ist dabei die anti-entropische, physikalisch unwahrscheinliche Richtung von Unordnung zu Ordnung» (Materie, Geist und Schöpfung, 1988).

b) Die zweite Annahme von Jonas und Ratzinger ist die Zurückweisung der modernen Tendenz, jeglichen qualitativen Unterschied (so denjenigen zwischen Geist und Materie) aus dem Bereich des Realen zu verbannen. Letzteres folgt aus der Anwendung der modernen Wissenschaftsmethode, deren methodologische Voraussetzung die materialistische Weltauffassung ist. Für Jonas und Ratzinger entsteht das Problem in jenem Moment, wo der Materialismus von einer methodologischen zu einer ontologischen Doktrin heranwachsen will und beansprucht, eine allumfassende Erklärung der Realität zu geben. Doch vermöchte der Materialismus solches niemals zu leisten, zumal er seinem Wesen nach partiell und selektiv sein muss.

2. Kommen wir somit zur zweiten Grundbedingung für das, was wir als «Geist» bezeichnen können. Der Geist würde dabei die spezifisch menschliche Existenz von allem abgrenzen, was sie umgibt. Die Unterscheidung zwischen Geist und materieller Welt wäre somit qualitativer, nicht bloss quantitativer Natur. Hier müsste zunächst gezeigt werden, wie man «den Primat und die Superiorität des Geistes» mit der Überzeugung vereinbaren kann, wonach «die Richtung der Evolution und ihr Fortschrittscharakter im letzten unbestreitbar» sind. Zum Anderen müsste die darwinistische Lesart, wonach der Mensch in seiner Ganzheit ausschliesslich ein Produkt der Evolution ist, verworfen werden. Gelänge dies nicht, drohten die Konsequenzen «in ein strenges Entweder-Oder zu führen, das keine Vermittlung zuläßt. Das aber würde nach unserem heutigen Erkenntnisstand doch wohl das Ende des Schöpfungsglaubens bedeuten» (Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, 1969).

Für Ratzinger und Jonas zielt die heikle Frage nach dem Wesen des Geistes einerseits auf dessen Verhältnis zur Materie der Welt, andererseits auf das Verhältnis des Menschen zur göttlichen Transzendenz. Ob man nun die Geschichte des Kosmos und somit des Menschen (wie der reduktionistische Evolutionismus) als rein materielles Ergebnis des Zufalls auffasst oder umgekehrt (wie «Intelligent Design») als planmässige Verwirklichung göttlicher Vorsehung – in beiden Fällen würde die Bedeutung der göttlichen Transzendenz verkannt, mit ihrer Bedeutung für die Weltschöpfung und den menschlichen Geist.

Welcher Weg aber führt zu einem richtigen Verständnis dieser Fragen?

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Jonas versucht, (v.a. in Materie, Geist und Schöpfung, aber auch in Unsterblichkeit und heutige Existenz, 1962 und Der Gottesbegriff nach Auschwitz, 1987), die bereits erwähnten Grundbedingungen (die Fähigkeit der Materie, Geist hervorzubringen und die Annahme eines transzendenten und über der Zeit stehenden Geistes als Erstursache) zu verbinden, indem er den unergründlichen göttlichen Entschluss, «sich zurückzunehmen», der «Selbstverneinung», an den Anfang der Welt setzt. Der göttliche Verzicht auf die Allmacht entlässt den Kosmos in die Freiheit und belässt ihm seine eigenen Chancen. Dem Göttlichen verbleit dabei eine gewisse kosmische Bedeutung, die jedoch von interventionistischen Deutungen à la «intelligent Design» weit entfernt ist.

Jonas entwickelt seine Gedanken in hypothetischer der Form eines Mythos, der einfallsreich an die kabbalistisch-jüdische Tradition anknüpft: «damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie zurückzuempfangen aus der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie» (Unsterblichkeit und heutige Existenz). Die mythische Erzählweise besticht dadurch, dass sie einerseits einen radikalen Blick auf den Bereich des Menschlichen wirft, sich dem Bereich des Göttlichen andererseits mit einer gewissen Nüchternheit annähert. Aus der Betrachtung dessen, was sich im Kosmos zeigt, sollen fundierte Grundlagen für die menschliche Verantwortung gefunden werden. Die kosmische Evolution kommt demnach «zu uns, den einzigen uns bekannten Trägern des Geistes, d.h. denkenden Erkennens und folglich willensfreien Handelns in der Welt – eines Handelns, das im Lichte des Erkennens immer mächtiger wird […]. Es ist kein Zweifel, wir haben es in unserer Hand, die Schöpfungsabsicht zu vereiteln, gerade in ihrem anscheinenden Triumph mit uns, und sind vielleicht kräftig daran. Warum dürfen wir es nicht? Warum dürfen wir nicht, wie die Tiere, alles, was wir können? Einschließlich der Selbstvernichtung? […] Die Pflicht, die stets bestand, wird akut und konkret mit dem Wachstum menschlicher Macht durch die Technik, die der ganzen Lebenswohnung hier auf Erden gefährlich wird […]. Es sagt uns, daß wir jetzt die von uns gefährdete göttliche Sache in der Welt vor uns schützen, der für sich ohnmächtigen Gottheit gegen uns selbst zu Hilfe kommen müssen» (Materie, Geist und Schöpfung).

Auch Ratzinger betont die Notwendigkeit, sich entschieden zu einem göttlichen Schöpfungsakt zu bekennen: «Um sich zu entwickeln und zu entfalten, muß die Welt zuerst da sein und folglich aus dem Nichts in das Sein gekommen sein. Mit anderen Worten, sie muß vom ersten Seienden, das wesenhaft ein solches ist, geschaffen worden sein» (Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, 31. Oktober 2008). Freilich unterscheidet sich Ratzingers Schöpfergott radikal vom Jonas’schen sich «zurücknehmenden» Gott, beide Autoren betonen aber die Bedeutung einer göttlichen Schöpfung für das Verständnis des Geistes und den Sinn der Evolution. So Ratzinger: «Die Alternative Materialismus oder geistig bestimmte Weltbetrachtung, Zufall oder Sinn, stellt sich uns heute in der Form der Frage dar, ob man den Geist und das Leben in seinen ansteigenden Formen nur als einen zufälligen Schimmel auf der Oberfläche des Materiellen (das heißt des sich nicht selbst verstehenden Seienden) oder ob man ihn als das Ziel des Geschehens ansieht und damit umgekehrt die Materie als Vorgeschichte des Geistes betrachtet. Trifft man die zweite Wahl, so ist damit klar, daß der Geist nicht ein Zufallsprodukt materieller Entwicklungen ist, sondern daß vielmehr die Materie ein Moment an der Geschichte des Geistes bedeutet. Dies aber ist nur ein anderer Ausdruck für die Aussage, daß Geist geschaffen und nicht pures Produkt der Entwicklung ist, auch wenn er in der Weise der Entwicklung in Erscheinung tritt» (Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie).

Für beide Denker ist die heikle Frage, wie man eine transzendente Evidenz des Geistes und dessen nicht zufällige Interaktion mit der materiellen Evolution erklären kann, ohne dabei in theoretisch problematische, wissenschaftlich unhaltbare Positionen à la «Intelligent Design» zurückzufallen, welche die Grenzen zwischen Naturwissenschaft und Theologie aufheben wollen.

Auf eine Adventspredigt von Bernard von Clairvaux Bezug nehmend, schreibt Benedikt XVI.: «Nach dem Versagen der Stammeltern ist die ganze Welt verdunkelt, unter der Herrschaft des Todes. Nun sucht Gott einen neuen Eingang in die Welt. Er klopft bei Maria an. Er braucht die menschliche Freiheit. Er kann den frei geschaffenen Menschen nicht ohne ein freies Ja zu seinem Willen erlösen. Die Freiheit erschaffend, hat er sich in gewisser Weise vom Menschen abhängig gemacht. Seine Macht ist gebunden an das unerzwingbare Ja eines Menschen. So zeigt Bernhard, wie Himmel und Erde in diesem Augenblick der Frage an Maria gleichsam den Atem anhalten.» (Jesus von Nazareth. Die Kindheitsgeschichten, 2012).

Wenn auch der «Gott, Herr und Schöpfer aller Dinge» bei Jonas keine Entsprechung findet, lässt sich doch eine gewisse Ähnlichkeit zur Klangfarbe der zitierten Stelle von Ratzinger heraushören. Freilich lässt sich Jonas’ Schöpfergott nicht mit «Du» anreden und trägt die menschliche Freiheit ihm gegenüber nicht – wie bei Ratzinger – die Züge der Gotteskindschaft. Dafür belässt der Selbstverzicht der Jonas’schen Gottheit der Welt und dem Menschen mehr Freiheit als ein göttliches Projekt, wonach «eine voranschreitende Bewegung an dem ihr zugewiesenen Ziel ankommt» (Ratzinger in Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie). Mehr noch als der christliche Gott, der sich zwar auch «entäusserte» (vgl. Phil 2,7) und Mensch wurde, war und ist der Jonas’sche Gott von jeher bereit, sich auszustellen, selbst auf die Gefahr des Scheiterns.

Bei allen Ähnlichkeiten unterscheidet sich Ratzingers Deutung der Schöpfung von derjenigen Jonas’, welche, in die Form mythischer Erzählung gekleidet, von einer anderen religiösen Tradition herkommt. Jonas geht sodann mehr auf die moderne Wissenschaft ein, die im Darwinismus jegliche kreationistische Spekulationen ihrer mangelnden Auseinandersetzung mit der Kontingenz des Realen überführt. Die beiden Autoren treten der Moderne und ihren Früchten (Wissenschaft und Evolutionismus) somit unterschiedlich gegenüber: Der Jonas’sche Ansatz sucht eine waffengleiche Konfrontation, während Ratzinger den Angriff bisweilen von schützenden Mauern einer theologisch-dogmatischen Autorität aus führt. Entsprechend verschieden sind somit auch die Schwierigkeiten und Grenzen der beiden Ansätze: Auch wenn er den mythischen Charakter seines Rückgriffs auf die Metaphysik betont, kann sich Jonas in den Augen der Wissenschaftsgemeinschaft dem Eindruck eines vorurteilsbehafteten Gesprächspartners nicht entziehen. Und Ratzinger scheint die Gräben zwischen Glaube und Wissenschaft etwas vorschnell und oberflächlich zuschütten zu wollen, was einigen seiner innovativen und vielversprechenden Gedanken den Wind aus den Segeln nimmt und sie in einem zwiespältigen Licht erscheinen lässt.

Editorische Anmerkungen

* Paolo Becchi studierte in Genua Philosophie und Geschichte. 1999 wurde er zum Extraordinarius für Rechtsphilosophie an der Universität Genua ernannt und lehrt dort zur Zeit Rechtsphilosophie. Dr. Roberto Franzini Tibaldeo studierte Philosophie und Erziehungswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Theorie, Didaktik und Lehrerausbildung. Zur Zeit arbeitet er an der Scuola Superiore Sant'Anna (weiterführende Schule Sant'Anna in Pisa).

Der vorliegende Beitrag erschien im italienischen Original zunächst im "Annuario filosofico" (Philosophisches Jahrbuch), Ugo Mursia Editore, Milano. Die italienische Originalfassung kann hier heruntergeladen werden: Original (pdf).