Zwei Testamente - Eine Bibel

Wie hat die Kirche jahrhundertelang ihr »Altes Testament« gelesen?

Zwei Testamente – Eine Bibel (I)

I. Wie hat die Kirche jahrhundertelang ihr »Altes Testament« gelesen?

1. Das ungeklärte Verhältnis des Christentums zum Alten Testament

Das Alte Testament hatte es bei den Christen nicht leicht.1 Gewiss hat die Kirche in ihrer Geschichte den immer wieder aufbrechenden Versuchen, das Alte Testament aus der christlichen Bibel zu verstoßen, widerstanden. Aber aufs Ganze gesehen blieb das Alte Testament immer im Schatten des Neuen Testaments, das man als die eigentliche christliche Bibel betrachtete. Und nur vom Neuen Testament her erhielt das Alte Testament Bedeutung für die Kirche. Nur insofern die Bibel Israels christianisiert wurde bzw. christianisierbar war, war sie akzeptiert. Und was nicht geradlinig und stimmig mit dem, was man für christlich hielt, zusammenpasste, wurde als typisch jüdisch und als durch das Christentum überholt auf die Seite geschoben oder gar hochmütig verurteilt. Als grundlegendes theologisches Axiom galt: Erst und nur als christlich gelesenes Altes Testament wird die Bibel Israels so gelesen, wie Gott dieses sein Wort eigentlich immer schon und von Anfang an gemeint hatte. Letztlich wurzelte dieses eigenartige Verhältnis der Christen und der christlichen Theologie zum Alten Testament in dem theologisch ungeklärten Verhältnis der Kirchen zum Judentum und an der Weigerung, dem Judentum eine gegenüber dem Christentum eigenständige theologische Würde zuzugestehen.

Beispielhaft lässt sich dieses ambivalente Verhältnis der Christen gegenüber der Bibel Israels an einer Predigt erkennen, die der Alttestamentler und Kardinal Michael Faulhaber am 3. Dezember 1933 in St. Michael zu München unter dem Thema »Das Alte Testament und seine Erfüllung im Christentum« gehalten hat.2 Diese Predigt war keineswegs die Position eines wenig kompetenten Außenseiters. Im Gegenteil, der Kardinal wollte gerade als Antwort auf die Verwerfung und Verleumdung des Alten Testaments durch die Nazis möglichst positiv über diesen Teil der christlichen Bibel reden. Und er war, wie er am Anfang seiner Predigt betonte, zu dieser beabsichtigten Ehrenrettung in besonderer Weise qualifiziert: »Ich erhebe den Anspruch, in dieser Frage mitzureden, weil ich elf Jahre an der Universität Würzburg über die Frage Vorlesungen hielt und an der Universität Straßburg den Lehrstuhl für die Heiligen Schriften des Alten Testaments innehatte« (S.3). Aus dieser Predigt greife ich zwei für damals und bis in jüngste Zeit charakteristische Thesen heraus.

Die erste These beschäftigt sich mit der jüdischen Herkunft des Alten Testaments, also mit dem Problem, dass es als vor-christliches Buch entstanden ist. Der Kardinal sagt dazu u.a: »Wir müssen unterscheiden zwischen dem Volke Israel vor dem Tode Christi und nach dem Tode Christi. Vor dem Tode Christi, die Jahre zwischen der Berufung Abrahams und der Fülle der Zeiten, war das Volk Israel Träger der Offenbarung... Nach dem Tode Christi wurde Israel aus dem Dienst der Offenbarung entlassen. Sie hatten die Stunde der Heimsuchung nicht erkannt. Sie hatten den Gesalbten des Herrn verleugnet und verworfen, zur Stadt hinausgeführt und ans Kreuz geschlagen. Damals zerriss der Vorhang im Tempel auf Sion und damit der Bund zwischen dem Herrn und seinem Volk. Die Tochter Sion erhielt den Scheidebrief, und seitdem wandert der ewige Ahasver ruhelos über die Erde« (S.4f). Als Folge der Verwerfung Israels hat die Kirche aus der Hand Jesu Christi das Alte Testament als göttliche Offenbarung erhalten und sogar alttestamentliche Texte in ihre Liturgie aufgenommen. Doch, so betont der Kardinal, »wurde das Christentum durch Übernahme dieser Bücher keine jüdische Religion. Diese Bücher sind nicht von Juden verfasst, sie sind vom Geiste Gottes eingegeben und darum Gotteswort und Gottesbücher. Diese Geschichtsschreiber waren Schreibgriffeln Gottes, diese Sänger von Sion waren Harfen in der Hand Gottes, diese Propheten waren Lautsprecher der Offenbarung Gottes. Darum bleiben diese Bücher glaubwürdig und ehrwürdig auch für spätere Zeiten. Abneigung gegen Juden von heute darf nicht auf die Bücher des vorchristlichen Judentums übertragen werden« (S.13).

Die zweite These der Predigt erläutert die Bedeutung des Alten Testaments für die Kirche unter der Kategorie der Erfüllung. Der Kardinal sagt: »Wirken wir mit der Gnade Gottes mit, das Alte Testament und uns selber zu erfüllen! Christus ist nicht gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben, sondern zu erfüllen. Ein andermal sagte er: An mir muss dieses Schriftwort in Erfüllung gehen (Luk 22,37). Wie oft berichtet Matthäus: Das und das ist geschehen, damit das Prophetenwort erfüllt werde. Was heißt das, das Alte Testament erfüllen? Erfüllen heißt, etwas, was Stückwerk ist, vollenden und fertig machen. Etwas, was halb leer ist (das Gleichnis ist vom Hohlmaß, etwa von einem Becher genommen), voll machen und auffüllen bis zum Rand. Etwas, was unvollkommen ist, vollkommen machen. Erfüllen heißt, bildlich gesprochen, aus der Schale den Olivenkern nehmen, aus der Vorschule des Alten Testaments in die Hochschule des Evangeliums überleiten, von den Vorbildern zum Urbild führen. Das Alte Testament war an sich gut, im Vergleich mit dem Evangelium aber Stückwerk, Halbheit, Unvollkommenheit. Das Neue Testament hat vollendet, hat die ganze Offenbarung Gottes gebracht. Kommt das Vollkommene, dann hört das Stückwerk auf (1 Kor. 13,10)« (S.16f).

2. Dogmatische Vorentscheidungen

Gewiss, so konsequent und offen, wie es in dieser Predigt geschah, wird heute kaum noch ein christlicher Theologe die Bibel Israels »entjudaisieren« wollen. Aber die letztlich hinter dieser Predigt stehende These, dass seit Jesus nur bzw. erst die Kirche die Gottesbotschaft des Alten Testaments echt und eigentlich hört, blieb die ausgesprochene oder unausgesprochene Überzeugung der meisten christlichen Theologen auch nach 1945, wahrscheinlich sogar bis heute. Ich führe als Beleg für dieses Faktum den vielleicht bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts an, nämlich Karl Rahner, der in einzigartiger Weise dogmengeschichtliches Wissen und systematisch-spekulative Kraft im Dienste der Erneuerung der Kirche verbunden hat. Dass Rahner dem Verhältnis Christentum -Judentum und der Frage der theologischen Relevanz des Alten Testaments weder beim Zweiten Vatikanum noch in seinem theologischen Werk besonderes Gewicht beimaß und im Gegenteil diesbezüglich nur die überkommenen Formeln wiederholte, macht deutlich, wie stark hier offensichtlich der Druck einer jahrhundertelangen Tradition war. Was Karl Rahner sogar noch nach dem Zweiten Vatikanum zu unserer Thematik sagte bzw. schrieb, war eben die sententia communis, in der wir damals alle dachten bzw. ausgebildet wurden – und die eben nicht wenige Theologen und Prediger sogar heute noch immer vertreten. Karl Rahner schrieb 1957 selbst den wichtigen Artikel »Altes Testament als heilsgeschichtliche Periode« für die 2. Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche. Dieser Artikel, der noch 1972 in dem von K. Rahner herausgegebenen »Herders Theologisches Taschenlexikon« abgedruckt wurde, kulminierte in der These: »Als ›vorgeschichtliche‹ Vergangenheit des Neuen und ewigen Bundes, in den hinein das Alte Testament sich aufgehoben hat, ist es nur vom Neuen Bund her adäquat richtig interpretierbar ... eine bloß alttestamentlich immanente Bedeutung ... würde verkennen, dass das Alte Testament sein ganzes Wesen erst im Neuen Testament enthüllt hat«.3 Die Konsequenz, die dann der Neutestamentler Franz-Josef Schierse im biblischen Teil des LThK-Artikels zog, macht die Implikationen dieser Position Rahners sichtbar, wenn er feststellt: »Indem das Christentum weiß, dass es die allein richtige Auslegung des Alten Testaments besitzt, weil es das Erbe der alttestamentlichen Verheißungen legitim angetreten hat, stellt es sich in Gegensatz zum Judentum.«4 Was der eigentliche theologische Horizont ist, in dem solche Positionen beheimatet waren, kann man in Karl Rahners 1961 erschienenen »Kleinen Theologischen Wörterbuch« erkennen, wenn er dort im Kontext des Artikels »Altes Testament/Alter Bund« lapidar dekretierte: »Jesus erfüllt das Gesetz und hebt den Alten Bund in seinem Blut auf.«5 Dass im Horizont solcher Theologie das nachbiblische Judentum höchstens als »anonymes Christentum« theologische Dignität haben könnte, dass eine von Juden jüdisch gelesene Bibel Israels theologisch irrelevant ist und dass das Alte Testament als erster Teil der christlichen Bibel dann auch kein »Eigenwort mit Eigenwert« haben kann, liegt auf der Hand.

Leider ist auch die am 18. November 1965 vom Zweiten Vatikanum verabschiedete und von Papst Paul VI. feierlichen promulgierte »Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung« (Dei Verbum) voll von dieser Theologie imprägniert. Über dieses Dokument hatte es auf dem Konzil heftigste Auseinandersetzungen gegeben. Dem schlussendlich veröffentlichten Text waren vier verschiedene Textfassungen vorausgegangen, die immer wieder modifiziert worden waren. Am wenigsten kontrovers war der Abschnitt über das Alte Testament. Bei den Abstimmungen erhielt dieses Kapitel stets am wenigsten Neinstimmen und Veränderungsvorschläge. Diese auffallend breite Zustimmung lag nicht daran, dass das Kapitel besonders gut ist. Im Gegenteil: Es liest sich wie eine »Pflichtübung«, die die altbekannten Formeln der Tradition wiederholt, ohne dass eine tiefere Reflexion stattfindet. Was es bedeutet, dass dieser Teil der christlichen Bibel auch zuallererst die Bibel des Judentums ist, war weder in der Diskussion noch im Dokument selbst einen Gedanken wert. Dabei hätte sich diese Frage doch gerade diesem Konzil stellen müssen, das (nach mehrjährigen, ebenfalls außergewöhnlich heftigen Diskussionen innerhalb und außerhalb der Konzilsaula) am 28. November 1965 in seiner Erklärung »Nostra Aetate« über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen zu gegenüber der kirchlichen Tradition neuen theologischen Aussagen über das Judentum gelangt. Dass das Konzil im Dokument über die göttliche Offenbarung dennoch keine entsprechende Revision der kirchlichen Lehre über das Alte Testament vollzog, läßt sich meines Erachtens damit erklären, dass sich hier einmal mehr das traditionelle Desinteresse und Unbehagen der christlichen Theologie an diesem »vorchristlichen« Teil der christlichen Bibel zeigte. Insgesamt wiederholt das Konzil den »alten« heilsgeschichtlichen Offenbarungsevolutionismus: Die Bedeutung des »Alten Testamentes« war und ist es, Jesus Christus »vorauszuverkünden«,

»vorausdarzustellen«, »in verschiedenen Vorbildern anzuzeigen« und »prophetisch anzukündigen«. Das Alte Testament ist nur Vorwort und Vorstufe des Neuen Testaments.

3. Die Problematik der Perikopenordnung

Wie wenig Eigenbedeutung das »Alte Testament« für Christen nach traditioneller Meinung hat, kommt besonders drastisch in unserer Liturgie zum Ausdruck. Zwar verdankt das »Alte Testament« dem Bemühen der vom Zweiten Vatikanum angestoßenen Liturgiereform, den Gemeinden »den Tisch des Wortes reicher zu decken«, auch eine stärkere Berücksichtigung in der Leseordnung, so dass in der Regel eine der drei vorgeschlagenen biblischen Lesungen im Wortgottesdienst der Messe aus dem Alten Testament stammt. Aber wie sieht es wirklich aus? Die Auswahl der liturgischen Perikopen ist alles andere als ein repräsentativer Querschnitt, der das Ganze des ersten Teils der christlichen Bibel im Fragment nahebringen möchte oder könnte. Von einem Eigenwert des »Alten Testaments« ist da nichts zu spüren. Die ausgewählten Texte sind oft genug so aus ihrem Zusammenhang herausgerissen oder als beinahe unverständlicher »Textverschnitt« dargeboten, dass sie höchstens als auf das Evangelium hinführendes »Stimmungsbild« oder als neugierig machende, weil unverständliche Motivkollage dienen. Meist sind sie vom Evangelium her nach dem Prinzip Verheißung und Erfüllung bzw. Typos und Antitypos ausgesucht. Nicht selten sind die Perikopen so zusammengeschnitten, dass dabei vor allem der Israel-Bezug der Texte weggefallen ist. So wird der liturgischen Gemeinde Woche für Woche eingeimpft: Jesus bzw. das Neue Testament erfüllt, überbietet und hebt die Bibel Israels auf. Ich will die theologische Problematik unserer Leseordnung an drei Beispielen erläutern.

(1) Zu Evangelien, die ein Wunder Jesu verkünden, wird eine vergleichbare Erzählung aus dem Alten Testament gestellt. Dies wehrt zurecht dem Missverständnis, mit Jesus breche »das ganz Andere« an und zwischen den Testamenten sei Diskontinuität, ja Gegensatz die theologische Perspektive. Freilich ist diese Art der Zuordnung in der konkreten Perikopenordnung, nur wenig gelungen bzw. verlangt vom Prediger höchste Sensibilität, um nicht die latenten Missverständnisse noch zu verstärken. Wenn z.B. am 17. Sonntag im Jahreskreis Lesejahr B zum Evangelium Joh 6,1-15 von der Speisung der 5000 durch Jesus die alttestamentliche Lesung 2 Kön 4,42-44 von der Speisung der 100 durch den Propheten Elischa gestellt wird, drängt sich leider nur allzu schnell der (von den Texten mit ihren unterschiedlichen Aussageintentionen nicht gedeckte) Vergleich auf, wonach Jesus unbestreitbar als der größere Wundertäter erscheint: Während er mit fünf Gerstenbroten und zwei Fischen etwa 5000 Männer (Frauen und Kinder nicht mitgezählt: also vielleicht etwa 20.000) sättigt, »schafft« Elischa mit zwanzig Gerstenbroten nur die Sättigung von 100 Männern. Ob damit nicht das Vorurteil, der Gott des Alten Testaments habe sich eben erst in der Fülle der Zeit voll geoffenbart, bestärkt wird? Oder führt dies nicht dazu, den alttestamentlichen Text gleich wegzulassen, weil er über das Evangelium hinaus ohnedies keine eigene Botschaft habe (was übrigens nicht einmal stimmt!).

(2) Für das Christkönigsfest Lesejahr A ist als Evangelium Mt 25,31-46 (»Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt ...«) vorgesehen. Die Lesung dazu ist Ez 34,11-12.15-17. Dieser Textausschnitt ist höchst problematisch. Sie lässt zum einen mit den Versen 13-14 gerade die Israel, den Erstadressaten des Textes, geltenden Verheißungen einfach weg. Dass die am Christkönigsfest sich aussprechende Hoffnung auf die Vollendung der Geschichte die Israel-Frage stellt, kommt zwar in den traditionellen Dogmatikentwürfen kaum vor, aber dass dies ein zentrales Problem des christlich-jüdischen Verhältnisses ist, zeigt doch Röm 11,26. Und welche Möglichkeiten, die Tiefendimensionen der Christusbotschaft zu entfalten, bleiben weg, weil man eine »kurze« zum Evangelium passende Lesung gesucht hat. Dass die Christkönigsbotschaft als Explikation der Gottesherrschaft eine Infragestellung aller machtpolitischen Systeme ist, ließe sich aus den ersten zehn Versen von Ez 34 entfalten, aber die sind leider weggeschnitten. Und dass die Gottesreichbotschaft etwas mit der Erlösung der konkreten Welt zu tun hat, wird in Ez 34,25-30 in wunderschönen Bildern und Beispielen beschrieben. Und dass das eschatologische Gottesreich durch einen »menschlichen« Hirten kommen wird, sagen die Verse 23-24, die ebenfalls nicht ausgewählt wurden; vielleicht störte hier die zu jüdisch klingende Titulatur »mein Knecht David«.

(3) Manchmal wird zwischen Evangelien und alttestamentlicher Lesung ein Gegensatz hergestellt, der die Radikalität oder/und die Neuheit des Handelns Gottes in Jesus unterstreichen soll. Das ist prinzipiell nicht abzulehnen, da es ja ein Grundzug der biblischen Gottesbotschaft ist, dass der lebendige Gott Neues wirkt, und da für uns Christen der lebendige Gott sich in Jesus endgültig als der Gott des neuen Lebens geoffenbart hat. Aber diese »Gegensätze« dürfen nicht künstlich aufgebaut werden und sie dürfen das Alte Testament (und damit implizit das Judentum) nicht abwerten. Ein falscher Gegensatz wird z.B. am 6. Sonntag im Jahreskreis Lesejahr B aufgebaut. Zu dem Evangelium Mk 1,40-45 (Heilung des Aussätzigen durch Jesus) wird Lev 13,1-2.43ac.44ab.45-46 gestellt. Das ist ein Zusammenschnitt aus den Regelungen Lev 13-14 über den Umgang mit Aussätzigen, in denen es um den Schutz der Gemeinschaft vor Aussatz, aber auch um den Schutz vor vorschnellen Aussonderungsversuchen bei Aussatzverdacht und vor allem um die Wiedereingliederung der vom Aussatz geheilten Menschen geht. Diese Regelungen sind im Kontext der Antike der beispielhafte Versuch, mit dem Aussatz human und sozial umzugehen. Die Perikopenzusammenstellung bewirkt demgegenüber ein unverantwortliches Vorurteil: Die alttestamentliche Lesung steht unter der deutenden Überschrift: »Der Aussätzige soll abgesondert wohnen, außerhalb des Lagers«. Sie erweckt den Eindruck, als wäre dies der typisch jüdische Umgang mit Aussätzigen. Das radikal Neue an Jesus soll dann das Evangelium zeigen: Jesus geht auf diese Ausgesonderten zu, heilt sie und integriert sie wieder in die Gemeinschaft, von der sie ausgestoßen waren. Diese Kontrastierung der beiden Perikopen ist biblisch nicht gedeckt (dann müsste man Lev 14 korrelieren!) – und ist der falsche Weg, eine dunkle Kontrastfolie zu produzieren, vor der Jesus als strahlendes Licht erscheinen kann.

Auch die Inszenierung der biblischen Lesungen in der katholischen Liturgie unterstreicht die geringere Wertigkeit des Alten Testaments. Schon die Abfolge »Alttestamentliche Lesung« - »Neutestament-liches Evangelium« insinuiert die aufstei-gende Linie vom Niedrigeren zum Höheren, zumal die Inszenierung das »Evangelium« als Klimax herausstellt. Während wir bei der Lesung aus dem Alten Testament sitzen, stehen wir zum Evangelium auf. Die alt-testamentliche Lesung kann von einem Laien vorgetragen werden (sogar von einer Frau), das Evangelium muss der Diakon oder Priester vorlesen. Nur das Evangeliar wird in feierlicher Prozession mit Kerzen und Weihrauch begleitet. Und auch die Melodie, in der das Evangelium gesungen wird, ist kunstvoller als die Melodie der alttestamentlichen Lesung. Drängen sich da nicht aus der Liturgie für das Verhältnis der beiden Testamente zueinander Wertungen wie »vorläufig - endgültig«, »klein - groß«, »alt - neu«, »uneigentlich - eigentlich« auf? Stellt sich nicht unausweichlich das Gefühl ein, dass wir auf das Alte Testament »eigent-lich« verzichten könnten - und dass wir es höchstens aus Pietät »in Ehren halten«?

4. Die Defizite der alttestamentlichen Exegese

Auch der Blick in die Art und Weise, wie christliche Alttestamentler meist in ihren Kommentaren und Theologien des Alten Testaments die theologische Relevanz alttestamentlicher Texte für christliche Theologie und christliche Existenz darstellen und beurteilen, belegt auf mich deprimie-rende Weise, dass diese Texte nur begrenzte oder überhaupt keine positive, eigenständige theologische Wertigkeit haben. Dass die von mir herausgegebene neue Kommentarreihe »Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament« hier andere und neue Wege gehen will, belegen – so hoffe ich – die Bände, die inzwischen vorliegen.

Die in der christlichen Exegese meist praktizierten Lese- und Verstehensweisen des Alten Testaments lassen sich auf drei Grundmodelle reduzieren:

(1) Das Kontrastmodell: Die theologische Funktion des Alten Testaments besteht in dieser Sicht darin, Kontrastfolie zur Christusbotschaft zu sein. Man sagt:

Es decke die in uns allen immer noch lebendigen Sehnsüchte nach irdischem Glück sowie nach Macht und Gewalt und insbesondere den menschlichen Hang zu Selbstrechtfertigung/Selbsterlösung durch die Werke der Gesetze auf; dadurch helfe uns das Alte Testament als »Buch des Schei-terns« (R. Bultmann) die Botschaft des Neuen Testaments als Evangelium der Gnade, der Erlösung von Sünde, der Hoffnung auf ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, und insbesondere die Kreuzesnach-folge als die eigentliche biblische Gotteswahrheit zu erfassen. Der Gott des Alten Testaments sei als »Gott der Rache« die dunkle Folie für den neutestamentlichen »Gott der Liebe«.

(2) Das Relativierungsmodell: Nach diesem Konzept ist das Alte Testament »Dienerin« des Neuen Testaments. Seine Funktion sei es, auf die endgültige Offenbarung in Jesus Christus vorzubereiten. Es sei die Verhei-ßung, deren Erfüllung das Neue Testament ist. Es sei Vorausdarstellung, Vor-Bild (Typos) jener Wirklichkeit, die mit Jesus in ihrer Vollendung und Vollgestalt (Antity-pos) gekommen ist. Hermeneutisch ist die typologische Methode nicht prinzipiell abzulehnen; sie findet sich bereits innerhalb des Alten Testaments selbst und wird im hellenistischen Judentum, besonders bei Philo, kunstvoll durchgeführt. Sie ist dabei eine geschichtstheologische Explikation der Treue JHWHs, der seinen »Heilsplan« so verwirklicht, dass er seine einmal geoffen-barten Wirkweisen immer wieder neu aktualisiert. So wird mit dem Theologume-non vom Neuen/Zweiten Exodus die Rettung Israels aus der babylonischen Verbannung/Diaspora als erneute und neue Aktualisierung des Ersten Exodus aus Ägypten verkündigt und gefeiert. Beide verhalten sich wie Typos und Antitypos; der Antitypos hebt dabei allerdings nicht den Typos auf, sondern »lebt« von seiner Rückbindung an den Typos. Das ändert sich freilich und leider in der christlichen Typologie; sie wertet meist den alttestament-lichen/jüdischen Typos ab oder macht den neutestamentlichen/christlichen Antitypos wirklich zum Gegensatz. So »klassisch« schon Melito von Sardes in seinem »Osterbrief«!

(3) Das Selektionsmodell: Nach diesem Konzept, das die Einheit der Offenbarung stark betont, ist das Alte Testament der Same, der mit innerer Notwendigkeit zur neutestamentlichen Blüte als dem durch Gott von Anfang an einzig intendierten Ziel der Entwicklung hintreibt. Deshalb ist dann auch das Neue Testament der exklusive Maßstab für das, was in der verwirrenden Vielfalt des Alten Testaments als gott-gegebene Offenbarung zu gelten hat. Was z.B. von der neutestamentlichen Christologie aus der unsystematischen Vielfalt der alttesta-mentlichen Heilsverheißungen nicht aufge-nommen ist, ist deshalb streng genommen auch nicht geoffenbarte »Wahrheit«, sondern hängt mit der geschichtlichen Bedingtheit der Offenbarung zusammen. Auch die in Gen 1 intendierte Schöpfungstheologie erschließt sich erst und nur vollgültig von Joh 1 her.

Hier ist keine differenzierte Kritik der drei Modelle möglich. Allen drei Modellen sind – auf jeweils unterschiedliche Weise – folgende Defizite gemeinsam:

  1. Sie entsprechen keineswegs dem Selbstverständnis der Texte des Alten Testaments selbst.
  2. Sie werden der Komplexität des Alten Testaments nicht gerecht.
  3. Sie atmen, gewollt oder ungewollt, den Atem jenes »teaching of contempt«, der ein Aspekt der fatalen theologischen Judenfeindschaft ist, die einer der Auslöser des rassischen Antisemitismus war.
  4. Für eine Eigenbedeutung des Alten Testaments oder gar für einen bleibenden Sinnüberschuss gerade in seiner Beziehung zum Neuen Testament ist hier kein Platz.
  5. Von einer theologischen Dignität gar einer jüdischen Leseweise der Bibel Israels ist nicht einmal im Ansatz die Rede. Unser kurzer Blick auf den faktischen Umgang von Kirche und Theologie mit dem Alten Testament ergibt eine doppelte Erkenntnis: Einerseits gehört dieser Teil der christlichen Bibel zur Substanz christlichen Selbstverständnisses und andererseits erscheint er vielfach als fremdes, störendes »Erbe« aus der »jüdischen Vorgeschichte« des Christentums.

II. Warum müssen wir heute das Alte Testament anders lesen?

1. Die neue theologische Sicht des Judentums als Anstoß für eine neue christliche Sicht des Alten Testaments

Konnte man diese letzte Kennzeichnung noch bis zum Zweiten Vatikanum sogar als Rechtfertigung der Marginalsierung des Alten Testaments beanspruchen, so ist dies nach dem Zweiten Vatikanum und insbeson-dere angesichts der vom ordentlichen Lehramt Johannes Pauls II. immer wieder proklamierten Lehre über das christlich-jüdische Verhältnis nicht mehr möglich.

Es war zwar für manche überraschend, spiegelte aber die für die christlichen Kirchen Europas und der USA charakter-istische neue Sicht wider, als Papst Johannes Paul II. am 17. November 1980 in Mainz die Juden das »Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes« nannte. Damit beendete der Papst die jahrhundertelange kirchliche Lehrtradition von Israel als dem verworfenen Gottesvolk. Er tat dies bekanntlich in ausdrücklicher Aufnahme der von Paulus in Röm 9-11 (vgl. besonders Röm 11,29) entfalteten Lehre – und in Anknüpfung an die vom Zweiten Vatikanum am 28. Oktober 1965 verabschiedeten Erklärung »Nostra Aetate« über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchrist-lichen Religionen. Die Bedeutung des 4. Artikels dieser Erklärung sah der Papst bei seinem historischen Besuch der Synagoge in Rom am 13. April 1986 darin, dass »mit diesem kurzen, aber prägnanten Abschnitt die entscheidende Wende im Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum und zu den einzelnen Juden eingetreten« ist. Dass das Konzil nach ungeheuer dramatischen Diskussionen sich schließlich doch zu dieser Erklärung durchrang, hing nicht zuletzt mit der Erkenntnis zusammen, dass es bei dieser Frage um das biblisch grundgelegte und geschichtlich zu verantwortende Selbstverständnis der Kirche geht.

Genau dies ist auch der Einstiegspunkt des 4. Artikels von »Nostra aetate«: »Mysterium Ecclesiae perscrutans, Sacra haec Synodus meminit vinculi, quo populus Novi Testamenti cum stirpe Abrahae spiritualiter coniunctus est«. Das heißt: Indem und wenn die Kirche sich auf ihr ureigenes Geheimnis besinnt, stößt sie unweigerlich auf ihre Bindung zum Judentum. Um es mit den Worten Johannes Pauls II. (aus seiner Rede in der Synagoge von Rom) zu sagen: »Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ›Äußerliches‹, sondern gehört in gewisser Weise zum ›Inneren‹ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.« Das Gespräch der Kirche mit den Juden und mit der jüdischen Tradition, das seit dem Konzil auf vielen Ebenen begonnen hat und das trotz der immensen »Sprach-probleme« fortgesetzt werden muss, ist als konstitutives Element kirchlichen Lebens ein Akt der Rückkehr zu den Wurzeln – und eine Suche nach Weggemeinschaft mit dem zeitgenössischen Judentum.

Wenn das »neue« Denken, das ein für allemal alle Varianten (auch die subtilen und »frommen«) der kirchlichen Lehre von der Verwerfung Israels positiv überwinden will, zugegebenermaßen etwas pathetisch, als »Wende«, »Umdenken« und »Umkehr« bezeichnet wird, kommt in der Tat zum Ausdruck, dass sich heute diesbezüglich ein Bruch in der Christentumsgeschichte vollziehen muss – ein Paradigmenwechsel. Was das Verhältnis der Kirche zum Judentum betrifft, stehen wir damit vor einem theologischen Neuanfang. Die »Wiederentdeckung« der bleibenden theologischen Würde Israels fordert auf vielen Feldern unserer Theologie und unseres kirchlichen Lebens einen gewaltigen Perspektivenwechsel – auch und gerade im Umgang mit jenen Heiligen Schriften, die wir als Bibel mit den Juden gemeinsam haben. Das ist auch die Hauptthese der neuen Erklärung der Päpstlichen Bibelkommission von 2001, die den programmatischen Titel hat: »Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel«.

Ich meine in der Tat: Ein neuer Umgang mit der Bibel Israels, unserem so genannten Alten Testament, ist gefordert; er ist zugleich Prüfstein unserer kirchlichen Erneuerung im Angesicht des Judentums. Dieser neue Umgang muss einsetzen mit einer Neubewertung der bleibenden Gültigkeit des Alten Testaments für unser christliches und kirchliches Selbstverständnis.

 

2. Die Entscheidung der jungen Kirche für die Heiligen Schriften Israels als Fundament des Christentums

»Hätte man einen Christen um das Jahr Hundert gefragt, ob seine Gemeinde ein heiliges und verbindliches Buch göttlicher Offenbarung besäße, so hätte er die Frage stolz und ohne zu zögern bejaht: Die Kirche besaß solche Bücher, das ›Gesetz und die Propheten‹, das heute so genannte Alte Testament. Über hundert Jahre lang, noch um die Mitte des zweiten Jahrhunderts bei Justin, erscheint das Alte Testament als die einzige, maßgebende und völlig ausreichende Schrift der Kirche ...; dass zur Sicherung über das Alte Testament hinaus weitere, schriftliche Urkunden erwünscht oder erforderlich sein könnten, kam ihm nicht in den Sinn«.6 Und hätte man diesen Christen gefragt, ob er sagen könne, was denn in diesen »Schriften« stünde, hätte er nicht mit einer allgemeinen Inhaltsangabe, sondern mit dem Rezitieren langer Textpassagen geantwortet, vor allem wenn es sich um einen sog. Judenchristen gehandelt hätte. Zwar ist unser historisches Wissen um die jüdische Schul- und Lernkultur im Frühjudentum bzw. zur Zeit Jesu begrenzt, insbesondere ist nach wie vor kontrovers, wann in Israel/Palästina die allgemeine Schulbildung eingeführt wurde (Ende des 1.Jh. n. Chr.?), gleichwohl ist es keine Frage: Viele kannten damals ganze »Bücher« auswendig, vor allem die fünf Bücher der Tora, das Buch Jesaja und die Psalmen.

Das bestätigt auch das Neue Testament beinahe auf jeder Seite. Während wir »schriftunkundigen« Leser der Neuzeit uns mit Hilfe von Konkordanzen und Bibelkommentaren mühsam erarbeiten müssen, wie stark die neutestamentlichen Texte von den »Schriften« Israels geprägt sind (wörtliche Zitate, als solche ausdrücklich gekennzeichnet, aber eben auch »einfach« in die Erzählabfolge oder in den Argumentationszusammenhang als implizite Zitate eingefügt; Anspielungen, Motivtransformationen, Figurenkonstellationen usw.), war dies den Erstadressaten offensichtlich so vertraut, dass die Verfasser der neutestamentlichen Texte damit so intensiv und kreativ umgehen konnten. Die »Schrift« war die dominierende Sprach- und Bildwelt der Verfasser und der Adressaten der Briefe der Apostel, der Evangelien und der Johannesapokalypse. Die Bibel Israels war die einzige und die exklusive Bibel der Urkirche.

Die im Neuen Testament versammelten Schriften sind keineswegs in der Absicht entstanden, als »neue« Heilige Schrift an die Stelle der »alten« jüdischen »Schriften« zu treten. Gewiss waren ab der Mitte des 1. Jahrhunderts eigene Schriften des Urchristentums verfasst worden. Diese Schriften hatten für die jeweiligen Gemeinden, an die sie gerichtet waren, hohe Bedeutung. Aber sie hatten zunächst nicht den gleichen theologischen Stellenwert wie die Bibel Israels, auch nicht in der Liturgie der christlichen Gemeinden.

Das änderte sich ab der Mitte des 2. Jahrhunderts. Soweit wir erkennen können, fingen christliche Gemeinden um die Wende zum 2. Jahrhundert aus unterschiedlichen Gründen an, verschiedene im Urchristentum entstandene Schriften zu sammeln – als Zeugnisse des neuen Handelns des Gottes Israels an und in Jesus von Nazareth. Da diese Zeugnisse in großem Ausmaß die Bibel Israels aufnahmen, sie wörtlich zitierten, auf sie kunstvoll anspielten, mit Einzelmotiven größere Zusammenhänge der Bibel Israels einspielten, blieb die Bibel Israels einerseits als geistige und sprachliche Welt des Christentums in diesem lebendig. Andererseits führte der Prozess der Trennung zunehmend auch zur Distanzierung von der Bibel Israels, zumindest von Teilen dieser Bibel. Vor allem führte dieser Prozess zur Infragestellung der theologischen Relevanz der Bibel Israels für das Christentum.

Die Diskussion über die Frage, inwieweit das jüdische Erbe in Gestalt der Bibel Israels für das inzwischen sich als eigene Größe begreifende Christentum noch notwendig oder überhaupt förderlich sei, wurde um 140 n.Chr. bekanntlich von Markion, einem reichen und einflußreichen Gemeindemitglied in Rom, vorangetrieben. Markion war ein radikaler Theologe in der Tradition der paulinischen Theologie. Ausgehend vom Galaterbrief verabsolutierte er nicht nur den Gegensatz von Gesetz und Evangelium, sondern konstruierte von diesem her einen absoluten Gegensatz zwischen der Bibel Israels und der Predigt Jesu, zwischen dem Gott Israels und dem Gott Jesu. Dass Markion von diesem Ansatz her die Bibel Israels als Dokument einer in und nach Christus überholten Religion als für das Christentum nicht mehr akzeptabel ablehnte, war konsequent. Und da Markion auch wahrnahm, dass die Schriften des Urchristentums ihr Christus- und Gotteszeugnis sehr stark von der Bibel Israels her gestalteten und entfalteten, war es konsequent, dass er die jüdische Komponente dieser Schriften ebenfalls ablehnte. Sein theologischer Bannstrahl traf deshalb die in der Tat ausführlich auf die Bibel Israels rekurrierenden Evangelien des Matthäus, des Markus und des Johannes. So verblieben nur das Lukasevangelium, freilich nach Streichung der Zitate aus der Bibel Israels, und zehn von ihm »entjudaisierte« Paulusbriefe (Gal, 1/2 Kor, Röm, 1/2 Thess, Eph, Kol, Phil, Phlm).

Dieser kühne Vorstoß Markions, das Christentum als eine radikal neue Religion gerade im Gegensatz zum Judentum zu profilieren, zwang die junge Kirche, den Kanon der für das Christentum verbindlichen und notwendigen Heiligen Schriften zu klären, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen wurden - in mehreren Schritten - die Schriften der Christusverkündigung zu einer verbindlichen Sammlung zusammengestellt, und zum anderen musste über das Verhältnis dieser neuen Sammlung zur bisher als Heilige Schrift des Christentums geltenden Bibel Israels entschieden werden. Das Endergebnis dieses Entscheidungsprozesses ist die eine Bibel aus den zwei Teilen, die wir traditionell Altes Testament und Neues Testament nennen. Dass die christliche Bibel damals diese Gestalt erhielt, bedeutete eine grundlegende Weichenstellung für das Verhältnis des Christentums zum Judentum. Dass mit dieser Entscheidung freilich wichtige Fragen offen blieben, an deren Klärung die Kirchen noch arbeiten müssen, haben diese in den letzten Jahren immer deutlicher erkannt.

Um sich die Tragweite der damaligen kirchlichen Entscheidung für ihre eine Bibel aus zwei Teilen bewusst zu machen, kann man sich vorstellen, welche anderen Entscheidungsmöglichkeiten zumindest auch denkbar gewesen wären:

(1) Die Kirche hätte die Position Markions modifiziert übernehmen (was im übrigen bis heute immer wieder gefordert wird), das Neue Testament zu ihrer nunmehr alleinigen Heiligen Schrift erklären und das Alte Testament aus seinem »Offenbarungsdienst« entlassen können, weil ja das, was von ihm christlich »brauchbar« ist, im Neuen Testament aufgenommen sei, und um deutlich zu machen, dass das Christentum zwar aus dem Judentum hervorgegangen sei, aber dass das Judentum und seine Bibel nun in der Sicht des Christentums ihre theologische Bedeutung verloren habe. Das wäre zugleich die offenkundige Demonstration jener bis in die neueste Zeit von nicht wenigen christlichen Theologen behaupteten These gewesen, dass der alte Bund durch das Christentum zu Ende gekommen sei.

(2) Die Kirche hätte aus den Schriften Israels eine gezielt christlich strukturierte Auswahlbibel zusammenstellen können, also bestimmte Teile als für Christen nicht mehr relevant (z.B. das Buch Levitikus) oder als weniger wichtig (z.B. das Buch Kohelet) oder als sogar schädlich (z.B. das Hohelied) ausscheiden können (de facto wurde dies freilich vielfach praktiziert), oder man hätte das Alte Testament christologisch und ekklesiologisch redigieren und bearbeiten können, damit es wirklich ein »christliches« Buch wäre.

(3) Schließlich wäre eine ausdrückliche Relativierung denkbar gewesen, die das Alte Testament hinter das Neue Testament gestellt hätte, wie dies bekanntlich Friedrich Schleiermacher vorgeschlagen hat. Dass die frühe Kirche, so Schleiermacher, die beiden Testamente in der einen Bibel geradezu rangmäßig gleichgesetzt habe, sei aus ihrer besonderen geschichtlichen Situation verstehbar, aber theologisch falsch gewesen. Aus geschichtlichem Respekt und aus leserpraktischen Gründen solle das Alte Testament Teil der christlichen Bibel bleiben, aber als Anhang hinter das Neue Testament gebunden werden, »da die jetzige Stellung nicht undeutlich die Forderung aufstellt, dass man sich erst durch das ganze A.T. durcharbeiten müsse, um auf richtigem Wege zum Neuen Testament zu gelangen«.

Die Alte Kirche hat keinen dieser Wege beschritten. Statt dessen traf sie zwei wichtige Entscheidungen, deren Bedeutung für unseren Umgang mit dem Alten Testament wir erst in den letzten Jahren wieder neu zu begreifen beginnen:

(1) Die Kirche behielt alle Schriften der Bibel Israels in ihrem jüdischen Umfang und Wortlaut bei (auch wenn dies die griechische Sprachgestalt der sog. Septuaginta war, so ist daran zu erinnern: Die Septuaginta ist eine jüdische Übersetzung).

(2) Die Kirche stellte die »neuen« Schriften nicht vor, sondern hinter die Bibel Israels.

So entstand die zwei-eine christliche Bibel, in der die »Bibel Israels« nicht nur deshalb an erster Stelle steht, weil sie früher entstanden ist, sondern weil sie das Fundament ist, auf dem der zweite Teil aufruht, und weil sie der Auslegungshorizont des zweiten Teils ist, gemäß dem hermeneutischen Programm: Das Neue Testament ist im Licht des Alten Testaments zu lesen. Und umgekehrt gilt: Vom Neuen Testament fällt neues Licht auf das Alte Testament zurück. Beide Teile legen sich gegenseitig aus – freilich unter der Voraussetzung, dass beide Teile sich auch zunächst einmal selbst aussprechen mit ihrer jeweils spezifischen Botschaft. Das Alte Testament hat ein Eigenwort mit Eigenwert, das als solches gehört werden will, vor allem in jenen Teilen, in denen es grundlegend von der Zuwendung Gottes zur Welt und von seiner Zuwendung zum Gottesvolk Israel erzählt.

3. Plädoyer für die Bezeichnung »Erstes Testament« als Korrektiv

Man kann m. E. zu Recht darüber diskutieren, ob die skizzierte grundlegende Funktion des ersten Teils der christlichen Bibel nicht verdeckt wird, wenn man ihn traditionell »Altes Testament« nennt. Das Neue Testament selbst kennt keine Kategorie »alte« Schriften als Sammelbegriff für die Bibel Israels. Erst die gezielte Absetzung der Kirche vom Judentum hat diese Bezeichnung geschaffen. Und er ist seit damals bis heute oft mit einer Geringschätzung nicht nur dieses angeblich »veralteten« Teils unserer Bibel verbunden, sondern vielfach mit einer Abwertung des Judentums, das immer noch an diesen durch das Neue Testament doch überholten und dadurch »alt« gewordenen Schriften festhalte. Das ist die Hypothek, die bis heute auf ihr lastet. Und es ist fraglich, ob man dieses fundamentale Missverständnis durch die richtige Interpretation ausräumen kann.

Gewiss: Bei der Bezeichnung »Altes Testament« muss »alt« nicht notwendigerweise negative Beitöne haben, wie auch umgekehrt »neu« nicht notwendigerweise positiv gemeint sein muss (»neu« = modisch, unerfahren, gegenüber »alt« sogar weniger kostbar, z.B. alter Wein – neuer Wein). Solange »alt« im Sinne von Anciennität (altehrwürdig, kostbar, bewährt) und Ursprung seine positiven Konnotationen behält, kann die Bezeichnung gewiss akzeptabel bleiben, zumal sie selbst »alt« ist. Und wenn man sich bewusst macht, dass dies eine spezifisch christliche Bezeichnung ist, die daran erinnert, dass es das Neue Testament nicht ohne das Alte Testament gibt, kann man sie als legitimen Appell an die fundamentale Wahrheit hören, dass die christliche Bibel aus zwei in unterschiedlichen Kontexten entstandenen Teilen besteht, deren Gemeinsamkeit und Differenz zugleich (Kontinuität und Diskontinuität) festgehalten werden muss. Das Wortpaar »alt – neu« ist dann nicht als Opposition, sondern als Korrelation gemeint. Freilich muss man sich daran erinnern, dass es eine Bezeichnung ist, die weder dem Selbstverständnis des Alten Testaments entspricht noch dem jüdischen Verständnis dieser Schriften angemessen ist. Als solche ist sie anachronistisch und, wie die Rezeptionsgeschichte im Christentum zeigt, der Auslöser permanenter Missverständnisse und fataler Antijudaismen. Deshalb müsste sie eigentlich immer in Anführungszeichen gesetzt - oder durch eine andere Bezeichnung ersetzt oder zumindest ergänzt werden. Diese korrigierende Funktion könnte von der Bezeichnung »Erstes Testament« ausgeübt werden.

Die Bezeichnung »Erstes Testament« hat mehrere Vorzüge: 1. Sie vermeidet die traditionelle Abwertung, die sich assoziativ und faktisch mit der Bezeichnung »Altes Testament« verbunden hat. 2. Sie gibt zunächst den historischen Sachverhalt korrekt wieder: Es ist gegenüber dem »Neuen«/Zweiten Testament in der Tat als »erstes« entstanden, und es war die erste Bibel der jungen, sich formierenden Kirche. 3. Sie formuliert theologisch richtig: Es bezeugt jenen »ewigen« Bund, den Gott mit Israel als seinem »erstgeborenen« Sohn (vgl. Ex 4,22; Hos 11,1) geschlossen hat, als »Anfang« jener großen »Bundesbewegung«, in die der Gott Israels auch die Völkerwelt hinein nehmen will. 4. Als »Erstes« Testament weist es hin auf das »Zweite Testament«. So wie letzteres nicht ohne ersteres sein kann, erinnert auch die christliche Bezeichnung »Erstes Testament« daran, dass es in sich keine vollständige christliche Bibel ist.

Die Bezeichnung »Erstes Testament« ist nicht unbestritten. Einige Kritiker lehnen sie deshalb ab, weil sie das Neue/Zweite Testament relativiere und weil das Wortpaar Erstes/Zweites Testament eine grundsätzlich offene Reihenfolge insinuiere, die die Endgültigkeit des Christusereignisses in Frage stelle. Beides ist nicht gemeint (und ist die simple Verwechslung von principium und initium). Die Kritiker übersehen, dass das Adjektiv groß geschrieben ist. Es heißt »Erstes«, und nicht »erstes« Testament. Und vor allem: Der Bezeichnung geht es um die Verhältnisbestimmung nicht irgend einer Bibel, sondern der zwei-einen christlichen Bibel.

Die Diskussion um die Bezeichnung »Altes Testament« ist kein bloßer Streit um Worte, sondern hängt mit dem schwierigen Sachproblem zusammen, ob mit der Bezeichnung »Altes Testament« eine jahrhunderte lange christliche Abwertung dieses Teils der christlichen Bibel mittransportiert und gefördert wurde, mehr noch, ob mit seiner »naiven« oder »aggressiven« Beibehaltung nicht auch ein theologisches Urteil über das Judentum verbunden ist, das der neuen christlichen Sicht des Judentums nicht mehr entspricht. Ich habe keinen Zweifel: Einige der Kritiker der »neuen« Bezeichnung »Erstes Testament« reagieren so gereizt, weil sie darin eine überzogene Aufwertung des Judentums sehen. Für sie soll das Alte Testament eben nur sagen dürfen, was ihm ihrer Meinung nach das Neue Testament zu sagen erlaubt. Und vor allem: Sie können nicht akzeptieren, dass dieser Teil unserer Bibel, insofern er zuallererst Jüdische Bibel und danach Heilige Schrift der Christen ist, zwei unterschiedliche gottgewollte Leseweisen hat.

Die grundsätzliche Offenheit der Bibel Israels für eine jüdische und für eine christliche Leseweise hängt zum einen mit der theologischen Besonderheit dieser Texte zusammen, die ein vielsinniges, zeitübergreifendes Bedeutungspotential haben. Zum anderen wird diese Offenheit dadurch konstituiert, dass die Texte eben in unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften rezipiert werden, zu denen in diesen Texten ein und derselbe Gott auf unterschiedliche Weise redet. Das ist die theologische Konsequenz aus der neuerdings breit aufgenommenen These vom doppelten Ausgang der Bibel Israels im Judentum und im Christentum.7

Bei der Diskussion um die heute angemessene Bezeichnung des ersten Teils der christlichen Bibel geht es eben auch vor allem um die Frage, ob wir nach Auschwitz unser »Altes Testament« noch weiterhin so lesen können, dass wir die Juden, die Erstadressaten dieser Gottesworte, dabei einfach ausblenden oder gar die alten antijüdischen Klischees weiterüberliefern, als wäre die jahrhunderte lange theologische Judenfeindschaft des Christentums nicht eine der Wurzeln des Judenhasses, der schließlich in den Antisemitismus umschlug. Weil ich der Meinung bin, dass sich hier etwas ändern muss, plädiere ich für die neue Bezeichnung. Ich stimme R. Rendtorff voll zu: »Wir befinden uns in dieser Frage in einem Diskussions- und Experimentierstadium. Ich denke allerdings, dass die Frage der Benennung des Alten Testaments ganz eng mit unserem Verhältnis zum Judentum zusammenhängt. Wenn wir dieses Verhältnis auf eine neue Grundlage gestellt haben, dann erledigen sich die negativen und abwertenden Aspekte des Begriffs ›Altes Testament‹ von selbst«.8

  1. Die folgenden Ausführungen sind eine Kurzfassung bzw. Weiterführung meiner beiden Bücher: Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf,5 1995; Am Fuß des Sinai. Gottesbilder des Ersten Testaments, Düsseldorf, 3 1995.
  2. M. Faulhaber, Das Alte Testament und seine Erfüllung im Christentum, München 1933; auf diese Publikation beziehen sich die oben jeweils angegebenen Seitenzahlen.
  3. K. Rahner (Hrsg.), Herders Theologisches Taschenlexikon (Herderbücherei 451), Band 1, Freiburg 1972,84.
  4. LThK I,394.
  5. Ab der 10., völlig neu bearbeiteten Auflage von 1976, lautete dieser Satz dann (von H.Vorgrimler formuliert) richtiger: »Jesus erfüllt das Gesetz und schließt den Neuen Bund in seinem Blut«. Was dazu heute zu sagen ist, ist nun bündig und exzellent im »Neuen Theologischen Wörterbuch« (Freiburg 2000) 31f von H.Vorgrimler unter dem Stichwort »Altes Testament« dargestellt.
  6. H. von Campenhausen, Die Entstehung des Neuen Testaments, in: E. Käsemann (Hrsg.), Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970,110.
  7. Die These wurde erstmals so formuliert von K. Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testaments in Judentum und Christentum: JBTh 6,1991,215-242.
  8. R. Rendtorff, Christen und Juden heute. Neue Einsichten und neue Aufgaben, Neukirchen 1998,77.

Editorische Anmerkungen

Dr. Erich Zenger ist Professor der Alttestamentlichen Exegese an der Universität Münster