Zur Stellung des 'Alten' Testaments in den Leseordnungen der Gegenwart

Grundoptionen und offene Fragen. Die Frage, was aus dem 'Alten' Testament zur Verkündigung ausgewählt und wie diese Auswahl im Kontext der übrigen Lesungen des Wortgottesdienstes ("Evangelium" und "Epistel") präsentiert wird, ist eine sowohl systematisch-theologische als auch pastoralliturgische Grundfrage.

Ansgar Franz

Zur Stellung des ‘Alten’ Testaments

in den Leseordnungen der Gegenwart

Grundoptionen und offene Fragen

Der zentrale gottesdienstliche Ort, an dem Christen mit dem ersten Teil ihrer Bibel, dem ‘Alten’ Testament, in Berührung kommen, ist der sonntägliche (mit der Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier verbundene oder selbständige) Wortgottesdienst. Die Frage, was aus dem Alten Testament zur Verkündigung ausgewählt und wie diese Auswahl im Kontext der übrigen Lesungen des Wortgottesdienstes („Evangelium" und „Epistel") präsentiert wird, ist eine sowohl systematisch-theologische als auch pastoralliturgische Grundfrage, die einerseits über die Möglichkeit einer „bewussten Teilnahme" der Gläubigen am Wortgottesdienst entscheidet und andererseits die über den jeweiligen Stand des christlichen Selbstbewusstseins (als einer laut Röm 11,18 in Israel verwurzelten Identität) Auskunft gibt .

In folgenden sollen fünf unterschiedliche Modelle von Leseordnungen hinsichtlich ihrer hermeneutischen Vorentscheidung, Perikopen aus dem Alten Testament auszuwählen und zu präsentieren, kurz dargestellt werden. Es sind dies die drei geltenden Leseordnungen, die derzeit weltweit die weiteste Verbreitung haben, nämlich:

  1. der römische Ordo Lectionum Missae (OLM), die Leseordnung der katholischen Kirche;
  2. das Four Year Lectionary (FYL), das seit 1990 von den anglikanischen Kirchen Großbritanniens und einigen Kirchen des Common Wealth verwendet wird;
  3. das Revised Common Lectionary (RCL) von 1992, die ökumenische Ordnung der meisten reformierten Kirchen Nordamerikas.
    Daneben sollen zwei Vorschläge zu einer Reform des OLM in den Blick genommen werden, die in den letzten Jahren im deutschsprachigen katholischen Bereich entstanden sind:
  4. der Vorschlag „Tora-Bahnlesung" des Alttestamentlers Georg Braulik von 1995 und
  5. der Vorschlag „Patmos" des Liturgiewissenschaftlers Hansjakob Becker von 1997.

Untersucht und vergleicht man, auf welche Weise an den Sonntagen nach Pfingsten – der Weihnachts- und der Osterfestkreis, stark durch die Tradition geprägt, folgen einer anderen ‘Logik’ und sollen deshalb hier unberücksichtigt bleiben – diese Modelle Perikopen aus dem Alten Testament auswählen und präsentieren, so zeigen sich deutlich profilierte, teilweise konkurrierende Grundoptionen:

A. Option 1: Kontext und vertikale Ebene

 9.Sonntag10.Sonntag11.Sonntag
AT:
Ep:
Ev:

Die erste hier vorzustellende Option möchte ich mit den Stichworten „Kontext" und „vertikale Ebene" kennzeichnen. Sie plädiert für die strikte thematische Einheit eines jeweiligen Sonntagsformulars: Alle drei Lesungen eines Sonntags (AT – Ep – Ev) sind inhaltlich aufeinander abgestimmt, sie sind „konsonant", stehen sozusagen im Einklang miteinander und bilden eine „Verkündigungseinheit"; sie sind sich selbst „Kontext".

Beispiel: Das anglikanische FYL liest am 10. Sonntag nach Pfingsten Lesejahr A Jona 3,1-15 (die Predigt des Propheten in Ninive), Apg 9,26-31 (die Predigt des Paulus in Jerusalem) und Mt 9,35-10,16 (die Aussendung der Zwölf zur Predigt des Evangeliums), also, wenn man so will, drei ‘Predigergeschichten’, die jedoch nicht einfach additiv immer das Gleiche wiederholen, sondern auch in kreativem Widerspruch zueinander stehen: Jona wird ausdrücklich zu den Heiden gesandt – und gerade das macht ihm zu schaffen, das von ihm befürchtete Erbarmen Gottes mit den Heiden –, während Jesus die Jünger ausdrücklich nur zu den „verlorenen Schafen Israels" schickt, eine Weisung, über die nachzudenken sich nicht nur hinsichtlich des jüdisch-christlichen Dialogs lohnt.

Das anglikanische FYL realisiert diese Option mit einer Bahnlesung aus den Evangelien, während die AT- und die Epistellesung zum Evangelium inhaltlich passend ermittelte Auswahllesungen sind.

Die Vorteile dieser Wahl sind deutlich; zum einen erkennt der Hörer einen nachvollziehbaren Zusammenhang der drei aufeinanderfolgenden Lesungen eines Sonntags; ihm werden keine thematischen Sprünge, die seine Aufmerksamkeit und seine Aufnahmefähigkeit überfordern, zugemutet. Zum anderen: AT- und NT-Lesungen reden nicht einfach unverbunden aneinander vorbei, sondern stehen in einem (mitunter auch kritischem) Dialog; die vielzitierte „Einheit der Bibel" wird nicht nur behauptet, sondern Sonntag für Sonntag erprobt.

Die Nachteile dieser Grundoption zeigen sich besonders im Hinblick auf das Alte Testament: Es werden nur solche Perikopen präsentiert, die zu der Thematik des jeweiligen Evangelientextes passen. Der Maßstab für die Auswahl liegt also nicht im Alten Testament selbst, sondern im Neuen. Das Neue Testament fungiert gleichsam als eine Art „Sieb", mit dem das Alte Testament gefiltert wird. Zudem legt sich die Gefahr einer „typologischen Engführung" nahe: Werden die alttestamentlichen Perikopen nicht nur als „erfüllte Prophetie" präsentiert, die durch das Neue Testament eingelöst und überholt sind?

Diese Fragen führen zu einer zweiten Grundoption:

B. Option 2: Text und horizontale Ebene

 9.Sonntag10.Sonntag11.Sonntag
AT:
Ep:
Ev:

Sie kann umschrieben werden mit den Stichworten „Text" und „horizontale Ebene". Ihr geht es im Hinblick auf das Alte Testament um repräsentative und für die Verkündigung geeignete Texte, ohne diese vorher durch das „thematische Sieb" einer neutestamentlichen Schrift zu filtern; der Maßstab für die Auswahl der Texte muss in erster Linie das Alte Testament selbst sein. Die Perikopen sollen einen – möglichst Sonntag für Sonntag wahrnehmbaren – Lesezusammenhang bilden („horizontale Ebene"), also im Prinzip der Bahnlesung geordnet werden. Im amerikanischen RCL begegnet diese für das Alte Testament getroffene Entscheidung in Kombination mit zwei weiteren Bahnlesungen für Epistel und Evangelium.

Beispiel: Das RCL liest am 10. Sonntag nach Pfingsten Lesejahr A Gen 25,19-34, die Geburt der ungleichen Zwillinge Jakob und Esau und der Verkauf des Erstgeburtsrechts; der Lesung ging am 9. Sonntag ein Text aus Gen 24 voraus, der die Brautwerbung Rebeccas und ihre Hochzeit mit Isaak schilderte; mit dem 11. Sonntag folgt die Lesung Gen 28,10-19a, Jakobs Traum von der Himmelsleiter. Die drei Sonntage 9-11 wollen also mit den Stationen „Hochzeit Isaaks und Rebeccas", „Geburt der Kinder Jakob und Esau" und „Himmelsleiter" einen Erzählzusammenhang knüpfen, der von den Hörern wahrgenommen werden kann. - Der alttestamentlichen Lesung des 10. Sonntags folgt als Epistel Röm 8,1-11 (das Gesetz des Geistes und das Gesetz des Fleisches) und als Evangelium Mt 13,1-9.18-23 (das Gleichnis vom Sämann und dessen Deutung), beides ebenfalls Stationen in sich geschlossener Bahnlesungsreihen.

Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der Möglichkeit, das Alte Testament in seiner ganzen Breite wahrzunehmen, ohne es von vornherein neutestamentlich zu „verengen". Der Nachteil ist ebenso deutlich: Das einzelne Sonntagsformular ist die Addition dreier thematisch heterogener Lesungen, die den Hörer überfordern muss. Es ist eine Illusion zu glauben, die Gottesdienstbesucher könnten drei thematisch unzusammenhängenden Lesungen folgen und sich dabei auch noch – nur so ist ‘Bahnlesung’ ja überhaupt sinnvoll – die an den vorausliegenden Sonntagen präsentierten jeweiligen „Anschlussstellen" erinnern. Die Möglichkeit einer „bewussten Teilnahme" am Wortgottesdienst scheint hier kaum noch gegeben. Tatsächlich sprachen nach einer Erprobungsphase des amerikanischen Lektionars viele Gemeinden von einer „pastoral confusion", die sich ihrer bemächtigt habe.

Beide Grundoptionen, die derzeit in den englischsprachigen Kirchen aufeinanderstoßen, stellen den Hörer scheinbar vor die theologisch wie pastoral unbefriedigende Alternative: Entweder ein in seiner ganzen Breite wahrgenommenes Altes Testament (Option 2) - oder ein thematisch einheitliches Sonntagsformular (Option 1).

Das nun vorzustellende dritte Modell ist ein Versuch, beide Optionen zu versöhnen:

C. Das Modell „Patmos"

 9.Sonntag10.Sonntag11.Sonntag
AT:
Ep:
Ev:

Einen Ausweg aus dem Dilemma der gegenwärtig konkurrierenden Grundoptionen bietet die Möglichkeit - und nur sie - an bestimmten Zeiten im Kirchenjahr die Blickrichtung zu ändern und vom Alten Testament her ins Neue zu schauen. Innerhalb des Kirchenjahres entscheidet sich das von dem Mainzer Liturgiewissenschaftler Hansjakob Becker entwickelte Modell „Patmos" deshalb für einen Perspektivewechsel. In den geprägten Zeiten, den Festkreisen von Weihnachten und Ostern, die zusammen mit den wenigen Sonntagen nach Epiphanie etwa die Hälfte des Kirchenjahres ausmachen und - biblisch gesehen - das Leben Jesu von der Menschwerdung bis zur Erhöhung verkünden, fungiert wie bisher das Evangelium als tonangebender Bezugspunkt der jeweils konsonanten Sonn- und Festtagsformulare. Die Sonntage nach Pfingsten dagegen präsentieren ein in Bahnlesung geordnetes Altes Testament, dem Epistel und Evangelium jeweils konsonant zugeordnet sind. Es erscheint sinnvoll, so Becker, die hermeneutische Einbahnstrassenregel, die immer nur vom Neuen ins Alte schaut, zu ergänzen durch den Blick vom Alten ins Neue Testament.

Der Vorteil dieses ‘Sowohl-als-auch’ bestehe darin, dass so im Kirchenjahr die Ganzheit der Heilsgeschichte auf unterschiedliche Weise symbolisch zur Darstellung kommt: Die Zeit von Advent bis Pfingsten macht sichtbar, wie die Verkündigung Jesu in der Tradition seines Volkes gründet; die Zeit von Pfingsten bis Advent zeigt, wie sich die Glaubenszeugnisses Israels in der Verkündigung Jesu spiegeln.

D. Mischformen der Grundoptionen

1. Der Ordo Lectionum Missae

Der seit 1969 in der katholischen Kirche verwendete Ordo Lectionum Missae, die älteste der hier zu besprechenden Perikopenordnungen, stellt zweifellos eine bedeutende Verbesserung gegenüber der tridentinischen Ordnung dar, ist jedoch nicht frei von gravierenden „Konstruktionsfehlern". In gewisser Weise versucht auch er, beide Grundoptionen zu verbinden: Die AT-Lesung ist eine passend zum Evangelium ermittelte Auswahllesung (Option 1), während das Evangelium selbst und die Epistel Bahnlesungen sind (Option 2). Das Ergebnis dieses Verfahrens ist denkbar ungünstig und kombiniert lediglich die Nachteile beider Optionen: Das Alte Testament wird nur „gefiltert" präsentiert, die thematische Einheit von AT- und Evangelienlesung wird durch die thematisch heterogene Epistelbahnlesung zerstört.

 9.Sonntag10.Sonntag11.Sonntag
AT:
Ep:
Ev:
2. Das Modell „Tora-Bahnlesung"

Das Modell des Wiener Alttestamentlers Georg Braulik geht von neueren Erkenntnissen der „kanonischen Exegese" aus. Danach kommt innerhalb des alttestamentlichen Kanons der Tora, den fünf Büchern Moses, eine unbestreitbare Vorrangstellung gegenüber den anderen Büchern (Schriften und Propheten) zu: Die Tora enthält Gottes Selbstoffenbarung und sein Willen, die Sozial- und Gesellschaftsordnung Israels, in der sich die göttliche Schöpfungsordnung vollendet. Alle übrigen alttestamentlichen Bücher seien eine Art ‘Kommentar’ zur Tora. Diese bibeltheologische Erkenntnis müsse auch liturgische Konsequenzen haben: So wie innerhalb des neutestamentlichen Kanons die Evangelien eine Priorität besitzen und sich dies in der Leseordnung ausdrückt (die eben zwischen „Epistel" und „Evangelium" unterscheidet), so dürften auch nicht alle alttestamentlichen Lesungen undifferenziert in einen Topf geworfen werden. Wie die dritte Lesung dem Evangelium vorbehalten sei, müsse auch die erste Lesung exklusiv der Tora vorbehalten sein. Analog zum Evangelium müsse auch die Tora in Bahnlesung (möglichst vollständig) präsentiert werden. Die verbleibende mittlere Lesung ist dann entweder mit Texten aus dem „Rest-AT" (Propheten/ Schriften) oder aus dem „Rest-NT" (Briefe/ Offenbarung) zu besetzen. Als Kommentare sind sie thematisch in ersten Falle der Tora, in zweiten dem Evangelium zugeordnet.

Ein Strukturmodell könnte so aussehen:

 9.Sonntag10.Sonntag11.Sonntag
Tora:  
Rest-AT/NT: 
Ev:

Ausblick

Überblickt man die einzelnen Modelle, so sind aus der Sicht des Liturgiewissenschaftlers folgende Positionen und Probleme zu markieren:

  • Liturgie ist Feier des „Paschamysteriums" (was nicht zum „Christusmysterium" verengt werden darf). Thema der Liturgie sind die Heilstaten Gottes an Israel und an Christus. Die Verkündigung des Alten Testaments ist für den christlichen Gottesdienst grundlegend, ihr ist ein angemessener Raum zu geben.
  • Neben dieses theologische Grunddatum tritt ein anthropologisches: Der hörende Nachvollzug der Gemeinde darf durch eine Perikopenordnung nicht erschwert oder verunmöglicht werden. Als Getaufte haben alle Christen das Recht und die Pflicht zu „bewussten Teilnahme" an der Liturgie - Modelle mit zwei oder gar drei Bahnlesungen laufen in der Regel Gefahr, die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft der Hörenden zu überfordern.
  • Die Feier des Wortgottesdienstes ist mehr als die Präsentation von Texten, mehr noch: Texte treten hier nicht als „Texte" auf, sondern sind Teile eine Redegeschehens, einer liturgischen Handlung, die von höchst unterschiedlichen Faktoren bestimmt wird (Raum und Ritus, Gesang und Gebet, Kirchenjahreszeit und konkrete Gemeinde, um nur einige zu nennen). Diese Faktoren müssen bei der Suche nach einer angemessenen Leseordnung mitbedacht werden; systematische und bibeltheologische Überlegungen sind unverzichtbar, aber nicht hinreichend.

Innerhalb dieser Koordinaten kommt der Frage nach Auswahl und Anordnung der alttestamentlichen Perikopen eine entscheidende Rolle zu. Erik Peterson hat schon in den 20er Jahren das Verhältnis der Kirche zum Judentum als die theologische Grundfrage aller Ökumene beschrieben. Für Johannes Paul II. ist die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes und dem des Neuen Bundes zugleich ein Dialog innerhalb der Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel. Wenn es stimmt, was ein Konzil behauptet hat, dass nämlich die Liturgie ein zentrales Geschehen dieser Kirche ist, und wenn es weiterhin stimmt, dass die Präsentation der Bibel eine entscheidende Größe dieser Liturgie ist, dann ist die Frage nach einer angemessenen Präsentation des Alten Testaments im christlichen Gottesdienst eine fundamentaltheologische und fundamentalliturgische Grundfrage, deren pastorale Bedeutung kaum überschätzt werden kann.