Zum Umgang mit der dunklen Seite Gottes

Jüdische Auseinandersetzung mit dem Holocaust

Gerhard Bodendorfer

„Recht schaffe er dem Mann bei Gott“

Zum Umgang mit der dunklen Seite Gottes

Lassen Sie mich meine Erörterungen mit einem Zitat aus einem rabbinischen Midrasch zu den jüdischen Festen und Feiertagen beginnen, nämlich der Pesiqta de Rab Kahana, Abschnitt X.8:

Es sagte R. Leazar: Als Chananja, Mischael und Azarja aus dem Feuerofen herauskamen, sprachen sie diesen Vers ["Du, Herr, bist barmherzig, uns aber steht die Schande im Gesicht" (Dan 9,7)]. Du findest, als Chananja, Mischael und Azarja aus dem Feuerofen stiegen, versammelten sich gegen sie alle Könige der Weltvölker, wie geschrieben steht: "Nun drängten die Satrapen, Statthalter, Gouverneure und die königlichen Räte heran, sie sahen sich jene Männer an, daß das Feuer keine Gewalt über ihre Körper gehabt hatte usw." (Dan 3,27). Und alle Könige der Weltvölker sprachen zu ihnen: Ihr habt gewußt, daß es in der Macht eures Gottes liegt, euch alle diese Wunder zu tun, doch habt ihr ihn veranlaßt, sein Haus zu zerstören und seine Kinder ins Exil zu führen. Und es spuckten alle Weltvölker in ihre Gesichter, bis sie sie zu einer Masse von Spucke gemacht hatten. Und es erhoben Chananja, Mischael und Azarja ihre Köpfe nach oben und sprachen: "Du Herr, bist barmherzig, uns aber steht die Schande im Gesicht".

Lassen Sie mich kurz auf diesen Midrasch eingehen: Das Danielbuch berichtet, daß drei Männer einem Feuerofen unversehrt entsteigen: Chananja, Mischael und Azarja. Sie waren aus königlich-judäischem Geblüt und dienten am Hofe des großen Königs Nebukadnezzar in Babylon, nachdem dieser den Tempel in Jerusalem im Jahre 586v. zerstört und die judäische Bevölkerung nach Babylonien deportieren hatte lassen. Sein Oberkämmerer hatte den dreien neue Namen verliehen: Schadrach, Meschach und Abed-Nego. Als eines Tages Nebukadnezzar ein goldenes Standbild in der Ebene von Dura aufstellen ließ, hatten sie sich geweigert, dieses anzubeten. Aus Strafe gegen diese Mißachtung des Gottes Nebukadnezzards ließ er sie in einen Feuerofen werfen. Die drei verurteilten Männer hatten daraufhin zu ihm gesagt: "Wenn unser Gott, den wir anbeten, die Macht hat, uns aus dem brennenden Feuerofen und aus deiner Hand, o König zu erretten, wird er uns auch erretten. Wenn er es aber nicht tut, so sei dir, o König, erklärt, daß wir deine Götter auch dann nicht verehren und das goldene Standbild, das du errichtet hast, nicht anbeten" (Dan 3,18). Chananja, Mischael und Azarja bekannten ihren Glauben also auch auf die Gefahr hin, daß sie sterben würden. Und sie mußten nach menschlichem Ermessen damit rechnen, daß sie zu Tode kommen, wenn sie ins Feuer geworfen werden.

In den Ofen geworfen werden - hier konnte es kein Entrinnen mehr geben. Es gab lediglich die Hoffnung auf ein Eingreifen Gottes, auf einen himmlischen überirdischen Akt der Rettung, getragen von der israelitischen Erfahrung der Befreiung durch Gott in der Geschichte. Diese Erfahrung der Befreiung ist dem jüdischen Volk von Alters her konstitutiv. Kein anderes Volk hat je seinen Glauben so sehr darauf ausgerichtet, daß Gott befreit und errettet, daß er aus der Gefangenschaft führt und damit erst überhaupt sein Volk schafft. Darum, weil diese Erfahrung Israel trotz Leid und Tod über die Jahrhunderte am Leben erhalten hat, können die Jünglinge auch hoffen, daß dieses Hoffen auf Befreiung den irdischen Tod überwindet und beten, daß sie zu einem wundersamen Eingreifen führt. Mit derselben Hoffnung bittet dann Jesus am Ölberg: "Abba, Vater, alles ist dir möglich. Laß diesen Kelch an mir vorübergehen" (Mk 14,36). Doch gleich darauf schränkt er ein: "Doch nicht was ich will, sondern was du willst." Markus läßt Jesus also ganz in der Tradition der drei Jünglinge im Feuerofen vertrauen und dennoch Gottes Freiheit betonen. Gott kann befreien, ja, es steht in seiner Macht, aber er muß nicht, er ist frei, zu helfen oder nicht zu helfen. Aus dem Jesuswort wird zudem klar, daß das Nichteingreifen Gottes nicht Passivität bedeutet, sondern freier Entschluß und Absicht Gottes ist. Es war demnach zumindest nach dieser Theologie des Markus Gottes freier Wille und Absicht, Jesus nicht zu retten, sondern ans Kreuz gehen zu lassen. Anders geschieht es mit den drei Jünglingen im Feuerofen. Sie bleiben am Leben, sie entsteigen dem Feuer unversehrt. Gott erweist sich hier als willkürlich Handelnder. Die einen errettet er, den anderen überläßt er dem Tod. Niemand weiß, wer gerettet wird. Der Glaube besteht darin, diese Ambivalenz auszuhalten, wie es auch die Jünglinge im Feuerofen und Jesus tun. In wundervoller Weise drückt das Neue Testament diese Willkür Gottes in seinen Endzeitreden aus. So heißt es bei Mt: "Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. Und von zwei Frauen, die mit derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen. Seid also wachsam! Denn ihr wißt nicht, an welchem Tag euer Herr kommt" (24,40-42).

Denken wir uns nun aber kurz hinein in die Reaktion der umstehenden Menge, als die Jünglinge aus dem Feuerofen herauskommen. Würden wir nicht angesichts des Wunders überrascht, gefesselt, erstaunt und sprachlos sein, würden wir nicht angesichts des feierlichen Augenblickes schweigen und den Himmel loben? Der rabbinischen Erzählung nach aber geschieht etwas Paradoxes. Denn es versammelten sich gegen sie alle Könige der Weltvölker, wie geschrieben steht: "Nun drängten die Satrapen, Statthalter, Gouverneure und die königlichen Räte heran, sie sahen sich jene Männer an, daß das Feuer keine Gewalt über ihre Körper gehabt hatte usw." (Dan 3,27). Und alle Könige der Weltvölker sprachen zu ihnen: Ihr habt gewußt, daß es in der Macht eures Gottes liegt, euch alle diese Wunder zu tun, doch habt ihr ihn veranlaßt, sein Haus zu zerstören und seine Kinder ins Exil zu führen. Und es spuckten alle Weltvölker in ihre Gesichter, bis sie sie zu einer Masse von Spucke gemacht hatten. Und es erhoben Chananja, Mischael und Azarja ihre Köpfe nach oben und sprachen: "Du, Herr, bist barmherzig, uns aber steht die Schande im Gesicht".

Waren die Jünglinge zuerst stellvertretend für das Volk in den Tod gegangen, so übernehmen sie jetzt erneut stellvertretend die Rolle des Volkes. Der Vorwurf, den sie zu tragen haben, lautet: Obwohl Israel weiß, wie gewaltig und wundervoll sein Gott ist, wandelt es so sehr in Sünde, daß er das Volk bestraft und den Tempel zerstören läßt. Man betrachtet die Israeliten als doppelt sündig. Einmal haben sie Gott durch Götzendienst zur Strafe gereizt, zum anderen haben sie gewußt, daß er barmherzig ist. Dieses Wissen um die Güte Gottes macht sie schuldig. Auch der katholischen Moraltheologie ist diese Vorstellung nicht fremd. Eine Sünde wird demnach noch größer, je mehr der Sünder über die Güte und Barmherzigkeit, ja um das Wesen Gottes weiß und trotzdem sündigt.

Die drei Jünglinge sind aber keine Sünder, sie haben sich ja streng gegen die Verfehlungen aufgelehnt, die man dem Volk nachsagte, indem sie den Götzendienst entschieden abgelehnt haben. Daß gerade sie als Unschuldige verspottet werden, erklärt sich aus der Irrationalität der Kollektivhaftung. Man macht sie für etwas verantwortlich, wogegen sie sich aufgelehnt haben, wofür sie beinahe den Tod erlitten hätten. Als Unschuldige leiden sie an der Verurteilung der Israeliten durch die Welt. Sie tragen somit die Verfehlung des Volkes auf dem Rücken. Dies tut auch der leidende Gottesknecht des zweiten Jesajabuches, der wegen der Verbrechen des Volkes zu Tode kam und die Verschuldungen auf sich nahm, ohne selber Schuld zu haben. Lassen Sie mich also noch einmal zusammenfassen:

  1. Die drei Jünglinge sind Vorbilder im Glauben, Heilige im Sinne eines Eintretens für den jüdischen Gott.
  2. Ihr Eintreten für den Glauben bringt sie in Lebensgefahr.
  3. Ein Wunder errettet sie aus dem sicheren Tod.
  4. Dieses Wunder bewirkt Erstaunen und Entsetzen in der Welt.
  5. Dieses Erstaunen führt zur Ablehnung der Jünglinge als Repräsentanten des Volkes, dem man Unglauben vorwirft.
  6. Sie werden verspottet und bespuckt.

Wenn man diese Erzählung mit dem Wissen unserer Generation liest, so erfüllt sie uns noch mehr mit Schauer als alle anderen Generationen vor uns. Nach Auschwitz, Majdanek, Treblinka kann man nicht mehr unbefangen von Feueröfen sprechen, und es ist sehr schwer geworden, von einem Wunder der Befreiung zu erzählen. Wenn Millionen in den Öfen in Rauch aufgehen, da stellt sich die Frage nach dem Gott, der, wie es die drei Jünglinge sagten, "die Macht hat, ... aus dem brennenden Feuerofen ... zu erretten".

Wo war dieser Gott in Auschwitz?

Doch wollen wir, bevor wir dieser Frage weiter nachgehen, uns erst einmal den Reaktionen stellen, mit der die Öffentlichkeit das Judentum nach 1945 bedachte, als es nach den rauchenden Öfen eine neue Identität suchen mußte, als es sich als Volk neu belebte. Da gab es freilich das Entsetzen über die Greuel, die man nun schockierend präsentiert bekam. Da nahm man aber nicht einfach die ausgemergelten Überlebenden auf, gab ihnen nicht Hab und Gut zurück. Da wurde der Wunsch dieser Menschen, in einem eigenen Staat zu leben, oftmals sogar mit Waffengewalt unterdrückt. Da landeten Auschwitzhäftlinge, die illegal nach Palästina fahren wollten, in Internierungslagern in Zypern. Und da wurde, anstatt die Exilanten zur Heimkehr nach Österreich einzuladen und sie um Verzeihung zu bitten, kein Versuch unternommen, auch nur mit ihnen in Kontakt zu treten. Stattdessen fühlte sich eine ganze Nation selber als Opfer, ja als erstes Opfer der Hitler-Aggression. Und da plötzlich alle Opfer geworden sind, sollten doch auch alle aufeinander zugehen und verzeihen. Es wäre doch viel klüger, wenn man die Greuel vergessen würde, wo es doch überall Greuel gab. Und sind nicht Leute wie Simon Wiesenthal Nestbeschmutzer, die nicht vergessen wollen, was doch keiner mehr hören kann? Nach 1945 spuckt man den Überlebenden wieder ins Gesicht, und sie tragen erneut das Stigma des Judentums auf ihrer Stirn. Und man hört wieder: Ist nicht am Ende doch "der Jud" selber ein "bissel" schuld am Holocaust? Hat er nicht durch Geldgier und Arroganz den Haß gegen ihn selber beschworen?

Die These, daß die Juden selber schuld am Holocaust sind, entstammt aber nicht nur dem Geist faschistoider Ewiggestriger. Sie ist die eigentliche theologische Folie des biblisch-talmudischen Denkens, nach dem alles Leid als Strafe Gottes für die Vergehen des Volkes aufgefaßt wird. Ist es da nicht logisch, daß eine Reihe großer jüdischer Theologen während und nach dem Holocaust auch die Ansicht vertreten haben, daß die Sünden des Volkes zur Vernichtung durch Hitler geführt hätten? Und ist da nicht einfach Hitler nur ein Werkzeug in der Hand des dunklen Gottes, der den vernichtenden Schlag führt, so wie Nebukadnezzar oder der Kaiser Titus Werkzeuge waren, als sie den Tempel zerstörten? Auschwitz ist dann eine letzte und ultimative Form des göttlichen Zorns. Diese Ansicht vertritt stellvertretend für eine Reihe jüdischer Gelehrter Menachem Immanuel Hartom: "Nicht umsonst, so scheint es, bediente sich der Herr des deutschen Volkes als Zuchtrute, um sein Volk schwer zu schlagen: Eben jener Staat, in dem die Assimilation die größten Ausmaße angenommen hatte, in dem die Gleichheit zwischen den Juden und den Bürgern des Landes vollendet war, in dem die Juden in allen Lebensbereiche des deutschen Volkes eingedrungen waren, in dem sie zum Höhepunkt ihrer Identifikation mit dem Land ihres Aufenthalts und zur Ableugnung ihres Landes gelangten, dies war der Staat, der ihnen auf extremste und grausamste Weise in Erinnerung rief, daß sie - trotz ihrer Assimilation, trotz ihrer Leugnung der Ideen ihres Volkes, trotz ihrer Annahme einer fremden Religion, trotz der Opfer, die sie aufrichtig für das Land ihres Aufenthaltes brachten - ein Fremdkörper im Staat sind, ein Körper, den es zu verfolgen und zu vernichten gilt. Und diese Bosheit der Frevler wurde verwirklicht - nicht weil unter den Opfern viele Juden waren, die der Tora (d.h. den Geboten zwischen Mensch und Gott) Treue bewahrt hatten, und die keinen Weg gesehen hätten sich zu organisieren und zu verteidigen, und auch nicht, weil die Deutschen grausamer und härter wären als jedes andere Volk; und nicht, weil es damals den Staat Israel noch nicht gegeben habe - sondern, weil der Heilige, Er sei gepriesen, "nicht ungestraft läßt" (Ex 34,7), denn gerecht ist er in allen seinen Wegen."[1]

Hartom formuliert hier in überaus provokanter Weise das Urteil der biblisch-talmudischen Selbstkritik. Wegen der Sünden des Volkes straft Gott. Hartom betont, daß Gott gütig und barmherzig ist. Ja, er habe auch lange zugesehen, ehe er sein Volk vernichtend geschlagen hätte. Aber schlußendlich habe er sich des deutschen Volkes bedient, um seine Strafe auszuführen. Wie Hartom haben einst die biblischen Propheten gesprochen, und die Rabbiner aller Zeiten und Epochen sind ihrem Beispiel gefolgt. Spätestens seit Ijob aber haben jüdische Theologen Einspruch gegen einen Gott erhoben, der mit den Schuldigen die Unschuldigen tötet, der den Armen und Hilflosen straft. Und völlig zurecht haben Philosophen und Theologen Hartom"s Meinung scharf kritisiert, da er Hitler und seine Todesmaschinerie entschuldigt und zu einem bloßen Werkzeug degradiert. Emil Fackenheim formuliert es so: "Denn wie immer wir diese Lehre [von der Sündenstrafe] auch drehen und wenden, wird sie zu einer religiösen Absurdheit und sogar zum Sakrileg. Sollen "Sünde" und "Sündenstrafe" einen individuellen Unterton erhalten? Was für ein frevelhafter Gedanke, wenn unter den Opfern der Nazis mehr als eine Million Kinder waren. Müssen wir ihnen einen kollektiven Unterton geben? Was für ein entsetzlicher Gedanke, wenn es nicht unsere westlichen, agnostischen, glaubenslosen und reichen, sondern vielmehr die ärmsten, frömmsten und gläubigsten jüdischen Gemeinden waren, die am schlimmsten heimgesucht wurden. Wenn wir in unserer Qual, uns als letzter Zuflucht der traditionellen Lehre zuwenden, daß alle Israeliten aller Generationen die Verantwortung füreinander tragen, sind wir immer noch völlig entsetzt, da kein einziger der sechs Millionen starb, weil er den göttlichen Bund nicht eingehalten hätte: alle starben, weil ihre Urgroßeltern ihn eingehalten hatten, wenn auch nur in dem minimalen Ausmaß, jüdische Kinder aufzuziehen. Hier sind wir an dem Punkt radikaler religiöser Absurdität angelangt. Hier ist der Felsen, an dem das "unserer Sünde wegen werden wir gestraft" totalen Schiffbruch erleidet."[2]

Wenn also das "Um unserer Sünden wegen" als Verteidigung Gottes versagt, gibt es dann noch andere Alternativen, mit der dunklen Seite Gottes zurechtzukommen? Ich kehre zurück zum Midrasch, mit dem ich meine Ausführungen begonnen habe. Die drei Jünglinge, von denen erzählt wird, sind Märtyrer, die sich für den Glauben aufopfern. Sie gehen nicht als Gestrafte in den Ofen, sondern wollen den Namen Gottes durch ihren Tod heiligen. Im Hebräischen heißt dies Kiddusch ha-schem, "Heiligung des Namens". Eignet sich das Modell des Märtyrertodes aber zur Erklärung der Schoa? Dann waren die Juden in Plaszów oder Warschau Märtyrer wie ihre Vorfahren in den rheinischen Gemeinden, als die Kreuzritter wüteten und die sich selbst den Tod gaben, um nicht zwangsgetauft zu werden. Nein, Fackenheim"s Aussage bleibt auch hier bestehen. Eine Million Kinder darf man nicht zu Märtyrern stilisieren. Ein großer Prozentsatz der Opfer Hitler"s waren gerade keine Bekenner, keine Jünglinge, die für ihren Glauben in den Ofen gingen. Es waren oft normale Durchschnittsbürger, deren einziger Bezug zum Judentum darin bestand, jüdische Vorfahren zu haben. Getaufte oder nicht Getaufte, Atheisten oder Orthodoxe kamen gleichermaßen um, weil sie Juden waren und nur deshalb. Märtyrer aber sind Zeugen des Glaubens. In Zbylitowska Góra nahe der südpolnischen Stadt Tarnów etwa erschlug man an einem Tag 800 Kinder, nicht weil sie bewußt ihren Glauben verteidigten, sondern nur, weil es jüdische Kinder waren. Man erschlug sie mit Beilen und Knüppeln, weil man die Kugeln für ihre Mütter und Väter aufsparen wollte. Nein, mögen auch manche Juden das Leben während der Schoa als Märtyrerexistenz verstanden haben, ist sie als ganze so nicht zu deuten.

Überlegen wir aber noch eine weitere Möglichkeit. Hat Gott sich vielleicht selber entmachtet und an den Galgen gehängt, wie dies Elie Wiesel in seinem berühmten Roman "La Nuit" zu verstehen gibt:

Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen.


Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biß sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgen bedeckte es ganz...


Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt.


"Es lebe die Freiheit!" riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg. "Wo ist Gott, wo ist er?" fragte jemand hinter mir.


Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um...


...Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:


"Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen..."[3]

Gott hängt selbst am Galgen. Es wundert nicht, daß vor allem Christen in ihrer Auschwitz- Rezeption dieses Bild verwendet haben, um in den Parallelen zwischen dem Schicksal der Juden und dem Tod Jesu eine Antwort auf das Unsagbare zu finden. Gott erleidet die Machtlosigkeit radikal, er ist wirklich tot. Er nimmt sich damit aus der Geschichte heraus. Hoffnung und Erlösung kann es somit nur jenseits der Geschichte geben, in der Auferstehung etwa. Diese Vorstellungswelt ist aber ganz und gar christlich. Juden müßten Christen werden, um sie wirklich verstehen zu können. Niemals aber konnte es schwerer sein, diesen Schritt zu tun als nach Auschwitz.

Der Gedanke, daß Gott sich selbst entmachtet und auf seiten der Leidenden steht, ist nun freilich auch in jüdischer Theologie möglich. So lehrte einst der große Rabbi Aqiba, daß der machtlose Gott das Exil Israels teilt. Gott ist dann zwar nicht wirklich tot, er ist aber angesichts des Unheils ohnmächtig und stellt sich aus der Geschichte. Er greift nicht ein, bleibt nur dadurch solidarisch, daß er mitleidet. Doch konnte diese Ansicht leicht dazu führen, Gott ganz aus der Welt herauszunehmen, ihn für tot zu erklären. Ein passiver Gott ist anfällig für die Krankheit des Nihilismus, für die Versuchung, ganz und gar geleugnet zu werden. Ein Gott, der sich durch die Befreiung aus dem Sklavenhaus im Exodus erst recht offenbarte, soll plötzlich sich selber die Hände binden und schweigen? Vielleicht sollten auch Christen überlegen, was sie sagen, wenn sie davon sprechen, daß Gott seinen eigenen Sohn am Kreuz sterben ließ. Hat Gott den Tod Jesu wirklich als Heilsgeschehen gewollt, oder hat er das Unfaßbare nur zugelassen? Jesus jedenfalls scheint letzteres geglaubt zu haben, als er den Psalm 22 betete: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Anders als das Christentum hat das Judentum über Jahrtausende die Hoffnung nicht aufgegeben, daß Erlösung, Befreiung und Rettung in der Geschichte geschehen, im hier und heute, in der Welt. Jede Heilsgeschichte ist daher Diesseitsgeschichte. "Der jüdische Glaube", so formuliert es Fackenheim zurecht, "scheint ... in Midraschim der Machtlosigkeit Gottes keine Zuflucht zu finden, keine in der Hinwendung zum Jenseits, keine in der erlösenden Kraft des Martyriums und vor allem keine in der Vorstellung, daß Auschwitz Strafe für die Sünden Israels sei." Wenn der Gott der Geschichte durch Auschwitz verloren gegangen ist, dann ist es Hitler gelungen, nicht nur ein Drittel des jüdischen Volkes auzurotten, sondern auch noch den jüdischen Glauben zu ermorden. In völliger Verzweiflung könnten säkular gewordene Juden nicht mehr klagen, nein, es gäbe weder ein Gericht noch einen Richter.

Damit bin ich beim entscheidenden Punkt meiner Ausführungen angelangt, denn genau dieses Gericht hat schon der geplagte Ijob der Bibel für Gott gefordert, als er sagte: "Nun aber seht, im Himmel ist mein Zeuge, mein Bürge in den Höhen. Da meine Freunde mich verspotten, tränt zu Gott hin mein Auge. Recht schaffe er dem Mann bei Gott und zwischen Mensch und Mensch" (Ijob 16,19-21). Und dieses Gericht fordert jüngst erneut Rabbi David Blumenthal aus Georgia in seinem bahnbrechenden Buch "Facing the Abusing God. A Theology of Protest (Westminster 1993)". Blumenthal vergleicht das Verhalten Gottes gegenüber Israel mit dem Mißbrauch von Kindern durch ihre Väter. Er sagt, daß Gott sein Kind, das Volk Israel, mißbraucht habe. Dieser Mißbrauch läßt sich nicht erklären oder verteidigen, er ist sinnlos und irrational. Blumenthal fordert folgerichtig, daß Israel seine Schuld nicht bei sich selbst suchen solle, sondern daß es so wie ein mißbrauchtes Kind lernen müsse, seine Verletzung herauszuschreien, seine Wut und Enttäuschung zu äußern. Es müsse sein Trauma bearbeiten, vom eigenen Vater mißbraucht worden zu sein. Diese Arbeit ist ein therapeutischer Prozeß. Der Vater ist als Schuldiger zu benennen, anzuklagen. Im Verlauf dieses therapeutischen Prozesses soll Israel Gott entgegenschleudern: "Übe Reue, Herr!" Denn das Leid ist nicht läuternd und erlösend, wie es Christen triumphalistisch zu verzerren suchten, sondern sinnlos und entsetzlich. Es kann nur dadurch gemildert werden, daß Gott selbst der Prozeß gemacht wird. Denn nur dadurch nehmen wir Gott in seiner Ambivalenz ernst. Um einen erwachsenen reifen Zugang zu ihm zu finden, müssen wir auch die dunkle Seite akzeptieren. Wir müssen sie uns eingestehen und mit ihr umgehen. Wir dürfen sie nicht dadurch verdrängen, daß wir nur das Liebe und Gute an Gott lassen und das Böse abspalten von ihm. Wie im Märchen die Stiefmutter die Rolle der Üblen übernehmen muß, um letztendlich erledigt zu werden, so spaltete das Christentum das Dunkle und Böse von Gott ab, um es einem Widersacher, einem Satan oder Teufel anzulasten, vor dem man dann in den ärgsten Höllenpredigten warnen konnte. Diese Spaltung in einen guten Gott und einen bösen Teufel hat Gottes Identität und Integrität zerstört. Schon der zweite Jesaja hat Gott schließlich beide Seiten zugestanden und ihn als den bezeichnet, der Licht bildet und Finsternis schafft, der Heil wirkt und Unheil schafft (Jes 45,7). Wir müssen wieder lernen, mit der Ambivalenz Gottes selbst zu leben. Das Leiden kann nicht weniger werden, indem wir es einem bösen Satan umstülpen, sondern nur, indem wir Gott selbst als Erstursache des Leids zur Verantwortung ziehen. Dies fordert auch Elie Wiesel in seinem Stück "Der Prozeß von Schamgorod". In ihm tritt eine Purimspielgruppe in dem von einem Pogrom verheerten Dorf namens Schamgorod auf. Nur zwei Juden hatten das Massaker überlebt, der Wirt und seine Tochter. Nach und nach kommt diese entsetzliche Tatsache dies Licht, und die Spielgruppe beschließt, anstatt die Heilsgeschichte nachzuspielen, die von der Rettung der Juden durch die Königin Ester vor dem geplanten Pogrom des bösen Haman berichtet, an Purim Gott den Prozeß zu machen. Sie wollen "den Schleier zerreißen, der die Fragen versteckt". In diesem Spiel gibt es zuerst keinen Anwalt Gottes. Alle Verteidiger des Herrn, alle Gerechten und Gelehrten der Stadt, so heißt es, sind tot: "Er hat seine Verteidiger getötet, hat sie den Mördern ausgeliefert". Der Wirt und die Truppe wollen sich nicht beklagen, sie klagen an. Darin besteht der zentrale Unterschied. Nicht jammern und klagen, nicht Wehleidigkeit ist gefragt, sondern die Anklage als Frage nach der Weltordnung: "Wessen Schuld ist es, wenn die Erde mit Mördern bevölkert ist?"

Ganz plötzlich tritt während des Prozesses eine bislang unbekannte Gestalt auf, die sich spontan als Anwalt Gottes zur Verfügung stellt. Niemand kennt den Namen, doch alle haben das Gefühl, schon einmal dieser Person begegnet zu sein. Sie übernimmt sehr aggressiv die Verteidigung. Die Richter und vor allem der Wirt als Ankläger werden als Ungläubige und Unwissende denunziert. Die Traditionen werden beschworen. "Um unserer Sünden wegen", so sagt auch dieser Verteidiger, sei alles geschehen, und hätten nicht die Märtyrer des Mittelalters mehr Glauben im Leid bewiesen als diese Purimspielgruppe? Wäre nicht überhaupt der Mensch Staub, der das Fragen und Anklagen lieber lassen sollte? Hierauf gibt nun der Wirt die Antwort, die mir der Schlüssel zur Möglichkeit der Anklage Gottes zu sein scheint. Wenn Gott ihn, den Wirt, als Staub gewollt hätte, so hätte er ihn doch beim Staube lassen sollen. Ja, weil Gott den Menschen mit Vernunft, mit Herz und Verstand, mit Gefühl und Gewissen ausgestattet hat, darum darf und muß er Gott die Frage nach dem Warum stellen. Und der Wirt kann zurecht die Richter ermutigen: "Befehlt ihm, der Gewalttätigkeit in den Blutbädern ein Ende zu setzen. Erfüllt eure Pflicht, Richter!"

Der Verteidiger entpuppt sich am Ende des Stücks als Tod, und es wird klar, daß die anwesenden Juden auch noch ermordet werden. Über diesen Tod hat Wiesel an anderer Stelle einmal geschrieben: "Der Tod ist nur der Wächter Gottes, der Pförtner des riesigen Hurenhauses, den man Welt nennt."[4] Die Menschen, die das Entsetzen beweinen konnten und vor Gott mit Gott rechteten, sie sind die wahrhaft Glaubenden. Sie hatten angesichts des Massakers keine Erklärung mehr parat, nur mehr die Wut und die Anklage. Der, der erklärt, der bis zuletzt eine Antwort weiß, ist der Tod selbst. Obwohl Wiesels Purimspiel im Tod endet und die Erfahrung von Purim zur Perversion erstarrt, steckt in der Anklage jenes Fünkchen Hoffnung, nie ganz aufzugeben, sich selber treu und stark zu bleiben, bis zuletzt den aufrechten Gang zu bewahren. Was aber ist nun Gott? Kann man ihn erreichen durch die Anklage? Gott ist in Wiesel"s Stück die dunkle Macht, die nicht eingreift, die Mörder gedeihen läßt. Dennoch entzieht er sich dem Zugriff der Theologen. Als ein Pope versucht, die Spielgruppe vor dem drohenden Untergang zu bewahren, beschwört er sie, sich zum Christentum zu bekehren und meint, daß Gott die Zuchtrute über das Judentum geschwungen habe. Der Richter antwortet: "Der Gerechte, der mit der Rute geschlagen wird, ist in der Nähe Gottes, nicht die Rute oder der, der sie schwingt!"[5] Gerade deshalb, weil dieser Gott also auf Seiten der Entrechteten, der Geschlagenen, der Verfolgten, der vom Pogrom Bedrohten steht, gerade deshalb kann er zum Prozeß gefordert werden. Vielleicht ist es darum in dieser Stunde möglich, so wie Ijob gegen Gott auf Gott zu hoffen oder auch so, wie es der Psalm 44 tut, mit dem ich meine Ausführungen beenden möchte, indem ich Sie zum Weiterdenken einlade:

Hätten wir den Namen unseres Gottes vergessen und zu einem fremden Gott die Hände erhoben, würde Gott das nicht ergründen? Denn er kennt die heimlichen Gedanken des Herzens. Nein, um deinetwillen werden wir getötet Tag für Tag, behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat. Wach auf! Warum schläfst du, Herr? Erwache, verstoß nicht für immer! Warum verbirgst du dein Gesicht, vergißt unsere Not und Bedrängnis? Unsere Seele ist in den Staub hinabgebeugt, unser Leib liegt am Boden. Steh auf und hilf uns! In deiner Huld erlöse uns! (21-27).

1 Hartom M.I., "Unserer Sünden wegen...", in: Brocke M. - Jochum H. (Hgg.), Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust (Kaiser-Taschenbücher 131), Gütersloh 1993, 20-26, 22f.

2 Fackenheim E.L., Die gebietende Stimme von Auschwitz, in: Brocke M. - Jochum H. (Hgg.), Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust (Kaiser-Taschenbücher 131), Gütersloh 1993, 73-110, 81f.

3 Zitiert nach der Sammlung "La Nuit" - "L"Aube" - "Le Jour", dt. Die Nacht zu begraben, Elischa, München-Esslingen 1962, 77.

4 Anm. 3, 88.

5 aus "Le Jour", in: Die Nacht zu begraben, Elischa (Anm. 3) 294.

Editorische Anmerkungen

Vortrag, gehalten im Rahmen einer christlich-jüdischen Bibelwoche in Graz, Österreich.

© Copyright 1997 Koordinierungsausschuss für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit