Zum Nahostkonflikt

Brief von Präses Kock zum Nahostkonflikt an die Gemeinden der Evangelischen Kirche im Rheinland

Brief von Präses Manfred Kock

an die Gemeinden der Evangelischen Kirche im Rheinland

Liebe Schwestern und Brüder,

die Lage in Israel und Palästina wird von Tag zu Tag schrecklicher. Wer Menschen auf beiden Seiten kennt, dem zieht sich das Herz zusammen, weil alles so ausweglos scheint. Ich selber bin hin- und hergerissen zwischen dem Entsetzen über palästinensische Selbstmordattentate und der Fassungslosigkeit über die Gewaltanwendung der israelischen Armee in den autonomen Palästinensergebieten. Ich fühle die Angst israelischer Freunde, dem Terrorismus ausgeliefert zu sein, und ich weiß um die Verzweiflung palästinensischer Freunde, denen jede Hoffnung auf Selbstbestimmung und Sicherheit genommen ist.

In ihrem Beschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ hat die Evangelische Kirche im Rheinland erklärt, dass „auch die Gründung des Staates Israel als Zeichen der Treue Gottes“ zu verstehen ist. Wie können wir der Verbundenheit mit Israel auch und gerade jetzt Gestalt geben, ohne die Not und die Hoffnungen der palästinensischen Christenheit und des palästinensischen Volkes außer acht zu lassen?

Ich sehe um der Verbundenheit zu Israel willen keine Möglichkeit, auf Kritik an der gegenwärtigen israelischen Regierungspolitik zu verzichten. Das hat aber zur Folge, dass viele Juden in unserem Land - und auch Israelis - unsere kritischen Äußerungen als judenfeindlich, als antisemitisch empfinden.

Wie können wir Juden und Israelis glaubhaft machen, dass Solidarität die Basis unserer Äußerungen ist? Sie erlaubt aber - oder erfordert sogar - kritische Fragen und Widerspruch. Inzwischen gibt es jüdische Gesprächspartner, die sehr wohl wissen, dass antisemitische Regungen in unserem Lande gerade auch dann ausgelöst werden könnten, wenn wir uns jede Kritik mit Rücksicht auf die deutsche Geschichte verbieten würden. Das rührt daher, dass bei einem kleinen Teil der Bevölkerung latente antisemitische Einstellungen nur einen Anlass brauchen, um sich zu offenbaren.

Wie auch immer: Die deutsche Vergangenheit kann kein Hindernis sein, die Politik einer israelischen Regierung zu kritisieren, wenn sie sich in einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt verirrt hat.

Wenn solche Kritik geäußert wird, müssen jedoch einige Bedingungen beachtet werden:

Die Probleme beider Konfliktparteien müssen beachtet werden, das israelische Besatzungsregime und der palästinensische Terror, israelische Ansprüche auf das ganze Land und palästinensische Bestreitung des Existenzrechts eines jüdischen Staates. Es ist sorgfältig auf die Terminologie der Kritik zu achten. Wer davon spricht, Israel stelle sich außerhalb der Zivilisation und führe einen „Vernichtungskrieg“, nimmt vor dem Hintergrund deutscher Geschichte vor 60 Jahren - bei allem Entsetzen über das, was geschieht - eine Projizierung vor, die unangemessen und verräterisch ist. Solche Sprache ist ebenso abzulehnen, wie Kreuzzugsaufrufe gegen eine „Achse des Bösen“.

Es muss deutlich sein, dass die Kritik sich gegen die gegenwärtige Politik von Politikern wie Ariel Scharon richtet, nicht aber gegen Israel und schon gar nicht gegen die Juden.

Der Arbeitskreis Christen-Juden unserer Kirche hat eine Reihe von Fragen und Denkanstößen für das Gespräch in unseren Gemeinden zusammengestellt. Die möchte ich Ihnen als Hilfe für die eigene Diskussion weitergeben:

  • Was lösen die Nachrichten aus Israel und Palästina in uns aus? Bemühen wir uns, beide Seiten und ihre Sicht wahrzunehmen?
  • Haben wir höhere ethische Erwartungen an die israelische Seite auf Grund ihrer eigenen Rechtstradition und ihrer Jahrhunderte langen Erfahrung von Verfolgung und Gewalt?
  • Wenn ja, ist uns dabei bewusst, dass wir Israel so in eine Sonderrolle drängen und dies eine subtile Form der Judenfeindschaft sein könnte?
  • Rufen Nachrichten vom Vorgehen der israelischen Seite eigene verborgene Vorbehalte gegen Juden in uns wach?
  • Wie wachsam sind wir gegenüber leisen und lauten judenfeindlichen Äußerungen?

Folgende Möglichkeiten können darüber hinaus für Ihre Gruppen, Kreise und Gemeinden hilfreich sein:

  • Verstärken Sie, wo immer möglich, Ihre Kontakte zu Einzelnen und zu Gemeinden, Gruppen und Initiativen in Israel, in Palästina und in Ihrer Nachbarschaft.
  • Informieren Sie sich eingehend, um so in Ihren Gruppen, Einrichtungen und Gemeinden ein möglichst faires Bild aller am Konflikt Beteiligten zu entwickeln.
  • Richten Sie Solidaritätsgruppen oder Arbeitskreise zur Nahostthematik ein und suchen Sie dabei den Kontakt z.B. mit Arbeitskreisen zum jüdisch-christlichen und solchen zum christlich-islamischen Dialog.
  • Laden Sie zu besonderen Gottesdiensten ein, in denen etwa nach dem Vorbild des ‚Politischen Nachtgebets‘ jeweils in einem Dreischritt vorgegangen werden könnte: Information möglichst von allen Betroffenen; Meditation (Klage, Dank und Fürbitte); Aktion, indem Partnerschaften vermittelt oder vertieft und humanitäre Initiativen unterstützt werden.

 Eine sehr eindrückliche Stellungnahme hat der Deutsch-Israelische Arbeitskreis für Frieden (DIAK) veröffentlicht, auf den ich gerne hinweise (web: www.diak.org).

Dankbar bin ich auch, dass es in unserer Landeskirche inzwischen einige sehr gut ausgewogene Stellungnahmen gibt. Ich nenne als Beispiel die Resolution der Kreissynode Simmern Trarbach zur aktuellen Situation im Heiligen Land vom 12.04.2002.

Hier sind deutlich die Grundlagen für eine künftige Lösung benannt: das Lebensrecht Israels auf der einen Seite und ein eigener palästinensischer Staat auf der anderen Seite.

In dem Zusammenhang appelliere ich an Sie alle, sich dafür einzusetzen, dass die Fähigkeit zum Kompromiss in diesem Konflikt gestärkt wird und darum alle religiösen Begründungen für eine Option der jeweiligen Seite zurückgewiesen werden. Die nationalreligiöse Berufung auf ein Heiliges Land darf nicht als Begründung für den Siedlungsbau der Israelis herangezogen werden. Auf der anderen Seite kann keine religiöse Legimitation für den Kampf gegen die „Ungläubigen“ im Namen Allahs oder für die Selbstmordattentate akzeptiert werden.

Als einzigen religiösen Impuls können wir für diesen Konflikt das Friedensgebot akzeptieren. Darum erinnere ich noch einmal daran, was ich im vergangenen Jahr in der Kanzelabkündigung für den 10. Sonntag nach Trinitatis an Sie geschrieben habe. Seinerzeit bat ich Sie darum, Ihre Fürbitte für die Menschen in Israel und Palästina unermüdlich fortzusetzen und andere dazu einzuladen. Lasst uns Gott, den Allmächtigen, um Weisheit bitten für alle, die politische Verantwortung im und für den Nahen Osten tragen, um Versöhnungsbereitschaft, wo Hass die Herzen erfüllt, und um seinen Trost, wo Leid und Schmerz geschehen sind.

Mit herzlichem Gruß

Manfred Kock

24.06.2002

Editorische Anmerkungen

Manfred Kock ist Ratsvorsitzender des Evangelischen Kirche in Deutschland.