Zikaron: Kultur der Erinnerung im Judentum

Die Entwicklung einer Kultur der Erinnerung ist für das rabbinische Judentum in seiner Existenz nach der Zerstörung des Zweiten Tempels ein zentrales Unterfangen. Erinnern ist nicht bloß das Gegenteil von Vergessen; wie wir sehen werden, umfasst es ein Bündel von Verhaltensweisen, Äußerungsformen, Handlungen und Gebeten, die das Weltliche auf die Ebene des Heiligen heben, das Zeitgebundene mit dem Transzendenten verbinden, das unmittelbar Gegebene mit dem Kosmischen.

Ohne Zweifel ist Erinnern ist ein zentrales Anliegen des rabbinischen Judentums und, wie wir auf den folgenden Seiten zeigen werden, prägt es sich dem Bewusstsein als ein sinnvolles und konstantes Merkmal an den wichtigen Wendepunkten im jüdischen Leben ein. Wir werden uns mit folgenden Punkten befassen: Ereignisse, die Momente des Übergangs im Lebenslauf eines Juden markieren; Inhalt und Stil der täglichen Liturgie sowie der jährliche Kalender der Feste und Feiertage. Wie wir sehen werden, verkörpert die Kultur des Erinnerns im Judentum eine ganz besondere Haltung. Mehr als 1900 Jahre lang, seit der Zerstörung des Zweiten Tempels, hat diese Haltung den jüdischen Diskurs auf eindrückliche und konstante Weise geprägt. Sie ist Brennpunkt des religiösen und gemeinschaftlichen jüdischen Lebens.

Erinnern oder Erinnerung ist mehr als das bloße Gegenteil des Vergessens. Erinnern hält in unserem Bewusstsein etwas Bestimmtes fest, hebt eine Emotion bzw. einen Bewusstseinsinhalt gegenüber anderen hervor. Auf diese Weise gewinnen wir einen Zugang zum rabbinisch-jüdischen Verständnis von Erinnern.[1]

Tatsächlich lassen sich mindestens drei Spielarten des Erinnerns identifizieren. Die einfachste davon bedeutet, in Übereinstimmung mit den ursprünglichen lateinischen Wörtern memor oder rememorari, sich etwas zu merken oder ins Bewusstsein zurückzurufen. Das ist das genaue Gegenteil von Vergessen.

Eine weitere Ebene des Erinnerns bedeutet nicht nur das bloße Zurückrufen, sondern, etwas in den Vordergrund des Gedächtnisses zu stellen. Beispielsweise stellt der »Tag des Erinnerns« im britischen Commonwealth das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 in den Vordergrund des Gedächtnisses; das geschieht durch Rituale wie das Tragen einer Kornblume am Revers der Jacke und das Einhalten einer Minute Stille um 11 Uhr am Vormittag. Der »Volkstrauertag« in Deutschland wird normalerweise wenige Tage später begangen, mit Reden, Liedern, Prozessionen und Kranzniederlegungen. Am »Veterans Day« legt das Staatsoberhaupt der USA einen Kranz am Grabmal der unbekannten Soldaten auf dem Nationalfriedhof nieder. Diese besonderen öffentlichen Rituale stellen das Gedächtnis der Kriegsgefallenen in den Mittelpunkt und rücken es an den obersten Platz, sie drücken die Anerkennung der Nation für ihre Opfer aus.

Eine dritte Ebene des Erinnerns geht, theologisch gesehen, noch viel tiefer als das eben Angeführte. Es geht weit über das bloße Vermeiden von Vergessen hinaus und bedeutet mehr als etwas in den Vordergrund des Gedächtnisses zu rücken. Diese Ebene des Erinnerns stellt den gegenwärtig erlebten Augenblick als gleich-zeitig, co-synchron mit dem ursprünglichen Augenblick wieder her, mehr noch: er schafft den ursprünglichen Augenblick sogar neu. Zeit wird dabei nicht linear gesehen, sondern zyklisch. Immer wieder setzen jene, die die theurgischen[2] Möglichkeiten des Augenblicks benutzen, die göttliche Gegenwart ins Werk, die beim ersten Mal sichtbar war, sei es die Erschaffung der Welt, der siebte Schöpfungstag, die »Bindung Isaaks« auf dem Altar oder das Ritual des Hohen Priesters im Jerusalemer Tempel am Versöhnungstag; sie laden den gegenwärtigen Augenblick mit der transzendenten Macht des ursprünglichen Augenblicks auf.

Rabbinische Zugänge zum Gedenken

Die Kultur des Gedenkens im rabbinischen Judentum besteht in weiten Teilen aus dieser dritten Ebene des Erinnerns. Hier geht es um das Aufrufen des ursprünglichen Geschehens, um das gegenwärtige Geschehen mit Erinnern aufzuladen und es mit der göttlichen Macht seines Vorbilds und Vorgängers zu durchdringen: Dies geschieht offensichtlich bei den meisten Feiern in Frömmigkeit und Liturgie.

Die rabbinische Literatur, am meisten Mischna und Talmud (Sammlungen von Gesetzestexten zum jüdischen Ritual und gemeinschaftlichen Verpflichtungen) und in kleinerem Umfang der Midrasch (exegetische und homiletische Literatur), begann als allumfassender Akt des Erinnerns. Bis zur Periode von Rabbi Juda dem Prinzen (ca. 135 – 217 nach der üblichen Zeitrechnung) waren diese Erklärungen des jüdische Gesetzes eine ausschließlich mündliche Tradition. Im Unterschied zur »geschriebenen Torah« der 24 Bücher des Kanons blieben die 63 Traktate der Mischna und ihre begleitende Erklärung im Talmud als »mündliche Torah« überliefert, die wörtlich vom Lehrer zum Schüler weitergegeben wurde. Sie war absichtlich nicht für die Schriftform bestimmt, um so den Unterschied zwischen dem von Gott gegebenen Kanon und seiner menschlichen Erklärung zu bewahren. Dementsprechend bildeten die Weisen der frühen rabbinischen Periode eine ganze Kultur oder Gemeinschaft des Erinnerns aus, in der die Fragen und Antworten, die in der Blütezeit dieser umfassenden Gesetzestradition die beständige Beschäftigung mit einem auswendig gelernten und mündlich überlieferten Bestand an Literatur erforderte.[3] Man kann nur schwer die Auswirkung überschätzen, die all das auf die jüdische Kultur als Kultur des Erinnerns hatte.

Es genügt die Feststellung, dass die Grundlage für die Kultur des Erinnerns, die das Judentum in der fast 2000-jährigen Zwischenzeit seit der Zerstörung des Tempels darstellt, tief im talmudischen Diskurs verwurzelt ist. Die Spannung, die mit dem Talmud gegeben ist, besteht darin, wie die vom Text der Bibel verlangten verschiedenen Rituale und Riten, vor allem die des Tempelgottesdienstes, ohne diesen Tempel ausgeführt werden können. Das alles bahnte sich bereits nach der Zerstörung des salomonischen Tempels im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung und dem darauf folgenden babylonischen Exil an. Die am besten geeignete und dauerhafteste Antwort auf dieses Problem blieb über die Jahrhunderte hinweg eine Kultur des Erinnerns.

Der Lebenszyklus

Drei Achsen des jüdischen Lebens belegen die klare Evidenz des Vorrangs des Erinnerns, der beinahe an jedem Wendepunkt ins Spiel kommt. Der Zyklus des Lebens mit den ihn begleitenden periodischen Ritualen, die tägliche Liturgie, die einem Juden aufgetragen ist, ob allein oder in einer Gebetsgemeinschaft, und schließlich der jährliche Zyklus der Fest- und Feiertage: Das alles sorgt dafür, dass das Erinnern zum Hauptantrieb wird, der das jüdische Leben prägt.

Der Lebenszyklus beginnt mit der Zeremonie der Namensgebung bei der Geburt. Bei Jungen bildet diese Namensgebung einen Teil der brit milah, dem Beschneidungsritual am achten Tag nach der Geburt. Die kurze Liturgie für die Namensgebung beinhaltet ein Zitat aus Psalm 105,8-10: »Ewig gedenkt Er seines Bundes, dem Wort, das Er gegeben hat für tausend Geschlechter; des Bundes, den Er mit Abraham geschlossen hat; des Eides, den Er Isaak geschworen hat. Er bestimmte ihn als Satzung für Jakob, als ewigen Bund für Israel.« Die Beschneidung ist ein sichtbares Zeichen für diesen Bund (hebräisch: brit ) zwischen Gott und Abraham und seinen Nachkommen; das Erinnern an diesen Bund wird bei dieser ersten Lebenszäsur beschworen. Das ist mehr als eine Erinnerung, mehr als eine Geste, die den ursprünglichen Moment für die gegenwärtige Erfahrung in den Vordergrund rückt. Über diese Ebenen hinaus ist es das Bestreben, den Augenblick von Abrahams Opfer und den jetzt anwesenden Vater, der seinen Sohn in den Bund aufnimmt, in ein und demselben transzendenten und metahistorischen Augenblick des Bundesschlusses zu vereinigen.

Die Hochzeitszeremonie im Judentum schließt mit sieben Segenssprüchen, die unter dem Hochzeitsbaldachin rezitiert werden. Der vorletzte Spruch lässt zwar das Wort »Erinnern« aus, ruft aber dennoch dieselben Segenssprüche auf das Paar unter der Chuppah herab, die über Adam und Eva, dem ersten Paar, herabgerufen wurden. »Erfreue die gesegneten Brautleute, wie Du ehemals Deine Geschöpfe im Garten Eden erfreut hast. Gepriesen bist Du Gott, der Du Bräutigam und Braut erfreust.« Die Braut und der Bräutigam, die vor uns unter dem Hochzeitsbaldachin stehen, werden nicht nur poetisch mit Adam und Eva verglichen; sie werden vielmehr jetzt im Augenblick der Segnung zum ursprünglichen Paar des Anfangs.

Auch die letzten Vorgänge des Lebens, Tod und Begräbnis, enthalten in ihrem Ritual das Erinnern. Dabei berücksichtigt es in diesem Fall die Fragilität und Prekarität des Lebens, die in dem Grenzzustand, den die abgeschiedene Seele jetzt einnimmt, deutlich wird. Die Sammlung von Stellen, die beim Begräbnis gesprochen werden, trägt den Titel »Annehmen des Gerichts«. Sie enthält folgende Stelle: »In deiner Hand ist die Bewahrung aller Geister. Der Himmel soll es dir verbieten, die Erinnerung an uns auszulöschen.« Es handelt sich um eine Umschreibung von Abrahams bekanntem Eintreten vor Gott für die Sünder von Sodom in Gen 18,25. Die Besorgnis, die zum Ausdruck kommt, wenn man ein Mitglied der Gemeinde zur letzten Ruhe bettet, besteht in nicht geringem Maß aus der Angst, dass die Erinnerung verblassen und letztlich ganz verschwinden wird. Indem dieser biblische Augenblick mit dem unmittelbaren Augenblick des Verlusts und der Trennung verbunden wird, wird das Zeitliche in das Ewige verwandelt.

Das Gebet namens »Yizkor« – »Erinnere dich«

Teilweise im Blick auf diese Angst vor dem Vergessenwerden sprechen Juden bei vier Anlässen im jüdischen Kalenderjahr ein sehr kurzes liturgisches Gebet; am letzten oder vorletzten Tag eines Fests. Man nennt dieses Gebet »Yizkor«, also »Erinnere dich«, nach seinem ersten Wort; in voller Länge heißt es: »Möge sich Gott der Seele meines Elternteils, meines Lehrers erinnern, die zu seiner Welt hingegangen ist, denn ich werde eine Gabe zu ihren/seinen Gunsten spenden. Deshalb soll seine/ihre Seele in den Bund des Lebens aufgenommen werden, zusammen mit den Seelen von Abraham, Isaak und Jakob, von Sara, Rebekka, Rachel und Lea; und zusammen mit den anderen Gerechten im Garten Eden. Und wir sprechen ›Amen‹.«

Hier könnten wir mit der möglicherweise irritierenden theologischen Herausforderung zu kämpfen haben, was es denn bedeute, Gott zu bitten, Er möge Sich erinnern. Schließlich impliziert das die Vorstellung, Gottes Gedächtnis sei fehlerhaft und habe eine Erinnerung nötig. Die Absicht liegt allerdings anderswo. Es gibt hier eine Praxis, die zum Liturgischen hinzutritt und einen Teil von ihm ausmacht: die lebendige Verpflichtung, zugunsten der Toten etwas Gutes zu tun, so dass dieses positive religiöse Verhalten Verdienste zugunsten der Toten erwerben kann. Sie sind in diesem Sinn tot, aber nicht vergangen. Der Bittsteller bittet Gott nicht, Sich zu erinnern, weil Gott nicht vergisst. Der Bittsteller bittet Gott nicht darum, das Gedenken an seine verstorbene Familie in Seinem Wissen nach vorne zu rücken; eine solche Bitte ist überflüssig. Die Bitte zielt darauf, dass durch göttliche Barmherzigkeit unsere zeitlichen Akte der Rechtschaffenheit sich in der geistigen Welt der Seelen auswirken mögen; Gott möge Almosen, die in dieser Welt gegeben werden, als verdienstlich für diejenigen betrachten, die sie nicht mehr bewohnen.

Gott vergisst nicht

Aus diesen Beispielen folgt, dass Erinnerung mehr ist als ein bloßes Wort, ein Aufruf oder eine Erwähnung; es ist von greifbarer Art und Beschaffenheit. Gott, der nicht vergisst, wird dringend darum gebeten, zu erinnern; so muss es logischerweise eine Dimension des Erinnerns geben, die ganz und gar vom Vergessen unterschieden ist, das genaue Gegenteil davon. Das Erinnern könnte eine Wirklichkeit und ein Sein eigenen Rechts haben, eine Vorrangstellung oder eine Aufwertung erfahren; worin bestünde sonst der rhetorische oder religiöse Sinn davon, einen Gott in Seiner Vollkommenheit zu bitten, etwas nicht zu vergessen? Wie gezeigt, geht es um mehr als um die formelhafte Wiedererinnerung an ein vergangenes Ereignis; es geht im Vollsinn darum, das Göttliche, also das Unzeitliche, mit dem immanenten, dem zeitlichen Akt einer Person, zu verbinden. Mit einem vollkommenen Ausgleich von göttlicher Gnade und menschlicher Anrufung wird das Göttliche in das Weltliche hineingeholt.

Die täglichen Gebete und der Kalender formen eine Kultur des Erinnerns

Die täglichen Gebete eines Juden sind ähnlich wichtige Bezugspunkte für die Kultur des Erinnerns. Die Morgengebete beginnen mit dem Anlegen der Phylakterien, also der Gebetsriemen, der Tefillin, als Ausführung der Weisung von Dtn 6,8: »Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. « An den Tefillin sind kunstvoll gearbeitet Ledertäschchen befestigt, die winzige Pergamentrollen enthalten, auf denen Verse aus dem Pentateuch geschrieben sind, darunter Ex 13,1-16: »Gedenke des Tages, an dem du aus Ägypten herauszogst.«

Die Morgenliturgie umfasst Gen 22, die Bindung Isaaks, die uns an jedem Tag aufs Neue vor Augen geführt wird – als Erinnerung an Abrahams Bereitschaft, seinen wertvollsten und lange erwarteten Nachfahren zu opfern. Auf diesen Passus folgt eine Anrufung, die beginnt: »Herr des Universums! Möge es Dein Wille sein, Gott unser Gott und Gott unserer Vorfahren, dass Du zu unserem Heil den Bund unserer Vorväter erinnerst.« Hier haben wir wieder ein Gebet, das Erinnerung in das Bewusstsein der betenden Person einprägt; und wieder bitten die Betenden darum, dass sich etwas beim Höchsten, in den göttlichen Regionen bewegen soll.

Anstelle der täglichen Opfer des Tempeldienstes wird die Ordnung dieses Dienstes erinnert, und es werden Gebete dargebracht, deren Erinnern und Erwähnung die gleiche Nähe der Begegnung von Gott und Mensch bewirken soll, die die reale Praxis im Jerusalemer Tempel ins Werk setzte. So folgt auf die liturgische Rezitation der täglichen Opfer wiederum ein kurzes Gebet, das die Präsentation der Elemente des Tempeldienstes in verbaler Form umfasst: Diese mündliche Darbietung möge die Kraft der Versöhnung, Annäherung und Erfüllung der Bitten bewirken; das Beten und Erinnern der Ordnung des Tempeldienstes möge die gleiche Nähe und Gemeinschaft mit Gott erreichen, die damals durch seine physische Darbietung im Tempel bewirkt wurde.

Ein Jude bekennt den Glauben an Gott mehr als einmal am Tag, indem er Verse aus Dtn 6,4-9, 11 und 13-21 sowie Num 15,37-41 rezitiert, die die Weisungen der Schrift für das Erinnern des Auszugs aus Ägypten enthalten. An verschiedenen Stellen im zentralen Gebet Amidah, dem sogenannten »Stehenden Gebet«, wird die Erinnerung an den Tempel regelmäßig aufgerufen, ebenso wie die speziellen Erfordernisse für das Erinnern in Verbindung mit der Zeit während der hohen Festtage.

Zu den täglichen Gebeten gehört in vielen Fassungen des Standardgebetsbuchs das allerkürzeste mit dem Titel »Sechs Erinnerungen«, eine ein bis drei Verse lange Rezitation von sechs unterschiedlichen biblischen Geschehnissen, die erinnert werden sollen: der Auszug aus Ägypten; die Offenbarung am Sinai; der Angriff der Amalekiter, das Goldene Kalb, die Rede Miriams und der Schabbat. Sie werden auch vom Einzelnen laut gelesen, um so die biblischen Weisungen einzulösen, d. h. sie zu erinnern.

Bemerkenswerterweise besteht das jüdische Gebet sowohl aus Akten der Erinnerung wie aus Erinnerung als solcher. Im Lauf des täglichen Morgengebets, das weniger als eine Stunde in Anspruch nimmt, kann ein Jude sich selbst als anwesend bei der Erschaffung der Welt, der Bindung Isaaks, dem Exodus und der Teilung des Rotes Meers und am Sinai vorstellen und die enge Verbindung mit Gott bei jedem dieser Ereignisse ins Gedächtnis rufen.

Schließlich bildet der jährliche Zyklus von Feiertagen und Festen ein kontinuierliches Gegenwärtigsein aktiven Erinnerns, indem er vergangene Erfahrungen stets wiederkehrend aufruft. Sie erhalten greifbaren sinnlichen und verbalen Ausdruck, um so die spirituelle und gemeinschaftsstiftende Kraft dieser Tage auf Neue zu erleben. Bei den meisten hier erwähnten Vorschriften gehört zu ihrer Ausführung das Rezitieren des in der Bibel angeordneten Gottesdienstes im Zelt, später im Jerusalemer Tempel. Der Text wird so zu einer Handlung. Diese Kultur des Erinnerns prägt bis heute Tag für Tag und im Jahresablauf das ganze religiöse Ritual und die religiöse Praxis des Judentums. Für gegenwärtige und zukünftige Beteiligte bestätigt und gleichzeitig verstärkt sie die Bedeutung und die emotionale Wirkung jener Rituale, die nach dem Verlust des Tempels als Zentrum des jüdischen Lebens im ersten nachchristlichen Jahrhundert nicht mehr praktizierbar erschienen.

Schabbat und jüdische Feste als Tage des Erinnerns

Der Schabbat ist schon als solcher eine wöchentliche »Erinnerung an das Werk der Schöpfung « und eine »Erinnerung an den Auszug aus Ägypten«, wie sein Heiligungsgebet die jüdische Familie in den Ruhetag einführt. Diese beiden Erinnerungen werden in Gegenwart der gesamten Familie bei der kurzen Heiligungszeremonie, beim Kiddusch, wörtlich am Esstisch zitiert – und zwar gleich zum Beginn des Mahls, das den wöchentlichen Feiertag eröffnet.

Jeder der jährlichen Festtage, Pessach, Schavuot und Sukkot, wird wiederum in der Synagoge ebenso wie zuhause willkommen geheißen, indem man die Prägung des jeweiligen Festtags als »Erinnerung an den Auszug aus Ägypten« erwähnt.

Das sehr populäre und bleibende Ritual von Pessach ist der Seder, ein gemeinschaftliches Mahl zuhause, bei dem ungesäuertes Brot und bittere Kräuter verzehrt werden, um den wirklichen Geschmack und die Bitterkeit von Sklaverei und Gefangenschaft ins Gedächtnis zu rufen. Indem sie alle fünf Sinne anspricht, mit Gesang und Erzählung, mit Wein und Hallel (die Lobpsalmen 113- 118), erzählt und erlebt die Familie die Erlösung aus Ägypten aufs Neue und realisiert durch dieses Tun die Übertragung auf künftige Generationen. Die Haggada, das schmale Buch, das die schriftliche Vorlage für das abendliche Ritual liefert, wurde so oft in so vielen unterschiedlichen geografischen und linguistischen Kontexten angepasst, übersetzt, modifiziert und revidiert, dass sie zum am meisten nachgedruckten jüdischen Buch wurde, mit etwa 7.000 veröffentlichten Varianten und unzähligen »hausgemachten« Versionen. Die Haggada enthält den Text der Erzählung und die wirkliche Choreographie des Erinnerns: Die Mitwirkenden sehen sich selbst, als wären sie am tatsächlichen Auszug aus Ägypten in jener Nacht beteiligt.

Der Monat Nissan als solcher, in dem Pessach begangen wird, wird vom Rest des Jahres durch eine leicht abweichende Tagesliturgie unterschieden, die ihn als einen Monat der Freiheit und der Befreiung sowie einer besonderen Nähe zu Gott kennzeichnet.

Yom Hashoah und Yom Hazikaron wurden im 20. Jahrhunderts zum jüdischen Kalender hinzugefügt. Beide Tage drehen sich um das Erinnern. Yom Hashoah, der Tag des Erinnerns an den Holocaust, ist ein Gedenktag im späten Frühjahr, ein Kompromissdatum zwischen denen, die ihn im Kalender am hebräischen Datum des Warschauer Ghettoaufstands von 1943 festmachen wollten, am ersten Tag des Pessachfests, und denen, die ihn später ansetzen wollten, damit dieses melancholische Gedenken nicht mit dem Themen Freiheit und Erlösung des hebräischen Monats Nissan zusammenfällt.

Yom Hazikaron, nur wenige Wochen nach Pessach und einige Tage nach dem Yom Hashoah, ist der israelische Gedenktag für die gefallenen Soldaten und wurde von damit sympathisierenden jüdischen Gemeinden in der ganzen Welt übernommen. Wörtlich bedeutet sein Name »Tag der Erinnerung«; er wird geprägt von der äußerst feierlichen Anerkennung für jene, die ihr Leben in den Verteidigungsstreitkräften Israels gaben. Mit seiner sehr düsteren Stimmung geht er unmittelbar der mit froherem Herzen begangenen Feier des israelischen Unabhängigkeitstags, des Yom Haatzmaut, voraus.

Das sog. Omerzählen oder Sefirat Haomer ist ein kurzes tägliches Ritual, das Pessach mit Schavuot (analog zum Pfingstfest) verbindet. Das Omer war das erste Frühlingsopfer, das früher zur Zeit des Tempels dargebracht wurde. Es wurde von der Ernte der Gerste genommen, die als erste Feldfrucht reif war. Dieses Zählen beginnt am zweiten Tag des Pessachfests, und heutzutage wird jeder Tag in Erinnerung an jenes Gerstenopfer im Tempel genau gezählt, sieben volle Wochen, 49 Tage, bis Schavuot bzw. Pfingsten, dem Frühlingsfest, das an das gemeinsame Stehen am Berg Sinai und den Empfang der Zehn Gebote erinnert (Ex 19-20). Genau wie an Pessach sind die Liturgie des Tages (»Die Zeit des Empfangs unserer Torah, eine Erinnerung an den Auszug aus Ägypten«), die symbolischen Speisen und sogar der Schmuck der Synagoge kulturelle Elemente, die das Erinnern an einen entscheidenden Moment in der jüdischen Geschichte unterstützen, der sich als solcher jährlich mit Freude und Festlichkeit wieder darstellt. Die Erfahrung, mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des jüdischen Volkes am Sinai zu stehen, schafft einen Erinnerungsraum für die Menschen, um die beständige Offenbarung der Torah zu empfangen, die nicht auf ein Datum in der Geschichte begrenzt ist.

Drei Sommerwochen lang rückt das ernste Gedenken in den Mittelpunkt, deren Kultur des Erinnerns sich um die Belagerung Jerusalems in alten Zeiten und um die darauf folgende Zerstörung des Jerusalemer Tempels 586 vor und 70 nach unserer Zeitrechnung dreht. Merkdaten für diese Periode sind zwei Fasttage: Der 17.Tammuz und der 9. Av im hebräischen Kalender. Dieser etwas traurige Zeitraum führt auf immer höhere Ebenen des Verzichts und der Selbstkasteiung hin zum 9. Av, an dem die Beteiligten die Gebräuche ausführen, die beim Tod eines Familienmitglieds gelten. Ab dem Fasten am 17. Tammuz gibt es keine Versammlungen zu öffentlichen Hochzeiten oder anderen festlichen Anlässen, es wird auch keine Musik gespielt, um die Seelen zu erheben. Die einzigen Ausnahmen sind die Brit Milah (Beschneidung); sie muss – wenn medizinisch möglich – am achten Tag nach der Geburt durchgeführt werden, damit sie an die Beschneidung Isaaks durch Abraham in diesem Alter erinnern kann, und die Vermählung von Paaren, die zu jedem Zeitpunkt formell besiegelt werden kann, auch ohne Musik und Festlichkeiten, um an das erste Paar Adam und Eva zu erinnern.

An den ersten neun Tagen des hebräischen Monats Av und in der Woche mit dem Fasttag des neunten enthalten sich Juden genussvoller Vergnügungen: Fleisch und Wein, sowie weltlicher Sorge, zum Beispiel dem Wäschewaschen. Am 9. Av selbst wird der Gedenktag markiert durch Fasten, das Sitzen auf niedrigen Stühlen oder auf dem Boden wie Trauernde, das Wegräumen von bequemem Schuhwerk, den Verzicht auf gegenseitiges Grüßen und das Lesen des Buchs der Klagelieder mit leiser und trauriger Stimme. Diese Entbehrungen in der Ernährung, von Berührungen, im Sehen und Hören sorgen für die Stimmung der Trauer und des Gedächtnisses der Trauer über den Verlust des Tempels und das darauf folgende Exil. Wie kann man um ein Ereignis trauern, das 19 Jahrhunderte zurückliegt? Das Fasten des 9.Av ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man sich in einen transzendenten Moment der Trauer und des Verlusts hineinbegibt.

Wenige Wochen danach beginnt die Zeit der Buße mit Selihot, Bußgebeten, die gemeinschaftlich im Morgengrauen, vor den regulären Morgengebeten, verrichtet werden. Das beherrschende Thema dieser Gebete ist das Erinnern. Ihr Höhepunkt ist das Sprechen des »Erinnere den Bund« am Morgen vor Rosch Haschanah.

Der Höhepunkt des Jahres: Rosch Haschanah

Rosch Haschanah, das jüdische Neujahrsfest, kennt eine einzigartige Version des zusätzlichen Gebets, alled Musaf. Dieses Gebet unterscheidet sich von dem Musaf-Gebet am Schabbat, am Neumond oder an den drei Festen Pessach, Schavuot und Sukkot; es widmet sich dem einzigen Thema dieses besonderen Tages. Das Musaf-Gebet an Rosch Haschanah umfasst drei Themen: die Souveränität Gottes, das Erinnern und das Schofar (ein rituelles Widderhorn). Jedes dieser Themen wird in diesem komplexen Gebet erinnert, indem es Verse aus dem Pentateuch, den Propheten und den Weisheitsbüchern rezitiert, die das Thema erwähnen. Es wird abgeschlossen mit einer Bitte darum, dass alle diese biblischen Verse voll in unserer Erfahrung zur Wirkung kommen, die ganze Welt ein günstiges Urteil finden möge und zu einer universalen Anerkennung Gottes führen sollen. Die abschließende Bitte der Reihe von erinnerungsbezogenen Versen lautet: »Denn Du bist es, der Sich ewig alles Vergessenen erinnert, und es gibt kein Vergessen vor Deinem Thron der Ehre,und mögest Du gnädig heute die Bindung Isaaks zur Erlösung seiner Nachkommen erinnern.« Nach jeder der drei ähnlichen Reihen wird das Schofar geblasen, außer dann, wenn Rosch Haschanah auf den Schabbat fällt und das Schofarblasen weggelassen wird. Dann wird statt dessen eine Erinnerung an das Erinnern gebetet: Die Liturgie ersetzt dann die Verse »Du gabst uns, o Gott, voll Liebe diesen Tag des Erinnerns, einen Tag, an dem das Schofar geblasen wird, eine heilige Versammlung, eine Erinnerung an den Auszug aus Ägypten« durch: »Du gabst uns, o Gott, voll Liebe diesen Tag des Schabbat und diesen Tag der Erinnerung, einen Tag, der an das Blasen des Schofar erinnert, voller Liebe, eine heilige Versammlung, eine Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.«

Das Fest Sukkot folgt bald nach Rosch Haschanah und Yom Kippur. Das zentrale Thema, dem es seinen Namen verdankt, sind die Laubhütten, die Juden in ihren Gärten aufstellen und zum Essen, zur Geselligkeit und manchmal sogar zum Schlafen (in wärmeren Klimazonen) an den acht Tagen des Festes benutzen – als Erinnerung an Gottes Schutz für das Volk während seiner vierzigjährigen Wanderung in der Wildnis nach dem Auszug aus Ägypten.

Neue Herausforderungen durch Covid19

Abschließend wollen wir über das Durchhalten des Judentums während der jüngsten kulturellen Erschütterung durch die Covid19-Pandemie nachdenken, die die institutionalisierte Religion in ihrer Abhängigkeit von gemeinsamem Gottesdienst und liturgischen Leitung schwer beeinträchtigt hat. Diese Reflexionen können einige interessante Einsichten bezüglich seiner Durchhaltefähigkeit und Flexibilität auch unter sich verändernden sozialen und institutionellen Bedingungen vermitteln.

Als das rabbinische Judentum den Ort des Gottesdienstes von dem nicht mehr vorhandenen Jerusalemer Tempel wegverlegte, verschob es den Brennpunkt der Begegnung von Gott und Mensch von einem einzigartigen Punkt auf dem Globus zu theoretisch jedem Punkt auf dem Globus. Wo auch immer sich eine jüdische Gemeinschaft zum öffentlichen Gottesdienst versammelte oder vielleicht noch stärker veränderbar und flexibel, wo immer sich ein jüdischer Haushalt der vollen Teilhabe an der Kultur des Erinnerns verpflichtete, dort konnte und kann sich bis heute das Erinnern in aller Stärke und aller Kraft ereignen. Das rabbinische Judentum als solches enthielt in sich die Saat zum Überleben und Blühen sogar unter der Inquisition, dem Kommunismus und anderen zeitweisen Hindernissen für Observanz und Erinnern. Quarantäne und Isolation als Folge einer Pandemie waren für eine ewige Kultur des Erinnerns niemals ein ernsthaftes Problem.

Sehr wenige der hier erwähnten Praktiken und Rituale erfordern ein gemeinschaftliches Sakrament. Natürlich gibt es im Judentum wie in jeder Religion ein bedeutendes soziales Element. Aber für einen Juden erfordern Gebet, Erinnern, Studium und das Engagement in den meisten hier erwähnten rituellen Praktiken nichts anderes als Wissen und Frömmigkeit. Es braucht keinen Klerus, um ein Ereignis zu segnen, keine heiligen Vorhöfe müssen die Grenzen für das Heilige signalisieren. In der Tat, das Erinnern als solches schafft und heiligt Raum wie Zeit.

Institutionen des heutigen Judentums, etwa Gemeinschaftsorganisationen für karitative und soziale Zwecke oder sogar große Synagogen mit entsprechenden Haushaltsmitteln, werden möglicher Weise dazu herausgefordert, über ihre Tätigkeiten in einer veränderten Welt nach Covid19 neu nachzudenken. Aber die Kraft der jüdischen Kultur des Erinnerns ist durch solche Herausforderungen kaum zu erschüttern.

Kultur des Erinnerns heute?

Am Ende stellt sich nochmals die Frage: Was ist eine Kultur des Erinnerns für unsere Zeit? In dem Kontext, mit dem wir uns befassen, kann sie nicht bloß das Gegenteil des Vergessens sein. Sogar der bloße Vorgang des Erinnerns als eine Absage an das Vergessen unterstellt, dass ein Thema, ein zu erinnerndes Etwas, nicht vollständig aus dem Bewusstsein verloren geht; es bedeutet nur, dass dieses Etwas nicht im Vordergrund oder im Zentrum steht. Es wird quasi ausgeschaltet, dann aber wiederbelebt; aber weil es nicht aktiv verwendet wird, befindet es sich nicht im Vordergrund des Bewusstseins oder der Aufmerksamkeit.

Ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben kann diesen Vorgang illustrieren: Wenn wir etwas »vergessen «, etwa wo wir unsere Schlüssel gelassen haben oder dass wir Milch und Äpfel aus dem Lebensmittelgeschäft mitbringen sollten, verfolgen wir entweder unseren Weg nach und korrigieren das, von dem wir wissen, dass wir es hätten tun sollen; oder, wenn wir die Schlüssel wiederfinden oder nach Hause kommen und uns plötzlich daran erinnern, wozu wir in das Lebensmittelgeschäft gehen sollten, greifen wir uns an den Kopf und sagen: »Richtig! Ich habe es vergessen! Jetzt erinnere ich mich.« Wir waren uns der Sache bewusst, sie stand aber nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Erinnern meint, dass wir die Sache in den Vordergrund der Aufmerksamkeit schieben und das Licht von Absicht und Konzentration auf sie richten.

Unsere begrenzten und vergänglichen intellektuellen Fähigkeiten fallen definitiv weg, wenn wir alt werden und sterben. Gott wird weder alt noch stirbt er, sondern er ist in jedem Fall vollkommen und ohne menschliche Schwächen. So müssen wir Menschen uns unter Umständen an das »erinnern «, was wichtig ist, und diese wichtigen Dinge den weniger wichtigen vorziehen. Weil wir Gott nur in menschlicher Sprache begreifen und uns mit ihm befassen können, was als solches logisch unmöglich ist, müssen wir unvermeidlicher Weise Begriffe wie »Erinnern« verwenden, die menschliche Fähigkeiten beschreiben, aber die Wahrheit Gottes nicht erfassen können. Paradoxerweise kommen wir dem Wesen Gottes am besten näher, wenn wir schweigen. Aber Schweigen ist nicht das, was von uns erwartet wird, es kommt auch dem nicht nahe, was wir leisten können. Wir haben eine vom Scheitern bedrohte, aber notwendige Mission: Wir müssen riskieren, zu Gott, mit Gott und über Ihn in einer Sprache zu reden, die der Aufgabe letztlich nicht gerecht wird. Und doch ist das alles, was wir haben. Kafka und Sisyphus verkörpern unser Schicksal: Keiner von ihnen schreckte vor seiner Verantwortung als Mensch zurück. Auch wir dürfen das nicht.

Wenn wir Gott darum bitten, sich zu erinnern, rufen wir uns sowohl Gottes Gegenwart wie Sein Mittun ins Bewusstsein. Das bedeutet, dass wir beides zur Kenntnis nehmen, auch, dass in uns die Hoffnung, das Bemühen und die Fähigkeit gestärkt wird, das Wertvollste in den Mittelpunkt zu rücken: das vollkommene Gleichgewicht unter unseren Prioritäten hervorzubringen.Vielleicht sind wir uns der Kluft zwischen unserer begrenzten Fähigkeit bewusst, dieses vollkommene Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, und Gottes grenzenloser Fähigkeit, sich an alles zu erinnern. Trotzdem rufen wir die Unendlichkeit Gottes an, wenn wir in unserer Endlichkeit nachdenken, eine Art Denken auf Abstand zum Göttlichen, in dem wir auch nie die Aufmerksamkeit für unsere wichtigsten Werte und Perspektiven verlieren. Kurz gesagt: Eine Kultur des Erinnerns lädt Gott in unsere großen Übergänge des Lebens und des Sterbens ein, sie bringt Ihn mit ins Spiel. Dies geschieht in unserer jährlichen und täglichen Choreographie des Erinnerns, die sich in Gebet und Ritual ausdrücken.

Das rabbinische Projekt, eine Kultur des Erinnerns zu schaffen und beizubehalten, hat ehrgeizige Ziele. Es möchte die Weltsicht, die Perspektiven und Werte einer religiösen Gemeinschaft auch dann bewahren, wenn zentrale Teile des Funktionierens dieser Gemeinschaft unwirksam gemacht werden, bis zu der Zeit, in der sie wieder belebt werden können. Die Kultur der Erinnerung versucht, eine Gemeinschaft über geographische Grenzen und den Wechsel der Zeiten hinweg zusammenzuhalten, so weitgehend, dass diese Kultur über Außenposten in fünf Kontinenten und über 19 Jahrhunderte hinweg verfügt. Ob mit Absicht oder unbewusst hat es dem Leben vieler Generationen seiner Anhänger Tiefgang, Sinn, Orientierung und die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit gegenüber der Welt und dem Nächsten vermittelt.

Die jüdische Kultur der Erinnerung hat nichts weniger als das ehrgeizige Ziel, die Welt auf das Ende der Zeiten vorzubereiten, so wie Elie Wiesel sehr häufig Rabbi Israel Baal Schem Tow zitierte:

»Im Erinnern liegt das Geheimnis der Erlösung.«


Obiger Artikel stammt aus:

Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (Zf Beg)
1/2: "Erinnerungskultur im Wandel"

Freiburg 2020

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Zf Beg Info
 

[1] Zum Gegensatz von Geschichte und Erinnerung im jüdischen Diskurs siehe: Yerushalmi, Yosef Haim (1988): »Zachor«: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin.
[2] Theurgie ist die in der jüdischen Tradition, insbesondere in der jüdischen Mystik, gängig Praxis der Verbindung des Weltlichen mit dem Göttlichen.
[3] Vgl. Ong, Walter (2002): Orality and Literacy, New York.

Editorische Anmerkungen

Dr. Joseph A. Kanofsky ist Rabbiner der Kongregation Shaarei Torah in Toronto, Canada. Er erwarb seinen PhD an der Boston University im Bereich der vergleichenden Literaturwissenschaft und war in den 1990er-Jahren Wissenschaftlicher Assistent Elie Wiesels. – Der vorliegende Beitrag wurde von Dr. Ulrich Ruh ins Deutsche übersetzt.
Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (Zf Beg), 1/2|2020; mit freundlicher Genehmigung.