20 So spricht der Herr der Heerscharen: Es werden noch Völker kommen und Bewohner vieler
Städte. 21 Und die Bewohner der einen werden zur anderen gehen und sagen: Lasst uns hingehen,
um das Angesicht des Herrn zu besänftigen und um den Herrn der Heerscharen zu suchen!
Auch ich will gehen! 22 Und viele Völker und mächtige Nationen werden kommen, um den Herrn
der Heerscharen in Jerusalem zu suchen und um das Angesicht des Herrn zu besänftigen. 23 So
spricht der Herr der Heerscharen: In jenen Tagen, da werden zehn Männer zugreifen aus allen
Sprachen der Nationen, sie ergreifen den Saum eines Judäers und sagen: Wir wollen mit euch
gehen, denn wir haben gehört: Gott ist bei euch! (ZB)
Einleitung
Der Israelsonntag, auch bekannt als „Gedenktag der Zerstörung Jerusalems“, steht in Verbindung zum jüdischen Tischa BeAw, dem Fasttag am 9. Aw, dem Gedenktag an die Zerstörung des ersten (587 v.d.Z.) und des zweiten (70 d.Z.) Jerusalemer Tempels. Der vorliegende biblische Abschnitt ist der Epilog der sogenannten Fasten-Rede in Sach 7–8. Es besteht ein thematischer Zusammenhang zwischen diesem Text, der eine Völkerwallfahrt nach Jerusalem beschreibt, und dem Besuch einer jüdischen Gruppe aus der Diaspora in Sach 7,1–3. Die Gruppe stellt Fragen zur Aktualität des Fastens in Erinnerung an die Zerstörung des ersten Tempels angesichts des bevorstehenden Wiederaufbaus des Tempels. Nach Ausführungen über die Bedeutung des Fastens, hebt Sach 8, 18–19 alle vier Fasttage auf und erklärt diese zu Festzeiten. Da der V. 17 mit den Worten „Liebt Wahrheit und den Frieden!“ endet, versteht die klassische jüdische Auslegung Frieden als eine Bedingung für die Aufhebung der Fasten. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, bleiben die Fasttage bestehen. Dabei sind sich jüdische Theologen über die Definition des Friedens und den Stellenwert der Tempelzerstörung nicht einig, was auch heute noch zu unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der Beibehaltung der Fasttage führt. Ich folge der Meinung von David Einhorn (1809-1879), der die Bedeutung des 9. Aw neu definiert. Einhorn erkennt an, dass die Ereignisse rund um die Zerstörung des Tempels tief traumatisch gewesen waren, gleichwohl betont er die Notwendigkeit dieses Umbruches: „Der eine Gottestempel zu Jerusalem sank in den Staub, damit zahllose Tempel im weiten Umkreis der Erde zu Deiner Ehre und Deinem Ruhm sich erheben mögen.“[32] Für Einhorn sind die tragischen Ereignisse des 9. Aw ein notwendiger Schritt in der Weiterentwicklung des Judentums von einer ethnisch-partikularistischen Religion gebunden an einen heiligen Ort, Jerusalem, zu einer Religion des universellen Geistes, die ihr Ziel darin sieht, dass die ganze Welt zum Tempel der unter sich und mit Gott innig verbundenen Menschheit wird.
Zu den einzelnen Versen
V. 20 Es werden noch … Das angekündigte Geschehen ist noch zu erwarten, es liegt in der unbestimmten Zukunft.
V. 21 Lasst uns hingehen… Malbim (1809-1879) sieht in den Vv. 20–23 eine Beschreibung eines Lernprozesses bestehend aus zwei Phasen, die nahe an den messianischen Zeiten verlaufen sollen. Zunächst würden die Völker, aus ihrem eigenen Glauben heraus, erkennen, dass Jerusalem die Heilige Stadt sei und sie würden dorthin gehen, um dort zu beten und Gott zu suchen; sie würden aber nicht von Israel den wahren Glauben lernen wollen, weil Israel in ihren Augen abscheulich bliebe. Später, wie im V. 23 beschrieben, würden die Völker anfangen, den Glauben Israels, die Tora Gottes, zu lernen und an sie zu glauben. Dafür würden sie nicht nach Jerusalem reisen müssen, um dort den Glauben zu suchen, sondern den wahren Glauben von jüdischen Menschen lernen, wo auch immer sie diese finden; sie würden mit Israel gehen, und zwar im übertragenen Sinne. Demzufolge würde für alle offensichtlich, dass das Wort Gottes nicht an einen bestimmten Ort gebunden sei. Ich vermute, die Einleitung „So spricht der Herr der Heerscharen“ in V. 20 und in V. 23 bringt Malbim auf die Idee der zwei Phasen, da dies die Perikope in zwei Teile trennt (Vv. 20–22 und V. 23).
V.21, 22 das Angesicht des Herrn zu besänftigen (heb. „lechalot et pnej JHWH“) Mit dieser anthropomorphen Metapher wird impliziert, dass Gott eine irdische Wohnstätte hat, und zwar in Jerusalem, wo sein Angesicht zugänglich ist. In einer Welt, in der göttliche Statuen eine Manifestation der Götter waren, bedeutete der Anblick eines göttlichen Bildes in einem Tempel, einem Gott von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Es wird als selbstverständlich suggeriert, dass Gott von den Menschen besänftigt, bzw. Gottes Unwillen, etwas Gutes zu tun, aufgeweicht werden muss.
V.23 ergreifen den Saum (heb. „kanaf“) eines Judäers („isch jehudi“). Das Greifen des Gewandes eines Menschen ist eine Geste, die im Kontext eines demütigen Flehens oder der Anerkennung einer Hierarchie (z.B. gegenüber einem König), oder einer dringenden Bitte verstanden wurde. So bat König Saul den Propheten Samuel um Vergebung, dabei ergriff er den Saum von Samuels Gewand (1 Sam 15,27). Die einzige andere Verwendung des Ausdrucks „isch jehudi“ in der hebräischen Bibel findet sich in Esther 2:5 in Bezug auf Mordecai. Mordecai wird „isch jehudi“ (d.h. Angehöriger des Stammes Juda) genannt, obwohl dieser im gleichem Vers etwas später auch als „isch jemini“ (d.h. Angehöriger des Stammes Benjamin) bezeichnet wird. In seinem Kommentar zum Buch Esther erklärt Maharal (zirka 1525–1609), dass „jehudi“ in diesem Kontext ein Mensch genannt wird, der sich zu Gottes Einigkeit („jichud“) bekennt.
An jenem Tag
Liest man Sach 8, 20–23 unabhängig vom Rest des Buches, beschreiben diese Verse die euphorische Stimmung und Einigkeit unter den Völkern, die Anerkennung der Einzigartigkeit Gottes und der besonderen Stellung Jerusalems und des jüdischen Volkes. Dennoch verblasst diese positive Grundstimmung, wenn man das Geschehen „der letzten Tage“ als Ganzes betrachtet und 8, 20–23 als Resultat der Ereignisse der Kapitel 12–14 liest. In den folgenden Kapiteln steht der Krieg im Fokus: Jerusalem wird von Völkern angegriffen, Gott vernichtet alle Widersacher (12,9), nur ein Drittel des Volkes überlebt (13,8) und dann feiern diejenigen, die von allen Nationen übriggeblieben sind, jährlich das Laubhüttenfest in Jerusalem (14,16–19). Allerdings bekommen diejenigen, die sich nicht an der Pilgerfahrt beteiligen, keinen Regen (14,18).
Der vorliegende Abschnitt hält offen, wie es zu beschriebener Situation kommt, er ist zu kurz für detaillierte Ausführungen. Was soll passieren, damit die Menschen einander sagen können: „wir wollen mit euch gehen“? Zwar kann man diese Frage offen lassen, denn im Gottesdienst wird nur dieser Abschnitt gelesen und daher kann er legitimerweise als eine Einheit in sich betrachtet werden. Dennoch scheint eine solche Herangehensweise zu vage, zu wenig inhaltlich. Auch wenn man nicht alles in den Kapiteln 12–14 glauben kann, geben diese doch eine Denkrichtung an, die unserer Erfahrung entspricht. Wir haben zwar keine endgültige Erlösung erfahren, wir haben aber Erfahrung mit weniger allumfassenden Befreiungsprozessen und -ereignissen. Ob man nun an den Paradigmenwechsel in den christlich-jüdischen Beziehungen, an die Frauenemanzipation, die LGBTQ Inklusion oder die Anerkennung der Menschenrechte denkt, all dies wurde bitter erkämpft, oder war nur nach einer Katastrophe möglich. Nichts wurde auf einem Silbertablett serviert. Nur nach den Schrecken der Weltkriege und der Schoa war man endlich dazu bereit, sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu einigen; auch manche Kirchen waren endlich dazu bereit, ihre Mitschuld an der Judenverfolgung zu akzeptieren und langsam neue inklusive, und mancherorts pluralistische, theologische Ansätze über das Judentum zu entwickeln. Auch die Verbesserungen der Lage der LGBTQ-Menschen sind nur erfolgt, weil diese für die Anerkennung ihrer vollen Menschenrechte gekämpft haben, angefangen mit dem bahnbrechenden Moment, als die schwule Kundschaft der Stonewall Bar in Greenwich Village, New York, am 28. Juni 1969 als Reaktion auf eine Polizeirazzia und wiederholte Polizeischikanen einen Aufstand anzettelte.
Veränderungen sind möglich, wenn wir uns verpflichten, sie herbeizuführen. Rabbinerin Elli Tikvah Sarah, eine der ersten offen lesbischen Rabbinerinnen, erinnert: „Meine persönlichen Erfahrungen im Kampf für die Gleichstellung und Integration von LGBTQ+ zeigen, dass man manchmal ein Eiferer sein muss, um Veränderungen zu bewirken; ein Eiferer für Gerechtigkeit und Menschenrechte.“[33] Sie betont, dass Eifer nicht immer ein zerstörerischer Impuls und jener Eifer für Gleichberechtigung anzuerkennen ist, der Einzelpersonen und Gemeinschaften dazu gebracht hat, sich im Kampf für die Integration von LGBTQ+ zu engagieren. „Wir brauchen diese Art des konstruktiven Eifers.“[34]
Jerusalem
Abgesehen von der partikularistischen Perspektive des Verfassers von Sach stellen sich die Fragen: Ist Gott wirklich nur in Jerusalem zu finden? War Gott jemals nur in Jerusalem? Wenn wir glauben, dass Gott ein immaterielles Wesen, die Seele der Welt ist, dass Gottespräsenz allumfassend ist, dann kann man auch ganz gewöhnlich in Berlin oder in Duschanbe, in einer Kirche oder an der Supermarktkasse, auf dem Everest oder am Boden des Marianengrabens eine Gotteserfahrung machen, oder, einfach gesagt, es hängt nicht von der Geographie ab. Allerdings ist es, subjektiv gesprochen, verständlich, dass bewerbestimmte Orte, durch ihre Geschichte eine besondere Wirkung auf Menschen und einen besonderen Anspruch haben, Stätte Gottes zu sein. Menschen sind durch erlebte Erfahrungen geprägt, durch Beziehungen zu anderen Menschen in Raum und Zeit, daher sagt uns unsere subjektive Wahrnehmung manchmal wie einmal von Jakob formuliert: „Fürwahr, Gott ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht.“ (Gen 28,16b).
„Jerusalem“ ist nicht nur eine Stadt, es ist auch eine Metapher für den Zustand der Welt in messianischen Zeiten, eine Utopie (wörtlich „Nicht- Ort“). Seit Moses Mendelsohn (1729-1786) ist die Bedeutung von „Jerusalem“, als ein universelles Symbol für Geschwisterlichkeit und Frieden, wo auch immer diese Träume in Erfüllung gehen können, fest in der jüdischen Theologie verankert (z.B. bei Abraham Geiger, Hermann Cohen, Kaufman Kohler). In diesem Sinne kann man die Erwähnung von Jerusalem im V. 22 so verstehen, dass die Völker gemeinsam mit Israel zur Anerkennung Gottes kommen werden, sodass die Verwirklichung der Ideale der Geschwisterlichkeit und des Friedens möglich wird. Dabei steht der Mensch im Fokus, nicht ein geographischer Ort, was sich mit den folgenden Worten von Yehuda Amichai wunderbar illustrieren lässt:
„Einmal saß ich auf den Stufen an einem Tor des Davidsturms. Ich stellte meine beiden schweren Körbe an meine Seite. Eine Gruppe von Touristen stand um ihren Reiseführer herum, und ich wurde zu ihrer Zielmarkierung. „Sehen Sie den Mann mit den Körben? Genau rechts von seinem Kopf befindet sich ein Bogen aus der Römerzeit. Genau rechts von seinem Kopf.“ „Aber er bewegt sich, er bewegt sich!“ Ich sagte mir: Die Erlösung wird nur kommen, wenn ihr Reiseführer es ihnen sagt: „Siehst du diesen Bogen aus der Römerzeit? Er ist nicht wichtig; aber daneben, links und ein bisschen weiter unten, sitzt ein Mann, der Obst und Gemüse für seine Familie gekauft hat.“ („Die Touristen“)
Rolle Israels
Die Perikope beschreibt eine Situation der Eintracht: Alle wollen mit Israel gehen, entweder nach Jerusalem oder eher im metaphorischen Sinne den Weg der göttlichen Lehre gemeinsam gehen, um göttliche Werte in der Welt zu verwirklichen. Dabei wird betont: „denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist“ (V. 23). Wird hier impliziert, dass Gott nur mit Israel ist, oder dass Gott auch mit Israel ist? Was ist der Anlass für diese Erkenntnis? War das zuvor nicht bekannt oder hat man den Juden früher die Fähigkeit oder das Privileg abgesprochen in („einer richtigen“) Beziehung zu Gott zu sein? Wird hier suggeriert, dass die Völker das Judentum annehmen, oder, zutreffender, dass das Judentum zu einer allumfassenden Weltreligion wird und seine ethnische Bindung verliert (eine Art Vernunftreligion nach Baruch Spinoza) oder vielleicht, dass die Völker ihre eigenen Religionen behalten und in der pluralistischen Anerkennung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede leben? Der Abschnitt lässt all diese Fragen offen.
„Es gibt keine Beziehung zum Gott Israels am Volk Israel vorbei.“, resümiert Klaus Wengst im Vorwort zu Sach in der Bibel in gerechter Sprache (S. 1020). Dies ist eine Äußerung, die ich so oder so ähnlich häufig im christlich-jüdischen Gespräch höre. Dabei ist mir oft unverständlich, was „Gott Israels“ im heutigen, nicht religionsgeschichtlichen, Kontext zu bedeuten hat. Als Jude glaube ich an Gott, nicht an eine nationale Gottheit. Ich sehe auch keinen Grund zur Annahme, dass eine Beziehung zu Gott über Juden bzw. das Judentum laufen soll („zehn Männer … ergreifen den Saum eines Judäers“, V. 23). Daher finde ich die Deutung von „Judäer“ im V. 23 heute „als Monotheist“ treffender. In der Vormoderne war die übernatürliche Offenbarung ein universeller Glaube, denn die Autorität einer Lehre hing von ihrer Quelle und den damit verbundenen Ereignissen ab, einschließlich Ort, Zeit und Menschen, denen die Lehre offenbart wurde. In der modernen Welt bewerten Menschen eine Lehre nach ihrem Inhalt und ihrer Rolle im Gesamtprozess der vollständigen Menschwerdung, weshalb die Umstände ihres Ursprungs für den Wert einer bestimmten Lehre nicht wesentlich sind. Daher ist jede Idee, die das Potenzial hat, der menschlichen Vervollkommnung oder Erlösung zu dienen, göttlich. In diesem Sinne (und Mordecai Kaplan[35] folgend), kann man die Definition „Israel“ (oder in unserem Text „Judäer“) erweitern, und zwar auf alle Menschen, die sich mit dem Göttlichen und dem Prozess der Vervollkommnung identifizieren. Da sich jede und jeder mit dem zur Erlösung führenden Prozess identifizieren kann, kann auch jede und jeder zum „Volk Israel“ gehören oder israelähnlich sein. Dabei wird auf die funktionelle Bedeutung von „Israel“ hingewiesen, nicht auf die kulturelle Identität (jüdische Gemeinschaft).