Martin Samuel Cohen
Wir sind was wir nicht essen
Häufig besuchen die höheren Klassen unserer lokalen Oberschulen die Synagoge, an der ich Rabbiner bin. Die erste Frage, die mir fast immer gestellt wird, hat mit den jüdischen Diätgesetzen zu tun. Manchmal kennen die Schüler das Wort "koscher", doch meistens nicht. Aber sie wissen immer, daß Juden keinen Speck mit Eiern essen sollen, und sie wollen wissen warum nicht. (Vergleichsweise bitten mich Mitglieder meiner eigenen Kultgemeinde fast nie darum, die Koschergesetze zu erklären. Diejenigen, die nicht koscher leben, wollen keine Erklärung, um sich nicht schuldig fühlen zu müssen, und jene, die koscher leben, fürchten eine Erklärung, weil sie sich womöglich als zurückgeblieben fühlen könnten.) Wenn ich zu Oberschulklassen spreche und dann um Fragen aus meinem Publikum bitte, ist die erste Frage gewöhnlich, warum Juden keine Schweine mögen.
Ich müßte ja nun eigentlich nach vielen Jahren endlich die richtige Antwort gefunden haben. Ich habe natürlich eine Antwort bereit, die ich gewöhnlich gebe. Doch neuerdings habe ich mich gefragt, ob sie wirklich so ehrlich ist, wie ich es mir wünsche. Oder, um es etwas weniger kritisch auszudrücken, ich weiß zwei Antworten, und ich bin mir nicht mehr so sicher, wie ich es einmal war, welche die rechte ist.
Einerseits meine ich, daß die Diätgesetze nur Teil der biblischen Bemühung sind, die Welt zu ordnen. Die Tora ist schließlich ziemlich stark von der Idee eingenommen, den Schöpfer durch Achtung vor den immateriellen liturgischen Anweisungen der Schöpfung zu ehren. Das meint in weniger ausgefallener Sprache, daß die gläubige Israelitin, der gläubige Isaelit viel Zeit damit verbringt, die Dinge zu trennen, die nicht zusammengehören sollen. Vielleicht geht es dabei um die Einübung der wirklich wichtigen Aufgabe, die Welt in seine auf Gott ausgerichteten und Gott entfremdeten Elemente zu teilen, um sich dann selbst besser an die Domäne halten zu können, die auf Gott ausgerichtet ist. Oder vielleicht geht es nur darum, sich der Schöpfung und damit ihrem Schöpfer gegenüber respektvoll zu verhalten. Wie dem auch sei, die Israeliten und Israelitinnen trennten jedenfalls Milch und Fleisch, Reines vom Unreinen, Heiliges vom Profanen, Gutes vom Bösem, Jüdisches vom Heidnischen, Ungesäuertes vom Gesäuerten, Verzehntetes vom Unverzehnteten, Werktägliches vom Sabbat, Erlaubtes vom Verbotenen und Koscheres vom Nichtkoscheren. Sie waren sehr darum bemüht, die genauen Grenzen des heiligen Landes festzulegen, und die Tora beschäftigt sich nicht weniger mit der Errichtung genauer Grenzen zwischen den Feldern landwirtschaftlicher Nachbarn und ebenso mit der Unterscheidung von Feldfrüchten, die auf dem Land individueller Bauern gepflanzt werden.
In diesem Zusammenhang sind die Diätgesetze nichts anderes als die Bemühung, die Welt in gottähnliche und gottlose Domäne einzuteilen. Die koscheren Tiere sind dann diejenigen, die den Idealen des ursprünglichen Schöpfungsplans entsprechen: die Säugetiere, die ihr Futter wiederkäuen und gespaltene Hufe haben, zum Beispiel, oder aber die Fische mit Flossen und Schuppen. Die Tiere, die nicht direkt in eine der festgelegten Kategorien oder in eine andere fallen: die Kamele, die zwar wiederkäuen aber keine gespaltenen Hufe haben, oder Schweine, deren Hufe zwar gespalten sind, die aber nicht wiederkäuen, beleidigen durch ihre bloße Existenz irgendwie das ganze System. (Trübe nun diesen Gedanken nicht, indem du darauf bestehst, daß Gott die Schweinchen genauso geschaffen hat wie die Lämmchen! Vielleicht geht es ja hier um einen Test, eine Prüfung.) Die Tiere jedenfalls, die außerhalb der ursprünglichen Gattung fallen, sind für uns unrein, nicht koscher, für den Konsum untauglich – nicht etwa geschmacklos oder gar giftig, nur einfach außerhalb der Sphäre zoologischer Vollkommenheit. Die Juden haben also die Aufgabe, ihre Lehnstreue einem vollkommenen Gott gegenüber darin zu bezeugen, daß sie nur essen, was in Gottes Augen vollkommen ist. Der Rest dessen, was man natürlich auch essen könnte – Fledermäuse, Kamele und Aale und Schildkröten und Schnecken – sollen Juden denen überlassen, die noch nicht entdeckt haben, daß der Weg zum Schöpfer über die Schöpfung geht.
Aber das ist nur die eine Seite meines Denkens. Ich glaube sogar, daß diese große Bemühung, die Welt in sich gegenseitig ausschließende, charakteristische Bereiche und Gattungen zu teilen, das richtige Gerüst darstellt, die Diätgesetze, wie sie in der Heiligen Schrift erscheinen, verständlich zu machen. Aber es ist trotzdem nicht das, was sie mir persönlich nahebringt, und ich glaube, daß es den meisten Menschen, die sie befolgen, ähnlich geht. Die biblische Terminologie, nach der Landtiere, Fische, Insekten und Vögel als entweder rein oder unrein bezeichnet werden, ist heute von jüdischen Menschen zugunsten der allgegenwärtigen Bezeichnung von "koscherer" oder "nicht koscherer" Nahrung fast völlig fallengelassen worden. Diese Wörter haben jedoch weder einen Stammbaum noch ein Gütezeichen in der Bibel. (Das Wort "koscher" erscheint in der Bibel nur ein einziges Mal und hat dort nichts mit verbotener Nahrung zu tun.)
Der andere Grund, warum ich die Erklärung, die ich hier geben will, gut finde ist, daß sie auch deutlich macht, warum so viele jüdische Menschen der Befolgung dieser Gesetze mit fast perverser Beharrlichkeit widerstehen.
Das Judentum hat unendlich viele Wege auf ein einziges Ziel hin, nämlich jede Jüdin und jeden Juden zu einer tiefen, geistlichen Gemeinschaft mit dem Gott Israels zu führen. Alle unsere Rituale haben die sie verbindende Tatsache gemeinsam, daß sie entworfen wurden, den Menschen, die sie befolgen, einen bestimmten Aspekt des Glaubens an Gott einzuprägen. Jede Nation kann einen Mythos über die Schöpfung der Welt entwickeln. Das einzigartig Jüdische an der Schöpfungserzählung der Tora ist nicht so sehr die Schöpfung selbst, sondern das, was danach kommt. Wir wiederholen nicht einfach nur die Erzählung, sondern wir leben sie, oder besser: wir leben in ihr. Wir ahmen unser Leben lang ihren "Sechs-plus-eins-Rhythmus" nach. Es funktioniert. Für Jahrhunderte schon arbeiten wir sechs Tage und ruhen am siebenten. So wird die Idee, daß Gott die Welt schuf, Teil unserer selbst, Teil dessen, was wir sind, Teil dessen, wie wir die Welt sehen, in der wir leben. Es mag seltsam anmuten, aber es ist sehr wirksam – und wir halten nicht nur den Sabbat Woche für Woche, sondern auch die anderen Gebote. Und da jedes von ihnen einen je anderen Aspekt des Glaubens an Gott enthält, den wir sorgfältig entwickeln wollen, sind wir ständig bemüht, die vielfältigen Seiten des Glaubens an Gott zu entwickeln, um den es uns geht. Man könnte sagen, daß wir uns in den Glauben wie in einen Kokon einspinnen, der uns schützend umgibt und immer wirksamer unser Leben bestimmt.
Ich denke, daß das Wesentliche an den Diätgesetzen ihre Willkürlichkeit ist. Die Tora will, daß wir uns die Welt als Gottes Zuhause denken und uns selbst als Gäste dieses Hauses. Das Verhältnis zwischen Gastgebern und Gästen folgt auch in unseren Tagen ganz bestimmten Regeln der Etikette und des guten Benehmens, wobei die wichtigste Regel (immer!) ist, daß der Gast die Gastgeber ehrt, indem er oder sie deren Angebote akzeptiert: ihre Wahl der Speisen, ihren Wein, ihre Wahl der anderen Gäste, das Thema ihrer Tischgespräche. In jeder Kultur unterwirft sich der Gast den Regeln der Gastgeber und erzeigt sich dankbar, indem sie oder er annimmt, was zum Essen gereicht wird, ohne darüber zu jammern und zu stöhnen und ohne die Gastgeber zu bitten, doch lieber etwas anderes zu kochen.
Ganz ähnlich ist es mit den Koschergesetzen. Die Tora will, daß wir uns als Gäste in Gottes Haus ansehen und uns entsprechend verhalten. Ein guter Gast akzeptiert die Tatsache (und ignoriert sie sogleich), daß die Wahl der Mahlzeit und aller damit verbundenen Angebote der Gastgeber völlig willkürlich ist. Die Willkürlichkeit ist durchaus keine schlechte Sache. Der ganze Sinn, ein Gast zu sein, liegt ja doch gerade darin, daß man sein Recht zur eigenen Wahl des Essens gegen das Vergnügen eintauscht, jemand anderen dafür einkaufen, bezahlen, kochen, servieren und hinterher abwaschen und aufräumen zu lassen. Gastgeber und Gäste haben in keiner Kultur ein Verhältnis der Gleichberechtigung; das Konzept des Gastes allein schon schließt eine gewisse Unterwürfigkeit und gutmütige Gelassenheit ein, das zu essen was immer sich der Gastgeber für die Mahlzeit ausgedacht hat, auch wenn"s labberiges Zeug ist. Das paßt dir nicht? Pech gehabt. Nicht nur mußt du das Zeug essen, du mußt auch noch darauf bestehen, daß es gut schmeckt (außer vielleicht wenn dir wirklich übel wird) und du solltest eigentlich sogar noch um einen Nachschlag bitten. Der Gast gibt also für den Preis einer kostenlosen Mahlzeit seine eigenen Gefühle aus Ehrerbietung den Gastgebern gegenüber gern auf, akzeptiert die Ungleichheit und läßt die Gastgeber bestimmen.
So also, meine ich, sollten die Diätgesetze verstanden werden, zumindest werden sie so von den meisten Juden und Jüdinnen gedeutet. Diese Welt ist Gottes Haus, und wir alle sind nur Gäste des Hauses. Wenn du das Essen nicht magst, schaffe dir deine eigene Welt und iß darin, was dir gefällt. Aber solange du in dieser Welt lebst, wirst du akzeptieren müssen, was ihr Gastgeber für die Mahlzeit gewählt hat, auch wenn du meinst, daß dir ein Schweinskotelett lieber wäre. Nun ist natürlich nichts verkehrt an einem Schweinskotelett, so wenig wie an anderer nichtkoscherer Nahrung etwas falsch ist. Diese sind nur einfach nicht auf der Speisekarte. Ich rede hier ja nicht von einem Polizeistaat. Der Gedanke des guten Benehmens als Gast beruht ja doch darauf, daß man es nicht zu tun braucht. Der Gast beschränkt sich in seinen Wünschen gern und freiwillig als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber den Gastgebern, selbst wenn er oder sie von Speisekartenplanung mehr versteht als diese.
Ich selbst halte die Diätgesetze gern ein. Natürlich bin auch ich neugierig über Nahrungsmittel, die uns unser Glaube verbietet. Und ich bin gern bereit zuzugeben, daß es eigenartig ist, in Nordamerika zu wohnen und nie bei MacDonald"s oder Burger King zu essen. Aber was kann ich sagen? Ich bin Gast an eines Gastgebers Tisch und ich hoffe, an diesem Tisch noch lange essen zu dürfen. Das ist mir die Mühe wert, meinen Gastgeber nicht zu beleidigen...