Wir sind eure jüngeren Brüder

Vortrag zur Woche der Brüderlichkeit 2002 des Deutschen KoordinierungsRates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Prof. Dr. Rendtorff ist einer der Preisträger der Buber-Rosenzweig Medaille dieses Jahres.

Rolf Rendtorff

Wir sind eure jüngeren Brüder

Das diesjährige Jahresthema [des Deutschen KoordinierungsRates] ist überraschend: „Abel steh auf damit es anders anfängt zwischen uns allen“. Die Dichterin Hilde Domin gibt der Beziehung von Kain und Abel, wie sie uns im Buch Genesis (dem Ersten Buch Mose) geschildert wird, eine neue Wendung – genauer gesagt: Sie führt sie auf ihre Grundstruktur zurück. Die Bibel stellt den Beginn der Geschichte der Menschheit in zwei Schritten dar: Erst schafft Gott selbst ein Menschenpaar; damit sind die Voraussetzungen für die weitere Entwicklung der Menschheit gegeben. Dann verleiht Gott den Menschen die Fähigkeit, sich selbst fortzupflanzen. Dass diese Fähigkeit eine Gabe Gottes an die Menschen ist, bringt Eva zum Ausdruck, als sie nach der ersten Geburt eines Menschen ausruft: „Kaniti - Erworben habe ich mit IHM einen Mann“ (Gen 4,1). Dieser Satz, den ich hier in der Übersetzung Martin Bubers wiedergegeben habe, ist in der Geschichte der Auslegung viel diskutiert worden. Worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist die Aussage, dass Eva dankbar bekennt, dass sie diesen ersten vom Menschen geborenen Menschen „mit IHM“, aufgrund der Gabe und mit der Hilfe Gottes, hervorgebracht hat.

Dann gebiert Eva einen zweiten Menschen, und damit beginnt die Geschichte der Menschheit, und das bedeutet vor allem: die Geschichte der Beziehungen der Menschen zueinander und untereinander. Wir sollten deshalb nicht zu schnell weiterlesen und das ganze Kapitel nur unter dem Thema „Brudermord“ betrachten. Vielmehr sollten wir uns von unserem Jahresthema dazu anleiten lassen, zunächst innezuhalten und darüber nachzudenken, dass Menschsein bedeutet, in Beziehungen zu anderen Menschen zu leben. Kein Mensch ist allein auf der Welt, und darum kann auch keiner sein Leben in dieser Welt ausschließlich nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen gestalten. Unser biblischer Text macht auf sehr knappe und anschauliche Weise klar, dass schon die elementaren Lebensbedürfnisse eine Arbeitsteilung voraussetzen. Seit den Anfängen der Menschheit sind die Bebauung des Ackerbodens und die Züchtung und Pflege von hilfreichen Tieren Grundlagen des menschlichen Lebens. So repräsentieren die Brüder Kain und Abel in ihrem Nebeneinander und Miteinander die Grundformen des menschlichen Lebens auf dieser Erde.

Die Geschichte der Menschheit hätte nun weitergehen sollen im Austausch und in wechselseitiger, brüderlicher Hilfe. Und gewiss ist die Geschichte auch zu Teilen so verlaufen und tut es bis heute. Aber die Bibel führt uns vor allem zu den Punkten in dieser Geschichte, an denen dieses gottgewollte Miteinander gestört worden ist. Die Verfasser der biblischen Texte wissen, dass die Geschichte nicht so verlaufen ist, wie sie nach Gottes Willen zwischen den „mit IHM erworbenen“ Menschen hätte verlaufen sollen. Darauf wollen sie unser Augenmerk vor allem richten, damit wir uns dessen bewusst werden, dass die Feindschaft unter den Menschen, die wir oft als gegeben und unabänderlich hinzunehmen geneigt sind, eben nicht „von Gott gegeben“ ist. Das ist ja das Große an unserer Bibel, dass sie einerseits Gott als den alleinigen Schöpfer der Welt und der Menschheit versteht und vielfältig auslegt, aber andererseits zeigt, dass Gott den Menschen die Freiheit zu eigenen Entscheidungen und zu einer eigenen Gestaltung ihres Zusammenlebens gegeben hat, und sie zeigt – fast möchte man sagen: „schonungslos“ –, dass die Menschen von Anfang an immer wieder einen falschen, ja zerstörerischen Gebrauch von dieser Freiheit gemacht haben.

Unser Jahresthema ruft uns mit den Worten der Dichterin dazu auf, an diesen Ausgangspunkt zurückzukehren, „damit es anders anfängt zwischen uns allen“. Dazu müsste die Ermordung Abels gleichsam rückgängig gemacht werden, diese „erste falsche Antwort auf die einzige Frage, auf die es ankommt“. Abel müsste aufstehen, damit „Kain nicht Kain wird, damit er es sagen kann: Ich bin dein Hüter, Bruder; wie sollte ich nicht dein Hüter sein?“ Aber das kann nicht einmal, sondern es muss täglich geschehen, „damit wir es vor uns haben: täglich muß die Antwort noch vor uns sein.“

Hier tritt das Nachdenken über das, was am Anfang geschehen ist, unmittelbar in unser Leben hinein: „Täglich muß die Antwort noch vor uns sein.“ Das heißt, dass wir täglich selbst die Antwort geben müssen, immer neu. Und wir müssen sie geben im vollen Bewusstsein dessen, was als Folge der falschen Antwort geschehen ist und täglich geschieht. Wenn uns dieses Wort nun als Jahresthema für die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegeben wird, dann ist sofort deutlich, worum es geht. Wir, die Christen, haben jahrhundertelang falsche Antworten gegeben, oft mit tödlichem Ausgang. Darum muss jetzt die richtige Antwort täglich vor uns sein, d.h. sie muss vor unseren Augen sein, sie muss das Ziel sein, auf das unser Denken und Handeln ausgerichtet ist.

Wir haben damit begonnen, nach der richtigen Antwort zu suchen. Viel ist geschehen seit der Gründung der ersten Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vor mehr als fünfzig Jahren. Und es sind die verschiedensten Felder, auf denen die Suche nach der richtigen Antwort sich vollzieht, oft öffentlich, aber vielfach auch im Kleinen, wo es keine große Aufmerksamkeit erregt. Doch wir sind uns nur allzu oft dessen bewusst, dass dies alles erst ein Anfang ist und dass noch viel mehr vor uns liegt.

Mein heutiges Thema scheint auf den ersten Blick nicht ganz zum Jahresthema zu passen. Die Formulierung „Wir sind eure jüngeren Brüder“ tritt aus einem anderen, spezielleren Blickwinkel an die Frage der Beziehungen heran. Der Rahmen des Bildes von Kain und Abel wird verlassen, und damit tritt anstelle des unmittelbaren Verhältnisses von Mensch zu Mensch jetzt das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum in den Blick. Diese Frage hat ihre ganz eigenen Probleme. Aber auch dabei ist sofort wieder die falsche Antwort im Blick. Die ersten Christen waren Juden, Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft, die sich darin von den übrigen Juden unterschieden, dass sie glaubten, der von allen Juden erwartete endzeitliche Heilskönig, der „Messias“, sei in der Person des Jesus aus Nazareth gekommen. Sie wären aber nie auf den Gedanken gekommen, sie seien keine Juden mehr. Im Gegenteil, glaubten sie doch, gerade darin ganz in der Geschichte des jüdischen Volkes zu stehen, dass sie im Unterschied zu den übrigen Juden erkannt hatten, dass das Ziel der Geschichte Gottes mit seinem Volk und mit der Menschheit schon erreicht sei.

Aber dann änderte sich das Bild. Mit dem Erstarken des Christentums in den ersten Jahrhunderten wuchs unter den Christen die Neigung, die falsche Antwort zu geben: zu vergessen, wo sie herkamen, und sich selbst als die allein von Gott Erwählten zu betrachten. Und nun wiederholte sich die Geschichte von Kain und Abel, aber diesmal mit umgekehrten Vorzeichen: Der Jüngere erhob sich gegen den Älteren.

Wenn wir heute nach einem neuen Anfang suchen, dann genügt es nicht, dass wir uns um ein friedliches Nebeneinander von Christen und Juden bemühen. Gewiss, das ist wichtig und ist ein großer Fortschritt gegenüber den falschen Wegen der vergangenen Jahrhunderte. Aber wenn es um eine Neubestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses geht, dann müssen wir neu nach der richtigen Antwort suchen. Das bedeutet aber nicht weniger, als dass wir unser Selbstverständnis als Christen neu definieren müssen. Wenn wir damit wirklich am Anfang der Geschichte des Christentums beginnen, dann bedeutet das, dass wir das Christ-Sein nicht als Gegensatz zum Jude-Sein verstehen können, sondern als aus dem Jude-Sein herausgewachsene Weise, den jüdischen Glauben auch zu den „Völkern“ (die oft „Heiden“ genannt werden) zu bringen. Dabei hat sich dann vieles verändert. Aber es ist entscheidend, dass wir uns der gemeinsamen Wurzeln bewusst bleiben und jede Formulierung unseres Selbstverständnisses von dieser Gemeinsamkeit bestimmt sein lassen.

Man kann dieses neue Selbstverständnis auf verschiedene Weise ausdrücken. Dabei können Bilder oder Metaphern hilfreich sein. Das mir gegebene Thema drückt es in der Umkehrung der Kain-Abel-Beziehung mit der Formulierung aus: „Wir sind eure jüngeren Brüder“. Wenn wir diese Metapher aufnehmen, dann kommt darin die gemeinsame familiäre Herkunft zum Ausdruck, die aber nicht Identität bedeutet. Jeder der Brüder hat seine eigene Familie – und damit seine eigene Geschichte. Und jeder muss die Geschichte des anderen in ihrer jeweiligen Besonderheit kennen und respektieren.

Eine andere (nicht zufällig von einer Frau formulierte) Metapher lautet: „Das heutige Christentum gleicht den Nachkommen einer jüdischen Tochter, die einen heidnischen Mann genommen hat und mit ihm ausgewandert ist.“1 Auch in dieser Metapher wird festgehalten: „Israel bleibt die Mutter und Mutterreligion. Sie zu verleugnen, stellt das eigene Leben in Frage.“ Hier wird durch die Vorstellung von der Auswanderung stärker die Unterscheidung zum Ausdruck gebracht; aber zugleich wird das Bewusstsein des gemeinsamen Ursprungs als lebensnotwendig betont.

Wieder eine andere Metapher verwendet Paulus im Brief an die Römer mit dem Bild des Ölbaums. Die hier angeredeten „Christen aus den Völkern“ (“Heidenchristen“) sind als wilde Ölzweige nachträglich in den Baum eingepflanzt worden; deshalb sollen sie sich nicht gegenüber den anderen Zweigen rühmen, die schon vom Ursprung her zum Baum gehören. Vor allem sollen sie bedenken: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Römer 11,17f.). Das ist ein sehr eindrucksvolles Bild, und diese Mahnung trifft einen zentralen Punkt christlichen Selbstverständnisses, wie es sich offenbar schon damals unter den Christen in Rom, die überwiegend „Heidenchristen“ waren, anzubahnen begann. Nicht nur halten sich manche Christen für überlegen gegenüber den Juden, sondern sie vergessen überhaupt, wo ihre Wurzeln liegen. Dieses Bild drückt beides aus: die Verwurzelung des Christentums im Judentum und die Vorordnung der älteren Zweige gegenüber den jüngeren. Und es mahnt dazu, beides nicht zu vergessen, sondern vielmehr das eigene Selbstverständnis von daher zu bestimmen.

Der bekannte katholische Alttestamentler Norbert Lohfink hat vor einigen Jahren ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Das Jüdische am Christentum.“2 Das ist es, was wir wiederentdecken müssen! Lohfink nennt sein Buch im Untertitel „Die verlorene Dimension“. Die jüdische Dimension im christlichen Glauben ist uns verloren gegangen. Wir müssen sie wiedergewinnen. Dabei muss man zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff des „Jüdischen“ unterscheiden. Im weiteren Sinn bezeichnet der Begriff zuerst und vor allem die „Schrift“, die schon immer die Heilige Schrift des jüdischen Volkes war und es bis heute ist, die dann aber auch zum ersten Teil der christlichen Bibel geworden ist, den wir das „Alte Testament“ nennen. In diesem ersten Teil unserer Bibel begegnet uns das „Jüdische“, das auf vielfältige Weise Bestandteil unserer christlichen Glaubenstradition geworden ist. Dafür müssen wir wieder unsere Augen öffnen, ohne dieses Jüdische schon im Vorhinein mit von außen herangetragenen „christlichen“ Kategorien zu überdecken. Wir müssen es bewusst und dankbar als ein wesentliches Grundelement unseres christlichen Glaubens erkennen und annehmen.

In einem spezielleren Sinn bezeichnet „Judentum“ die jüdische Gemeinschaft, wie sie sich nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 unserer Zeitrechnung entwickelt hat. Damals hatte das jüdische Volk seinen religiösen Mittelpunkt und dann auch weithin sein Land verloren und bildete seine Identität vor allem um die Bibel, den Tanach, und seine Auslegung, die im Laufe der Zeit ganze Bibliotheken füllte. Dieses Judentum im speziellen Sinn ist die ganz eigene Tradition der „älteren“ Brüder und Schwestern. Wir Jüngeren müssen wieder lernen, diese jüdische Tradition zu respektieren. Dafür ist es gut und nötig, dass wir sie jedenfalls ein Stück weit kennen lernen. Auch dies hat heute unter Christen begonnen.

Die Woche der Brüderlichkeit ruft schon in ihrem Titel das wechselseitige Verständnis ins Bewusstsein, wie es sich unter uns im Laufe der Jahrzehnte herausgebildet hat. Vor allem muss sie aber immer wieder ein Aufruf dazu sein, den Kreis derer zu erweitern, die sich in diesen Fragen engagieren, und das Verständnis für einander zu vertiefen. Für uns Christen geht es dabei um die doppelte Aufgabe, das „Jüdische am Christentum“ besser verstehen zu lernen und als die Jüngeren den Weg der Älteren kennen zu lernen und zu respektieren.

    • Marlene Crüsemann: Ist das Christentum eine jüdische Sekte?, in: F. Crüsemann/U. Theissmann (Hg.): Ich glaube an den Gott Israels. Fragen und Antworten zu einem Thema, das im christlichen Glaubensbekenntnis fehlt, Gütersloh 1999, 103-107, Zitat 106.
    • Freiburg 1987

Editorische Anmerkungen

Quelle: Deutscher KoordinierungsRat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR).