"Wir haben Weisheit dann am nötigsten, wenn wir am wenigsten an sie glauben".

Wenngleich Jonas' Werk nicht ohne weiteres als "jüdische Philosophie" definiert werden kann, so ist seine Philosophie dennoch ohne die ihr innewohnende Dimension des Jüdischen nicht angemessen zu verstehen. Wiese unternimmt den Versuch, die Spuren jüdischer Elemente in Jonas' Denken aufzuspüren.

"Wir haben Weisheit dann am nötigsten, wenn wir am wenigsten an sie glauben"

Hans Jonas’ Interpretation des Beitrags des Judentums zu einer Ethik der Verantwortung im technologischen Zeitalter

 

Am 10. Mai 2003 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag des Philosophen Hans Jonas, dessen dramatische Biografie – Flucht vor den Nazis 1933 nach Palästina, Teilnahme am Zweiten Weltkrieg als Soldat der Britischen Armee, Emigration in die Vereinigten Staaten nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1949 – Teil des Schicksals des deutschen Judentums ist und dessen vielgestaltiges philosophisches Werk zu den bedeutendsten intellektuellen Zeugnissen des 20. Jahrhunderts zählt.1 So gewiss man Jonas’ Werk nicht ohne weiteres als "jüdische Philosophie" in Anspruch nehmen kann, da er selbst stets betonte, in erster Linie keiner religiösen Bindung, sondern der Vernunft verpflichtet zu sein, so unverkennbar ist seine Philosophie letztlich ohne die ihr innewohnende Dimension des Jüdischen nicht angemessen zu verstehen.2 Und so lohnt es sich, den Spuren jüdischer Elemente nachzugehen, die sich durch seinen Denkweg weg von Heideggers Existenzialismus über eine naturalistische Philosophie des Lebens bis hin zu einer wirkmächtigen Ethik globaler ökologischer Verantwortung und zuletzt zu einer Deutung der conditio humana nach Auschwitz hindurchziehen: In ethischer Hinsicht konzentriert sich dieses Element, um es vorwegzunehmen, auf das die "Heiligkeit des Lebens" zur Sprache bringende liturgische Gottesprädikat rozeh ba-chajim – "der das Leben wollende Gott"3 –, dem auf menschlicher Seite die Freiheit und Verantwortung des Geschöpfs entspricht, dem "gesagt ist, was gut ist" – die Würde und Unversehrtheit jeglichen Lebens.

"Weiterwohnlichkeit der Welt" – Ethik der Verantwortung und jüdische Schöpfungslehre

"Einst war es die Religion, die uns mit dem jüngsten Gericht am Ende der Tage drohte. Heute ist es unser gemarterter Planet, der das Kommen eines solchen Tages vorhersagt, ohne irgendwelches himmlisches Eingreifen. Die jüngste Offenbarung – von keinem Berge Sinai, auch nicht von dem der Bergpredigt, und von keinem heiligen Feigenbaum des Buddha – ist der Aufschrei der stummen Dinge selbst und bedeutet, dass wir uns zusammentun müssen, um unsere die Schöpfung überwältigenden Kräfte in die Schranken zu weisen, damit wir nicht gemeinsam zugrunde gehen auf dem Ödland, das einst die Schöpfung war."4

In diesen letzten öffentlichen Worten vor seinem Tode formulierte Hans Jonas, der wie wenige Denker des vergangenen Jahrhunderts die Erkenntnis zur Sprache gebracht hat, wie gefährdet das Dasein des Menschen aufgrund seiner langfristig wirksamen technologischen Eingriffe in das System des Lebens auf dem Planeten Erde ist, 1993 in einer Rede im italienischen Udine gleichsam sein philosophisches Vermächtnis – ein leidenschaftliches Plädoyer für die menschliche Verantwortung für das, was er hier theologisch die "Schöpfung" nennt. Als zentrales Element jüdischer Tradition, das in Jonas’ Werk immer wieder zum Tragen kommt, gehört das Motiv der "Schöpfung" – mitsamt dem impliziten ethischen Anspruch der dem "Geschöpf" Mensch aufgetragenen Achtung vor ihrer Integrität – zu den entscheidenden Elementen seines Denkens. Jonas versteht dieses Überlieferungselement, welches das Christentum dank des ihm im Kern zu Grunde liegenden Jüdischen aufgenommen und in die westliche Philosophie hinein verlängert habe, als wertvollstes Erbe des Judentums für die Epoche der technologisch-ökologischen Krise.

Dabei scheint die theologische Sprache seines Vermächtnisses zunächst in einem schwer verständlichen Gegensatz zu der Argumentation zu stehen, mit der in seinem bedeutenden Werk "Das Prinzip Verantwortung" (1979) Sinn und Begründung der traditionellen Ethik angesichts der Verletzlichkeit einer Weltgesellschaft, die durch ihr Handeln die Lebensbedingungen künftiger Generationen, ja die Existenz von Leben überhaupt unwiderruflich zu schädigen oder zu zerstören vermag, tief greifend revidieren wollte. Sein Versuch einer "Ethik für die technologische Zivilisation", die auf die Erkenntnis der kollektiven Verantwortung für die langfristigen Zukunftsfolgen gegenwärtigen gesellschaftlichen Handelns zielt, verlangt – verdichtet in dem kategorischen Imperativ: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde" – eine "Heuristik der Furcht", die dazu befähigen soll, sich das nicht unmittelbar erfahrbare "Unheil kommender Geschlechter" auszumalen und der verhängnisvollen Euphorie des faustischen Traums Strategien der Demut, des Verzichts, der Selbstbegrenzung und der Ehrfurcht vor dem Leben zu entwickeln, um der ungebremsten Ausbeutung und Verwüstung der Erde durch die Menschen entgegenzuwirken.5 Ein auffälliger Zug der Ethik der Verantwortung besteht dabei darin, dass ihr Verfasser, obwohl es ihm selbst fraglich erscheint, "ob wir ohne Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründlichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen",6 den Weg einer logisch-vernünftigen Zukunftsethik unter bewusstem Verzicht auf theologische Begründungszusammenhänge einschlägt.

Wollte Jonas damit angesichts des schwindenden Vertrauens in die Selbstevidenz und ethische Relevanz des Religiösen eine universal plausible Ethik für die Weltgesellschaft formulieren, so ist nicht zu übersehen, dass er Perspektiven seines ethischen Denkens ursprünglich auch in jüdischen Kontexten – in Vorträgen vor Rabbinern oder jüdischen Gemeinden in den USA – entfaltete und dort gerade auch Elemente der jüdischen Tradition aufgriff, namentlich das Motiv der Geschöpflichkeit allen Lebens. Am eindrucksvollsten ist dies in einem Vortrag aus dem Jahre 1970 greifbar, der erst 1994 unter dem Titel "Aktuelle ethische Probleme aus jüdischer Sicht" in deutscher Sprache erschienen ist.7 Jonas’ Unterfangen, die ethischen Aporien der technologischen Zivilisation aus jüdischer Perspektive zu beleuchten, geht von einer grundlegenden Kritik des "Glaubens" eines auf der Bestreitung der Idee der Geschöpflichkeit der Welt beruhenden pseudo-wissenschaftlichen Welt- und Menschenbildes aus. Durch die Entzauberung der Welt mittels einer modernen Wissenschaft, die keinen Raum für die Ehrfurcht vor dem kosmischen Mysterium lasse ("Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, die Himmelsfeste verkündet das Werk seiner Hände" (Ps 19,2) – an seine Stelle trat das darwinistische "Seid erfolgreich im Kampf ums Dasein"), sei ein metaphysisches Vakuum entstanden, dem die moderne philosophische Ethik nichts entgegenzusetzen habe. An die Stelle der biblischen Lehre der Tora und ihrer transzendenten Autorität sei in der Moderne der ethische Relativismus getreten: "»Er hat dir gesagt, o Mensch, was gut ist«: das bedeutet, daß es ein gültiges Gutes für den Menschen gibt, daß ihm seine Wißbarkeit garantiert ist – sei es durch Offenbarung, sei es durch Vernunft. Genau das aber wird jetzt verneint. (…) Anstelle des Absoluten gibt es nur das Relative in der Ethik, anstelle des Universalen nur das sozial Partikulare, anstelle des Objektiven nur das Subjektive; und schließlich anstelle des Unbedingten nur das Bedingte, das Konventionelle und natürlich das Bequeme."8

Vor allem die Bestreitung der grundlegenden anthropologischen Aussage der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, einschließlich des Verlustes der ethischen Konsequenz einer transzendenten Verantwortung ("Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig" – Lev 19,2), führt aus Jonas’ Sicht dazu, dass der seiner metaphysischen Würde entkleidete moderne Mensch dem Zwiespalt zwischen der maßlosen Macht seiner Handlungsmöglichkeiten und einer fundamentalen ethischen Orientierungslosigkeit, zuletzt aber auch der Schutzlosigkeit einer Existenz in einem moralisch indifferenten Kosmos rettungslos ausgeliefert ist. Die Verbindung der "Erbärmlichkeit" des Menschen, der jegliche Spur einer Ehrfurcht vor der Natur verloren habe, mit der technologischen Macht, die Ehrfurcht und Scheu vernichte und dem Menschen das Empfinden gebe, als Schöpfer und "Macher neuer Welten" in Gottes Fußspuren getreten zu sein, stelle die wichtigste philosophische Herausforderung der Gegenwart dar – "und das Judentum kann und darf dazu nicht schweigen".9 Aus Jonas’ Sicht war es legitim, sich dem eigenen religiösen Erbe zuzuwenden und sich im Widerspruch gegen die rein naturwissenschaftliche Welterklärung auf das von der bloßen Vernunfterklärung unwiderlegbare, im Wissen um die Grenzen der Erkenntnis glaubend angenommene mythische Konzept einzulassen, wonach der unvollkommene, sterbliche Mensch "im Bilde Gottes" geschaffen sei. Ausdrücklich bejahte er den Wert der jüdischen Tradition als Widerspruch gegen den Nihilismus – "nicht in dem Sinne, dass man alle ihre Aussagen als absolut und für alle Zeit bindend betrachten muss, doch – allgemein gesprochen – kann uns das Judentum, so wie es dazu beiträgt, das Gefühl der Ehrfurcht vor der Natur und des tiefsten Wesens unserer selbst wiederzugewinnen, helfen, eine neue Ehrfurcht und Demut gegenüber der Tradition zu entwickeln".10 Erscheint der Nihilismus als Ausdruck des von der Tradition entfernten Menschen, der das Hören auf den im Bild des "Bundes" erfassten Dialog zwischen Gott und Mensch verlernt hat, so kann die jüdische Überlieferung Juden, gleichgültig ob liberal oder konservativ, lehren, mit Stolz zur Geltung zu bringen, dass "das Judentum Grenzen auferlegt", und der Ausbeutung der Erde wie der unbegrenzten Nutzung technologischer Macht den Respekt vor Geheimnis, Integrität, Freiheit und Würde allen Lebens entgegenzusetzen. Das Festhalten an der jüdischen Tradition bewahrt davor, die scheinbar archaischen biblischen Anschauungen preiszugeben, und könnte dem im verhängnisvollen Zusammenspiel von Selbstvergöttlichung und Selbstverachtung gefangenen Menschen mit der jüdischen "Weisheit" der Geschöpflichkeit zugleich seine Würde zurückgeben. In seinen späteren medizinethischen Konkretionen warnte Jonas vor allem vor der unkontrollierten Gentechnik, die ihm "das Bild der Schöpfung selbst, einschließlich des Menschen" auf dramatische Weise zu gefährden schien: "Der ältere und tröstliche Glaube, daß die menschliche Natur sich gleich bleibt und daß Gottes Ebenbildlichkeit in ihr sie verteidigen wird gegen alle menschlichen Anstrengungen, sie zu »entmenschlichen«, wird unwahr, wenn wir diese Natur genetisch-technisch in den Griff bekommen und selbst zu Zauberern (oder Zauberlehrlingen) werden, die die Zukunftsrasse von Golems herstellen."11 Vehement setzte er dem utopischen "Jonglieren mit den Genen" die Einsicht in die Würde des Menschen in seiner Verletzlichkeit und Sterblichkeit entgegen – des Menschen, der, wie er in früheren Reflexionen festhielt, "paradox, labil, unsicher, gefährdet, endlich und tief verschwistert dem Tode",12 aber gerade darin Gott ebenbildlich ist – und berief sich dabei auf diese uralte, schlichte jüdische Überlieferung und hielt sie dem technologischen Wahn der modernen Gesellschaft entgegen: "Wir haben Weisheit dann am nötigsten, wenn wir am wenigsten daran glauben."13

Nach Auschwitz – Von des Menschen Verantwortung für das "Weltabenteuer Gottes"

Jonas’ philosophische Reflexion über die ethische Relevanz jüdischer Überlieferung und jüdischer existenzieller Erfahrung gewann zuletzt dort ihre größte Eindringlichkeit, wo er sein denkerisches Bemühen um die Frage nach Gott und der Geschöpflichkeit des Lebens nicht nur vor der neuzeitlichen Infragestellung aller Metaphysik, sondern zugleich vor der Erfahrung der Schoa zu verantworten versuchte. In der vielstimmigen theologischen und religionsphilosophischen Diskussion über das Verständnis des jüdischen Glaubens nach Auschwitz bringt sein 1984 publizierter Essay "Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme" das Anliegen zur Geltung, die Theodizeefrage, das Leiden am Schweigen Gottes angesichts der Vernichtung seines erwählten Volkes, radikal in die Frage nach der Rechtfertigung des von Gott zur Freiheit geschaffenen Menschen zu verwandeln und ein Gottesbild zu entwerfen, das den Glauben an die Güte des Schöpfers als nach wie vor gültige Denkmöglichkeit erweist, ohne die Realität des Bösen wegzudeuten. Jonas glaubte es den "Schatten" der Ermordeten, darunter seiner Mutter, die in Auschwitz umgebracht wurde, "schuldig zu sein, ihnen so etwas wie eine Antwort auf ihren längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott nicht zu versagen".14 Alle traditionellen jüdischen Antworten auf die Hiobsfrage schienen ihm, ebenso wie das Verständnis Gottes als des Herrn der Geschichte, endgültig zerbrochen. Angeregt von der lurianischen Kabbala und ihrer Vorstellung von der Selbstkontraktion Gottes (Zimzum), die überhaupt erst Raum für eine Schöpfung schafft, entfaltete Jonas in einem selbst erdachten Mythos einen Prozess der Theo- und Kosmogonie, in dem sich Gott ganz in sich selbst zurückzieht, seine Allmacht preisgibt und die Welt, aber auch das Schicksal seiner eigenen werdenden, von Glück und Leid des Lebens zutiefst betroffenen Gottheit dem Handeln des mit Freiheit und Verantwortung beschenkten Menschen überlässt und die Geschichte "mit angehaltenem Atem, hoffend und werbend, mit Freude und Trauer" begleitet – bis hin nach Auschwitz, wo seine totale Ohnmacht sein Schweigen begründet.15

Jonas verstand seinen Mythos vom ohnmächtigen, leidenden, seine Unverletzlichkeit preisgebenden Gott als "ein Stück unverhüllt spekulativer Theologie", als "Gestammel",16 als einen tastenden Versuch, angesichts der vollendeten Sinn- und Trostlosigkeit der Schoa die Vorstellung eines gerechten, sich sorgenden Gottes zu bewahren. Der innere Zusammenhang dieses theologischen Ringens Hans Jonas’ mit seiner philosophischen Ethik wird sichtbar, wenn man bedenkt, dass der Mythos ursprünglich im Kontext seiner antinihilistischen Reflexionen über die Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens entstand, konkret in der Schrift "Unsterblichkeit und heutige Existenz" (1963), in der er die Funktion einer bildhaften Begründung eines ethischen Weltverhältnisses erfüllte. In diesem Essay trat Jonas ins Gespräch mit Symbolen aus der jüdischen Überlieferung, um erstmals die Verantwortung des Menschen nicht nur für die Erde, sondern auch für ihren Schöpfer zu begründen. Die in der Symbolik der Hohen Feiertage verwurzelte Vorstellung vom "Buch des Lebens", in dem die Namen der Menschen und ihre Taten verzeichnet werden, erfuhr eine Umdeutung im Sinne einer "Unsterblichkeit der Taten", die den Gedanken der über das individuelle sterbliche Leben hinausgreifenden transzendenten Bedeutung menschlichen Handelns auszusagen half. Aus der Gedankenwelt der antiken Gnosis stammt dagegen das Gleichnis von dem "Bild" der Gottheit, "das Zug um Zug aus unserm zeitlichen Tun ersteht" – gleichsam eine Umkehrung der Gottesebenbildlichkeit, die es Jonas erlaubte, seine Spekulation über ein unsterbliches göttliches Wesen zu entfalten, das sich im Prozess der Evolution an die "Dunkelheit und Gefahr des Werdens" des stofflichen Universums ausliefert. Im zeitlichen Geschehen der Welt tritt Gottes Antlitz langsam hervor, "wie seine Züge eingezeichnet werden von den Freuden und Leiden, den Siegen und Niederlagen des Göttlichen in den Erfahrungen der Zeit (…) Nicht die Handelnden, die stets vergehen, sondern ihre Handlungen gehen ein in die werdende Gottheit und formen unauslöschlich ihr nimmer entschiedenes Bild." Ähnlich wie das Symbol des "Buches des Lebens" bringt diese Vorstellung – gegen nihilistische Weltverneinung und ethische Indifferenz – die Verantwortung des Menschen nicht allein für das kreatürliche Leben, sondern auch für das Schicksal der Gottheit zur Geltung, dessen Antlitz durch menschliches Unrecht entstellt wird. Angesichts der Erniedrigten und Ermordeten von Auschwitz, vor allem der vergasten und verbrannten Kinder, "die sich niemals in das Buch des Lebens eintragen konnten", dachte Jonas bereits 20 Jahre vor "Der Gottesbegriff nach Auschwitz" über die transzendente Wirkung der Schoa nach – in der Hoffnung, dass das Leid der Opfer nicht einfach vergessen sei ("Und dies möchte ich glauben: dass Weinen war in den Höhen über die Verwüstung und Entweihung des Menschenbildes; dass ein Stöhnen dem aufsteigenden Schrei unedlen Leides antwortete – und Zorn dem entsetzlichen Unrecht, das an der Wirklichkeit und Möglichkeit jedes so frevelhaft hingeopferten Lebens begangen wurde"), verbunden mit der Mahnung, dass seither "die Ewigkeit finster auf uns niederblickt, selbst verwundet und verstört in den Tiefen", und es die Pflicht der Menschheit sei, durch ethische Anstrengung und Ehrfurcht vor dem Leben den Schatten zu überwinden, der über ihr und über Gottes Antlitz liege.17

Jonas’ "bekenntnishaft-ketzerisches" Nachdenken über die Bedeutung der Schoa für das Gottesverständnis der Gegenwart stellt einen eindrucksvollen Versuch dar, an der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz festzuhalten, ohne sich theologisch über die Erschütterung jeglicher Gottesrede durch dieses singuläre Verbrechen hinwegzusetzen, vielmehr in dem Bemühen, den vernünftig-praktischen Sinn des Nachdenkens über Gott angesichts einer bedrohten Welt zur Sprache zu bringen. Entscheidend ist, dass seine ethisch-philosophische Deutung der Herausforderungen der Gegenwart, inspiriert von einem in der jüdischen Tradition wurzelnden Glauben an die Geschöpflichkeit und Heiligkeit des Lebens, nicht isoliert von seiner existenziell-intellektuellen Auseinandersetzung mit dem in Auschwitz offenbarten Abgrund an Inhumanität und von seiner Überzeugung der transzendenten Verantwortung des Menschen zu verstehen ist. Noch in seiner letzten Rede 1993 in Udine erinnerte Jonas daran, dass sich in dem mit Blick auf die Zukunft von Menschlichkeit und Toleranz so überaus trügerischen 20. Jahrhundert "in einem der Herzländer unserer gerühmten Kultur" jene "höllische Offenbarung" ereignete, die mehr als alles Frühere "den Titel des Menschen als Ebenbild Gottes in Frage stellt" – Zeichen dafür, dass der Philosoph bis zum Ende von dem Geschehen von Auschwitz in Atem gehalten wurde und darin die fundamentale ethische Verantwortung erblickte, weit über seine eigene Lebenszeit hinaus alle Kräfte der Moralerziehung und Wachsamkeit gegen "diese kaum jemals schlafende Bestie" der Inhumanität zu mobilisieren.18 Dass mit der Existenz und humanen Gestaltung der Welt wie des menschlichen Lebens in einer Zeit der Genozide und der technologischen Selbstzerstörungskraft auch "Gottes Bild" in Gefahr sei, erweist sich als geheimes Leitmotiv der metaphysischen Spekulationen, die Jonas’ philosophisch-ethischem Entwurf mit ihrer bildhaft-beschwörenden Sprache eine so bezwingende Kraft verleihen. Sie zielen letztlich darauf, seinen leidenschaftlichen Widerspruch gegen die diagnostizierte verantwortungslose Entwertung des Lebens und gegen jeglichen Fatalismus zur Sprache zu bringen, den er als Verrat an der in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen implizierten Verantwortung für das "Weltabenteuer Gottes" verstand:

"Daß hierbei, zusammen mit der zeitlichen, auch eine ewige Sache auf dem Spiel steht – dieser Aspekt unserer Verantwortung kann uns Schutz sein vor der Versuchung fatalistischer Apathie und vor dem schlimmeren Verrat des »Nach uns die Sintflut«. In unsern unsicheren Händen halten wir buchstäblich die Zukunft des göttlichen Abenteuers auf Erden, und wir dürfen Ihn nicht im Stiche lassen, selbst wenn wir uns im Stiche lassen wollten."19

Der Philosophie schrieb Jonas am Ende seines Lebens die Aufgabe zu, unbeirrt von allen berechtigten Zweifeln und pessimistischen Anfechtungen an ihrer Wirksamkeit auf die Fähigkeit der Vernunft zu vertrauen, sich in verantwortungsvoller Selbstbegrenzung dem Verhängnis ihrer eigenen Machtentfaltung zu stellen: "Das kommende Jahrhundert hat darauf ein Recht!"20 Die von den Brüchen des vergangenen Jahrhunderts bestimmte eigenwillige, nicht selten irritierend unorthodoxe Form des Zwiegesprächs von jüdischer Tradition und philosophischer Suche in Jonas’ gesamtem Werk zeugt dabei nicht von einer rein privaten Bindung an eine im Grunde irrelevante religiöse Überlieferung, sondern davon, dass er dem Judentum die theologische und ethische Kraft zutraute, in einer Zeit höchster Gefährdung die Würde menschlicher Existenz bewahren zu helfen – als "Weisheit" von verdanktem Leben, als Kraftquelle gegen die Anfechtung nihilistischer Verzweiflung, als symbolische Verdichtung zentraler Einsichten für das Überleben der "Schöpfung", als Widerspruch gegen Unmenschlichkeit und als Erinnerung an die Verantwortung, so zu leben, dass es Gott nicht "um das Werdenlassen der Welt gereuen muss."21

  1. Vgl. jetzt H. Jonas, Erinnerungen, hg. v. C. Wiese, Frankfurt/Main 2003.
  2. Als Gesamtinterpretation vgl. C. Wiese, "»Daß man zusammen Philosoph und Jude ist ...«. Zur Dimension des Jüdischen in Hans Jonas’ philosophischer Ethik der Bewahrung der »Schöpfung"«, in: J. Valentin/S. Wendel (Hg.), Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2000, S. 131-147.
  3. H. Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, Frankfurt/Main 1988, S. 57.
  4. Ders., "Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung", in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft, München 1994, S. 19-29, Zitat S. S. 25.
  5. Ders., Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für das technologische Zeitalter, Frankfurt/Main +++41983, S. 36 und S. 63ff.
  6. Ebd., S. 57.
  7. Ders., "Contemporary Problems in Ethics from a Jewish Perspective", in: D. J. Silver (Hg.): CCAR Journal Anthology on Judaism and Ethics, New York 1970, S. 31-48; ders., "Aktuelle ethische Probleme aus jüdischer Sicht", in: Scheidewege 24 (1994/95), S. 3-15.
  8. Ebd., S. 7.
  9. Ebd., S. 8.
  10. Ders., "Contemporary Problems", S. 37.
  11. Ders., "Aktuelle ethische Probleme", S. 14f.
  12. Ders., Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt/Main 1994, S. 21.
  13. Ders., "Aktuelle ethische Probleme", S. 15.
  14. Ders., Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt/Main 1987, S. 7.
  15. Ders., ebd., S. 23.
  16. Ebd., S. 7 und S. 48.
  17. Ders., "Unsterblichkeit und heutige Existenz", in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, S. 44-62, Zitate S. 53ff. und S. 59.
  18. Ders., "Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung", S. 24.
  19. Ders., "Unsterblichkeit und heutige Existenz", S. 62.
  20. Ders, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts, Frankfurt/Main +++21993, S. 42f.
  21. Ders., "Unsterblichkeit und heutige Existenz", S. 60.

Editorische Anmerkungen

Vorliegender Beitrag entstammt dem Themenheft 2003 "Uns ist gesagt, was gut ist" des Deutschen KoordinierungsRates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR)