Wie der Jüdisch-Christliche Dialog nicht geführt werden soll

Levenson setzt sich kritisch mit der jüdischen Erklärung 'Dabru Emet' auseinander und warnt davor, ob der festgestellten Gemeinsamkeiten die theologischen Unterschiede und historischen Verwerfungen zwischen beiden Religionen herunterzuspielen.

Wie der Jüdisch-Christliche Dialog

nicht geführt werden soll

Eine der bemerkenswertesten kulturellen Entwicklungen im vergangenen halben Jahrhundert war das Aufkommen des interreligiösen Dialogs. Mitglieder religiöser Gemeinschaften, die grundsätzlich seit langem vermieden hatten miteinander zu sprechen, stehen jetzt in regelmäßigen Gesprächen, die von gegenseitiger Achtung getragen sind, und diese Gespräche schließen nicht selten genau die theologischen Unterschiede mit ein, die lange Zeit einen Kontakt ausgeschlossen hatten.

Zu den vielen positiven Folgen dieses Austausches gehört ein dramatischer Wandel in der christlichen Lehre über das Judentum. Die klassische Sicht, die ihre Wurzeln im Neuen Testament hat, stellte das Judentum bestenfalls als Vorbereitung auf die volle und endgültige Wahrheit des christlichen Evangeliums dar. Danach sind die Juden durch das Töten ihres eigenen Messias zu Feinden Gottes geworden und wurden entsprechend von Geschlecht zu Geschlecht bestraft; denn nach dem Matthäusevangelium schreit die jüdische Menge zu Pontius Pilatus, dem römischen Statthalter: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder.“

Nach diesem christlichen Verständnis bedeutete das für die Juden nicht nur den Verlust der Gnade Gottes - und damit das Aufkommen eines neuen erwählten Volkes, vertreten durch die Kirche -, sondern auch die Zerstörung des Tempels in Jerusalem und die Vertreibung aus ihrem verheißenen Land. Nicht dass die Juden selbst umgebracht werden sollten: im Gegenteil, spätestens seit der Zeit Augustins, zu Beginn des 5. Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung, wurde die Fortexistenz der erniedrigten Juden als Beweis für die Wahrheit des Christentums angesehen.. „Die Juden, gegen die das Blut Jesu Christi schreit“, schrieb Papst Innozenz III. im Jahre 1208, „sollen nicht umgebracht werden, damit das Christenvolk das göttliche Gesetz nicht vergisst“, sondern „sie sollen als Wanderer auf Erden bleiben, bis ihr Antlitz voller Scham wird.“

Nach klassischer christlicher Sicht musste das Judentum überflüssig werden. Juden, der Bedeutung ihrer eigenen Bräuche verlustig, würden auf Kosten eines echten Glaubens fruchtlos an äußeren Riten hängen. Ihr Heil würden sie in ihren eigenen Werken suchen statt im Geheimnis göttlicher Gnade. So würden Juden immer tiefer in kleinliche Gesetzlichkeiten verwickelt und die Möglichkeit verfehlen, näher zu Gott zu kommen, der seinen einzig geborenen Sohn für ihre Rettung und für die Rettung der Welt gesandt hat.

Die Wechselwirkung zwischen diesen theologischen Lehren und der christlichen Behandlung der Juden durch die Jahrhunderte ist sehr komplex. Auf der einen Seite hat sich die Kirche im allgemeinen gegen Gewalt an Juden gewendet. Auf der anderen Seite hatten die fortgesetzten Beschuldigungen, Anklagen und Diffamierungen ihren Preis, oft mit Blut bezahlt.

Ein schreckliches Beispiel für die Verbindung von Theologie und Hetze findet sich in Martin Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“(1543):

„Erstlich, dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und was nicht verbrennen will mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren...

Zum andern, dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. Denn sie treiben darin die selben Dinge, die sie in den Synagogen tun. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner...“

Gewiss besteht ein Unterschied zwischen dem, was Martin Luther empfahl und dem, was seine Landsleute vierhundert Jahre später unter Hitler in die Tat umsetzten. Während den protestantischen Reformator die traditionelle christliche Theologie beseelte, wurden die Nazis vom modernen Rassismus motiviert: Sie waren nicht auf Bekehrung der Juden bedacht, sondern auf ihre unterschiedslose Vernichtung und dabei waren die Glaubensüberzeugungen der künftigen Opfer irrelevant. Trotzdem überfordert es geschichtliches Vorstellungsvermögen zu behaupten, dass fast zweitausend Jahre christlicher Verteufelung des Judentums und der Juden als Fundament der Endlösung gar keine Rolle gespielt haben sollten.

Nach dem Holocaust haben viele christliche Gruppen, katholische wie protestantische, begonnen, die „Lehre der Verachtung“ (wie sie der französische Historiker Jules Isaak nennt), die lange Zeit ihr Denken über die Juden beherrschte, grundlegend zu überprüfen. Oft taten sie es indessen mit Hilfe jüdischer Gesprächspartner. Das Ergebnis war eine Reihe von Erklärungen, die die klassische Theologie umkehrten oder wenigstens ernsthaft begrenzten. In den meisten Fällen haben diese Erklärungen die enge Zusammengehörigkeit von Judentum und Christentum und die Dankesschuld der Kirche gegenüber dem Judentum (besonders für die Schriften, die sie von den Juden empfangen hat) sowie die fortdauernde Gültigkeit der älteren Überlieferung anerkannt. In einigen Fällen wurden Schulderklärungen für die lange Geschichte anti-jüdischer Verfolgung, den Holocaust eingeschlossen, vorgetragen. Besonders bewegend waren die Bilder und Äußerungen Papst Johannes Paul II. - Nachfolger Innozenz III. und einer langen Reihe von Juden-Verächtern - bei dem Besuch der Großen Synagoge in Rom und dem Gebet an der Klagemauer in Jerusalem unter israelischer Oberhoheit.

Jüdische Reaktionen auf den Wandel

Wie wurde diese Veränderung im christlichen Verhalten von Juden aufgenommen? Als eine politische und kulturelle Geste, unnötig zu erwähnen, wurde sie herzlich begrüßt, wenn auch mit gelegentlichen Anzeichen von Misstrauen. Doch was längere Zeit brauchte - und was viele Christen nach einer schmerzlichen Besinnung auf die eigene Überlieferung mit äußerster Spannung erwarteten - ist eine gründliche geschichtliche und theologische Antwort. Werden die Äußerungen des Bedauerns der Christen angenommen oder denken Juden, dass das Christentum von seinem Wesen her zu antisemitischer Verfolgung führt? Werden Juden anerkennen, dass die beiden Gemeinschaften Mitglieder derselben unfassenderen geistlichen Gruppierung sind oder sehen sie Christen als eine fremde Gruppe, die ihnen in Glauben und Tun nur wenig näher steht als Hindus oder Buddhisten?

Anfang der 90er Jahre versammelte das interreligiöse Zentrum in Baltimore, das „Institut für christliche und jüdische Studien“, eine Gruppe von jüdischen Akademikern, um auf solche Fragen Antwort zu geben und die Bedeutung der neuen Offenheit des Christentums für das Judentum im Allgemeinen zu erörtern. Aus diesen noch andauernden Konsultationen ging schließlich Ende 2000 „Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum“ unter dem Titel dabru emet2hervor. Verfasst von vier hochangesehenen Professoren für Jüdische Studien Tikva Frymer-Kensky, Universität Chicago, David Novak, Universität Toronto, Peter Ochs, Universität Virginia und Michael Signer, Universität Notre Dame - die Stellungnahme wurde von etwa 170 anderen Rabbinern und jüdischen Gelehrten unterzeichnet und am 10.September 2000 in der New York Times und verschiedenen anderen Orten veröffentlicht. Sie hat seitdem zahlreiche weitere Unterzeichner gewonnen, sowie große Aufmerksamkeit, meist äußerst positiv.

Obwohl dabru emet einen weiten Bereich komplexer Probleme berührt, ist es kein umfangreiches Werk. Nach zwei einführenden Abschnitten, die die neue Veränderung in den Beziehungen zwischen Christen und Juden beschreiben, besteht es aus acht Thesen aus je einem Satz mit einem kurzem erläuternden Abschnitt. Die Thesen lauten folgendermaßen:

  • Juden und Christen beten den gleichen Gott an.
  • Juden und Christen stützen sich auf die Autorität ein und desselben Buches - die Bibel (das die Juden „Tenach“ und die Christen das „Alte Testament“ nennen).
  • Christen können den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel respektieren.
  • Juden und Christen erkennen die moralischen Prinzipien der Tora an.
  • Der Nazismus war kein christliches Phänomen.
  • Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlösen wird, wie es die Schrift prophezeit.
  • Ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die jüdische Praxis nicht schwächen.
  • Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen.

Wie die Verfasser und Unterzeichner von dabru emet eingestehen, ist ihre kurze und notwendigerweise unvollständige Stellungnahme nur ein „erster Schritt“ zu einem neuen jüdischen Verständnis des Christentums. Doch man muss fragen, wie nützlich dieser Start ist.

Der Fehler in dabru emet: Zwang zur Gemeinsamkeit

Dabru emet leidet unter einem der großen Fehler interreligiöser Dialoge, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten praktiziert worden sind. Angesichts der Geschichte religiös bedingter Verachtung und Feindseligkeiten ist es eine unvermeidliche Versuchung, bei solchen Unternehmungen jegliche offene Diskussion fundamentaler Glaubensüberzeugungen zu vermeiden und statt dessen das Modell der Konfliktlösung oder diplomatischer Verhandlungen zu übernehmen. So entsteht das Ziel, eine Übereinkunft zu erreichen in der Weise, wie zwei Länder sich einem Schiedsspruch unterwerfen, um lange bestehende Spannungen beizulegen, oder wie Mann und Frau zum Eheberater gehen in der Hoffnung, die Streitpunkte ihrer Beziehung zu überwinden. Gemeinsamkeiten werden bestätigt und Unterschiede - vermutlich der erste Grund, in einen Dialog einzutreten - heruntergespielt, nicht ernst genommen oder überhaupt verleugnet. Sobald das Modell angenommen ist, wird zum eigentlichen Ziel nicht bloß die Verständigung, sondern eine gegenseitige Bestätigung; die kritischen Urteile, die religiöse Überlieferungen in ihrer Geschichte übereinander gefasst haben, werden zunehmend als tragische Frucht von Vorurteilen und Missverständnissen dargestellt.

In dabru emet wird dieser Zwang, einen gemeinsamen Grund zu finden, vielleicht am Deutlichsten in der ernsten und beruhigenden Plattheit, mit der das Dokument schließt: „Juden und Christen“, wird uns gesagt, „müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen.“ - ein Standpunkt, der zweifellos Bestürzung bei solchen hervorruft, die im Dienst von Ungerechtigkeit und Krieg tätig sind. Doch die übergreifende Notwendigkeit Ähnlichkeiten zu bestätigen, steckt auch in substantiellen Teilen der Stellungnahme.

Die Rolle der Christen in der Nazizeit

Man betrachte den fein gesponnenen Abschnitt, der die These erläutert, dass Nazismus kein „christliches Phänomen“ war. Hier finden wir zunächst das klare Urteil, dass nicht nur einzelne Christen, sondern das Christentum selbst eine Rolle dabei spielte, den Holocaust zu ermöglichen. Gleichzeitig erkennt die Stellungnahme an, dass einige Christen den Nazis widerstanden und viele andere in jenen Jahren den überlieferten Antisemitismus, aus dem der Nazismus teilweise erwuchs, verurteilt haben.

Das Problem liegt in der Spekulation: „Wäre den Nationalsozialisten die Vernichtung der Juden in vollem Umfang gelungen, hätte sich ihre mörderische Raserei weitaus unmittelbarer gegen die Christen gerichtet.“ Dies führt viel zu rasch zu einer Gleichsetzung von Juden und Christen. Der Krieg der Nazis gegen die Juden war rassistisch begründet, für die Mörder war es unwichtig, ob die Opfer in irgendeiner Weise an das Judentum glaubten, und Menschen jüdischer Abstammung, die völlig säkular waren oder sich zum Christentum bekehrt hatten, wurden gemeinsam mit ihren gläubigsten Artgenossen in den Tod geschickt.

Für Christen ohne jüdische Vorfahren hingegen, war es kaum schwierig, den völkermordenden Überprüfungen Nazi-Deutschlands zu entgehen. Nur die wenigen Gläubigen, die sich offen gegen das Regime einsetzten, begaben sich in irgendeine Gefahr.

Mit der Annahme, dass auch Christen als Opfer des Holocaust vorgesehen waren, setzen die Verfasser von dabru emet sie fälschlich in dasselbe Boot wie die Juden - oder um genauer zu sein, in denselben Zug nach Auschwitz. Dies zumindest geht über die Interessen der interreligiösen Solidarität weit hinaus.

Das Land Israel

Wackelt die Stellungnahme bereits bezüglich der Geschichte, so werden die Dinge in den Aussagen, die an theologische Fragen rühren, noch schlimmer. „Christen“, legt man uns nahe, „können den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israels respektieren.“ Das Hilfsverb in dieser These gibt Raum für viel Ungenauigkeit. Da viele Christen tatsächlich den jüdischen Anspruch respektieren (während andere es nicht tun), wer wollte leugnen, dass sie es „können“? Was diese Behauptung anscheinend den Christen beibringen will, ist wohl, dass sie Israel unterstützen sollten. Insbesondere zollt sie denjenigen Beifall, die den jüdischen Staat umarmen „aus weit tiefer liegenden Gründen als nur solchen politischer Natur.“ Die Frage jedoch ist, welcher Art diese Gründe sind. Der einzige hier genannte ist, dass „Israel den Juden als physisches Zentrum des Bundes zwischen ihnen und Gott versprochen wurde.“ Doch was ist mit jenen Christen, kaum gering an Zahl, die Israel unterstützen, weil sie die Sammlung der jüdischen Exilanten als ein notwendiges Vorspiel für die Wiederkunft Jesu und der Bekehrung gesamt Israels zum Christentum verstehen? Begrüßen die Verfasser von dabru emet auch die Ansichten dieser Christen oder gibt es etwas zutiefst Problematisches in ihrer Theologie? Darüber herrscht betretenes Schweigen.

Endgültige Erlösung?

Dieselbe Zurückhaltung kann in der Behauptung gesehen werden, der grundlegende Unterschied zwischen Juden und Christen „wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlösen wird, wie es die Schrift prophezeit.“ In diesem Fall nehmen die Verfasser einfach an, dass das Christentum ein Teilnehmer an den Ereignissen der letzten Tage sein wird. Doch die beiden Traditionen haben in der Geschichte diese Ereignisse in Vorstellungen erfasst, die nicht nur verschieden, sondern unvereinbar sind. Warum sollten Juden - als Juden - es als eine Glaubenssache bestätigen, dass die Kirche bis zur endgültigen Erlösung überleben wird?

Die umgekehrte Frage ist für viele Christen einfach zu beantworten. Wie Paulus im Neuen Testament behauptet, wurden die Juden von Gott nicht völlig verworfen, sondern bleiben (Röm. 11,29) „Geliebte um der Väter willen (Abraham, Isaak, Jakob). Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“ Diese Bestätigung indessen ist pro-jüdisch, ohne Pro-Judentum zu sein. Sein Punkt ist, dass Gott die Juden erträgt, obwohl so viele sich dem Christentum verweigern. „Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, solange, bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist (zur Wahrheit des Christentums), und so wird ganz Israel gerettet werden.“

In den letzten Jahren haben Christen diese Gedanken zur Basis für eine positive Würdigung des Judentums gemacht, und es ist verständlich, dass die Verfasser von dabru emet die Notwendigkeit einer bestätigenden Erwiderung spüren. Doch das Verhältnis ist nicht symmetrisch. Für das klassische Judentum gibt es keinen Bund zwischen Gott und der Kirche - keine Parallele also zu Paulus’ Glauben an die unwiderrufliche „Berufung“ der israelitischen Patriarchen.

Die moralischen Prinzipien der Tora?

Dabru emet schreitet fort zu einem nur wenig sichereren Grund, wenn es in einer anderen der Thesen behauptet: „Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Tora.“ Doch wie viele Christen fragen sich: „Stimmt meine Moral mit der Tora überein?“ Sie fragen eher: „Was würde Jesus tun?“ (siehe „WWJD“ - what would Jesus do - auf Autoaufklebern, T-Shirts usw.) In Wirklichkeit meinte das Christentum üblicherweise, dass Jesu moralische Prinzipien denen der Tora überlegen seien, eine Verbesserung oder Radikalisierung und nicht nur eine Wiederholung. Man betrachte folgende Beispiele aus der Bergpredigt:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (im Zehnwort 2.Mo­se 20,14): ‚Du sollst nicht ehebrechen.‘ Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2.Mose 21,24): ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

Es gibt natürlich weit mehr zum Verhältnis von christlicher Moral und Tora, als die Bergpredigt enthält. Und hinsichtlich dieser besonderen Fälle, dürfen wir nicht versäumen zu erwähnen, dass auch die Rabbiner die Lust negativ sahen oder dass die Tora Rache und Neid verbietet. Tatsächlich bedeutet in seiner rabbinischen Auslegung (und nachweislich auch in der geschriebenen Tora) das Prinzip „Auge um Auge“ geldliche, nicht physische Kompensation. Ebenso zeigen diese Sätze, dass es neben der theologischen Debatte zwischen Christen und Juden auch eine moralische Debatte gibt und dass in historischer Sicht Christen im allgemeinen Jesus als Einen gesehen haben, der eine neue Ethik im Streit mit der hebräischen Bibel aufrichtet. Zudem sind sie nicht selten kritisch gewesen gegen das Gesetz als solches, gegenüber den „Geboten“ als Ausdrucksmittel moralischen Bewusstseins und haben stattdessen Liebe oder den Geist vorgezogen, was der Brief an die Hebräer (Jeremia folgend) Gesetze nennt, die ins Herz geschrieben sind. Auch wenn das Substantiv Moral bei Christen und Juden das Gleiche ist, so ist es das Prinzip der Auslegung oft nicht.

Eine angemessener gefasste These, übereinstimmend mit jüdischen Quellen, hätte sich nicht auf die Tora als Ganzes berufen, sondern auf die sieben Gebote - Verbote von Mord, Diebstahl, geschlechtlicher Unmoral usw., die die Noachidischen Gebote bilden, Grundnormen, die die talmudischen Rabbiner für Juden und Heiden gleich verbindlich hielten. In dem Maße, wie das Christentum diese Gebote gelten lässt, behauptet eine alte jüdische Überlieferung, hilft es seinen Gläubigen, ein echtes Verhältnis zu Gott zu gewinnen. In rabbinischer Sprache: Es hilft ihnen zum „Anteil an der Kommenden Welt“. Doch erstaunlicherweise bleiben die Noachidischen Gebote in dabru emet unerwähnt, es sei denn, die „moralischen Prinzipien der Tora“ bedeuten einen frisierten Hinweis auf sie. Noch erstaunlicher in einer Stellungnahme aus der Feder jüdischer Theologen ist das Fehlen der Worte: Gesetz und Gebot.

Gemeinsame Schrift?

Noch grundlegender ist die einseitige Sicht, die es den Verfassern der Stellungnahme erlaubt zu erklären, dass beide Glaubensrichtungen „sich auf das gleiche Buch stützen“, das die Juden „Tenach“ (hebräisches Akronym für die drei Teile der Bibel) und die Christen das „Alte Testament“ nennen. Diese unbeholfene Anmerkung darüber, wie die beiden Überlieferungen auf das „gleiche Buch“ verweisen, zeigt bereits das Problem an. Christen beziehen sich nicht allein auf das Alte Testament als Bibel und Juden ihrerseits halten das Neue Testament keinesfalls für biblisch.

Damit enden die Unterschiedle noch nicht. Das Alte Testament der römisch-katholischen und der östlich-orthodoxen Kirchen umfasst jüdische Bücher, die nie einen kanonischen Rang im rabbinischen Judentum erreichten. Die Anordnung der beiden Schriftensammlungen unterscheidet sich ebenfalls deutlich. In der gegenwärtigen Gestalt schließt der Tenach mit dem Dekret des persischen Kaisers Cyrus im Buch der Chronik, dass Juden in ihre Heimat zurückkehren können, wo Gott Cyrus beauftragt hat, den Tempel in Jerusalem wiederaufzubauen. Das Alte Testament schließt im Gegensatz dazu mit der Verheißung des Propheten Maleachi, dass Gott den Propheten Elia senden wird, „ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt.“ - eine Anordnung, die eine nette Brücke zu Johannes dem Täufer bildet, den Herold Jesu im Neuen Testament.

Selbst wenn wir annehmen, dass Juden und Christen sich auf „das gleiche Buch“ stützen, so umgeht Dabru emet doch wesentliche Punkte. Denn Tenach und Altes Testament sind in wesentlichen Zügen anderen Elementen der jeweiligen Überlieferung untergeordnet. Im Christentum hält man die wahre Bedeutung der jüdischen Schriften für offenbart in und durch Jesus; daher die Vorstellung, dass die Juden ihre eigene Bibel falsch lesen. Paulus könnte es nicht deutlicher ausgedruckt haben (2.Korinther 3, 12-16):

Weil wir solche Hoffnung haben, sind wir voll großer Zuversicht und tun nicht wie Mose, der eine Decke vor sein Angesicht hängte, damit die Israeliten nicht sehen konnten das Ende der Herrlichkeit, die aufhört. Aber ihre Sinne wurden verstockt. ... Aber bis auf den heutigen Tag wenn Mose gelesen wird, hängt die Decke vor ihren Herzen, wenn aber ein Mensch sich bekehrt zum Herrn, so wird die Decke abgetan.

Paulus bringt sein Argument als Auslegung eines Ereignisses in den jüdischen Schriften vor, doch er interpretiert die Bibel nicht einfach „unterschiedlich“, wie dabru emet es höflich nennt. Vielmehr feuert er eine Breitseite gegen die ganze Art des Umgangs der Juden - nämlich nicht-christologisch - ab. Die Beobachtung der Stellungnahme, dass wir „ähnliche Lehren“ aus unserem Tenach/Altem Testament ziehen, ist zwar nicht unwahr, versäumt aber zu erwähnen, dass bestimmte fundamentale Punkte der Lehren, die „wir“ ziehen nicht nur „unterschiedlich“ sind, sondern sich gegenseitig ausschließen.

In dem Absatz über die Bibel versäumten die Verfasser von dabru emet auch eine Gelegenheit, ein höchst verbreitetes Missverständnis über das Judentum zu korrigieren - nämlich die Bibel sei seine einzige Autorität. Sie hätten hier auf die zentrale Bedeutung der mündlichen Tora hinweisen können, das heißt: die Mischna und nachfolgende rabbinische Lehre. Sahen sie davon ab aus der (vielleicht unbewussten) Erkenntnis, dass dies ihre vereinfachende Behauptung, beide Gemeinschaften auf „dasselbe Buch“ tief unterminiert hätte?

Manche alte jüdische Betonung der entscheidenden Bedeutung der mündlichen Tora findet eine Parallele in der christlichen Betonung des Evangelium:

Als der Heilige, gesegnet sei er, zu Mose sagte (2.Mose 34,27): „Schreib dir diese Worte auf, denn auf Grund dieser Worte habe ich mit dir und mit Israel einen Bund geschlossen“, da bat Moses, dass die Mischna aufgeschrieben würde. Da der Heilige, gesegnet sei er, voraussah, dass die Nationen der Welt die Tora übersetzen würden, sie auf griechisch lesen und sagen: „Wir sind Israel“, und bis zu diesem Punkt ist die Waage ausbalanciert (zwischen jüdischen und heidnischen Ansprüchen auf den Israelstatus), der Heilige, gesegnet sei er, sagte zu den Nationen, „Ihr sagt, dass ihr Meine Kinder seid. Was ich weiß ist, dass diejenigen, die Mein Geheimnis bei sich haben - sie sind Meine Kinder. Und was ist das? Es ist die Mischna (Lehre), die mündlich gegeben wurde.“

Hier ist das Schlüsselelement nicht die gemeinsame Schrift, sondern das, was nicht geteilt ist, Gottes „Geheimnis“, das Mittel zum Schlichten zwischen rivalisierendem Lesen desselben Textes.

Dabru emet liegt nicht falsch damit, die Aufmerksamkeit auf gemeinsame Schriften und „ähnliche Lehren“ zu richten. Das Problem besteht darin, dass es das, was nicht gemeinsam ist, auf bloße Meinungsverschiedenheiten reduziert - als ob die beiden Überlieferungen keine Wahrheitsansprüche stellten. Diese leichtfertige Relativität hindert jedes tiefer gehende Verständnis von zweitausendjährigem Dialog und und Auseinandersetzung von Juden und Christen über die Bedeutung der Schrift. Eine genauere Stellungnahme würde festhalten, dass es genau die Punkte der Gemeinsamkeit sind, die eine Auseinandersetzung über die Unterschiede unvermeidlich machen - wenigstens innerhalb von Gemeinschaften, die dem Gedanken religiöser Wahrheit und nicht einfach der theologische Gleichung eines „Ich bin OK, du bist OK verpflichtet sind!“

Ähnliche Lehren aus der Schrift?

Lassen Sie mich die Sache veranschaulichen mit einer der „ähnlichen Lehren“, von denen dabru emet meint, dass Juden und Christen sie aus ihrer gemeinsamen Bibel ziehen: „Gott ging mit dem Volk Israel einen Bund ein.“ Dieser Bund wird zuerst Abraham in 1.Mose 15 angekündigt, nach dem Bericht, dass der kinderlose künftige Patriarch Vertrauen in Gottes unwahrscheinliche Verheißung, ihm zahllose Nachkommen zu schenken, zeigte. Der Schlüsselvers (V.6) lautet: „Abraham glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit.“ Zwei Kapitel später verkündet Gott erneut den Bund mit Abraham, nur diesmal mit der Anordnung, dass er ein Zeichen haben soll, die verpflichtende Beschneidung der jüdischen Männer. Nur einige Generationen später ist es ein Bund mit Israel auf dem Berg Sinai unter der Führung von Moses.

Paulus, der „Apostel für die Heiden“, fand sich in seiner Karriere früh von jüdischen Nachfolgern Jesu umgeben, die darauf bestanden, dass sich Nicht-Juden zum Eintritt in die neue Religion beschneiden ließen und die anderen Gebote der Tora befolgten. Nach dem Beispiel Jesu, der die Tora beachtete, war das keine unvernünftige Forderung. Bei dem Versuch, ihr zu widersprechen, richtete Paulus seinen exegetischen Genius auf die Chronologie der Bundesschlüsse der Tora.

Aus 1.Mose 15,6 erschloss er die Ansicht, dass Gott Abraham allein durch seinen Glauben für einen Gerechten hielt, schon ehe er beschnitten wurde. Das heißt dann: Glaube konnte die Gebote der Tora ersetzen. In Paulus’ eigenen Worten am Ende seiner Karriere (Röm. 4, 13): „Die Verheißung, dass er der Erbe der Welt sein solle, ist Abraham oder seinen Nachkommen nicht zuteil geworden durch das Gesetz, sondern durch die Gerechtigkeit des Glaubens.“

Auf den ersten Blick mag dies erscheinen wie ein Streit, der nur am Rande für das Judentum Bedeutung hat, da die unmittelbaren Probleme Beschneidung und Tora-Befolgung sind, die das Judentum beide nicht von Außenstehenden fordert. Doch der Haken ist, dass im paulinischen Denken Abraham als Modell, nicht nur für Heiden und Christen, sondern für alle, die zu Israel gehören wollen, dient (Röm. 9,6ff):

Denn nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen; auch nicht alle, die Abrahams Nachkommen sind, sind darum seine Kinder; sondern ‚Nur was von Isaak stammt, soll dein Geschlecht genannt werden’"(1.Mose 21,12). Das heißt: nicht das sind Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind; sondern nur die Kinder der Verheißung werden als seine Nachkommenschaft anerkannt.

Genau wie der Glaube statt der Beschneidung einen Menschen befähigt, den erhabenen Rang der Kindschaft Abrahams zu erreichen, so ist es der Glaube statt der Abstammung, der bestimmt, wer wahrhaftig zu Israel gehört.

Der Glaube, von dem Paulus spricht, ist nicht eine vage existentielle Haltung, sondern Glaube an Jesus. Dies war der entscheidende Punkt, den Paulus ’ jüdische Verwandte zu seiner großen Enttäuschung und Ärgernis nicht akzeptiert hatten und statt dessen ihre Tora und ihre Gebote vorzogen (Römer 9, 10ff):

Was sollen wir nun hierzu sagen?... Die Heiden, die nicht nach der Gerechtigkeit trachteten, haben die Gerechtigkeit erlangt, die aus dem Glauben kommt. Israel hat aber nach dem Gesetz der Gerechtigkeit getrachtet und hat es doch nicht erreicht. Warum das? Weil es die Gerechtigkeit nicht aus dem Glauben sucht, sondern als komme sie aus den Werken. Sie haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes, wie geschrieben steht (Jesaia 8,14; 28,16): „Siehe ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses; und wer an ihn glaubt der soll nicht zuschanden werden.“

Abraham wird heute oft der gemeinsame Vater von Juden, Christen und Muslimen genannt. Hier indessen spielt er die Schlüsselrolle für die ganz spezielle Behauptung, dass das Evangelium die Tora ersetzt hat (die, richtig interpretiert, schon immer auf das Evangelium hingedeutet hat) und dass die Kirche (obgleich Paulus an diesem Punkt manchmal schwankt) das jüdische Volk, Abrahams natürliche Nachkommen, ersetzt.

Es ist nicht überraschend, dass sich die traditionelle jüdische Theologie hinsichtlich Abrahams in eine ganz entgegengesetzte Richtung bewegt, Zwei Jahrhunderte vor dem Auftauchen des Christentums gab es schon den Gedanken, dass Abraham Normen vertrat, die erst später, in der Zeit des Mose, enthüllt wurden - mit anderen Worten, er praktizierte eine sinaitische Religion, auch vor dem Sinai. Die Mischna, um 200 der christlichen Zeitrechnung zusammengestellt, sollte es später so sagen: „Wir sehen, dass unser Vater Abraham die ganze Tora befolgt hat, ehe es sie gegeben hatte.“ Diese Vorstellung, ob beabsichtigt oder nicht, unterhöhlt den paulinischen Gebrauch Abrahams als eines Modells für das Ausreichen des Glaubens auf Kosten besonderer Normen. In der rabbinischen Interpretation löst sich der paulinische Gegensatz zwischen einer abrahamitischen und einer mosaischen Regelung auf.

Viel steht theologisch auf dem Spiel in einem Dialog, der sich auf diese alten Quellen gründet. Wenn, wie in dabru emet, die beiden Disputanten als einbloß unterschiedlich dargestellt werden und sie deswegen dem Anderen nicht mehr im Weg stehen, dann ist alles, was auf dem Spiel steht, verflüchtigt.

An anderer Stelle behauptet die Stellungnahme: „Christen kennen und dienen Gott durch Jesus Christus und die christliche Tradition“, dagegen:„Juden kennen und dienen Gott durch die Tora und die jüdische Tradition.“ So erreichen die Verfasser die angestrebte Übereinkunft durch die freundliche Abgrenzung der jeweiligen Einflusssphären: Jesus Christus für die Christen, Tora für die Juden. Dabei ist in diesem Prozess das, was beide, Jesus Christus und Tora, traditionell bedeutet haben, für ihre Anhänger radikal verändert.

Der gleiche Gott?

Schließlich ist für die Theologie von dabru emet die Behauptung fundamental: „Juden und Christen beten den gleichen Gott an.“ Historisch ist diese Sicht unter Christen wohl nicht auf großen Widerstand gestoßen. Mag auch ein Großteil der christlichen Orthodoxie jüdische Gottesdienstformen für obsolet gehalten haben; hat sie doch schon früh den Glauben verworfen, dass der Gott der Kirche ein höherer (also anderer) Gott als der der Juden und ihrer Schriften sei.

Doch hier - wie allgemein in jüdisch christlichen Beziehungen - herrscht eine Asymmetrie vor; und die einfache Gegenseitigkeit ist ein gefährlicher Kurs. Juden ihrerseits waren nicht immer überzeugt, dass Christen den gleichen Gott anbeten. Maimonides, zum Beispiel, die große sefardische Gesetzesautorität und Philosoph des 12.Jahrhunderts, ordnet das Christentum ausdrücklich als Götzendienst ein. So verbietet er den Kontakt mit Christen, obwohl er den Kontakt mit Vertretern anderer, nicht götzendienerischer Religionen erlaubte. Selbst in der mittelalterlichen aschkenasischen Welt, in der eine ganz andere Sicht des Christentums vorherrschte, interpretierten manche Autoritäten das monotheistische Bekenntnis im Schema, der täglich gebotenen Erklärung des jüdischen Glaubens, als ausdrückliche Verneinung der Trinitätslehre.

Das Problem ist noch fundamentaler als die vertrauten Fragen, ob Jesus der Messias sei und ob die Tora noch gültig oder vom Evangelium abgelöst sei; es geht um die Frage der Identität Gottes selbst. Für das traditionelle Christentum ist Jesus nicht nur Sprecher Gottes nach Art eines jüdischen Propheten, sondern auch und vor allem eine Inkarnation - die endgültige und unüberbietbare Inkarnation - des Gottes Israels. In den Worten des Nizänischen Glaubensbekenntnisses (liturgisch zelebriert in der östlichen Orthodoxie, im Römischen Katholizismus und in vielen protestantischen Kirchen bis zum heutigen Tag) ist Jesus „wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen.“

Teilnehmer am jüdisch-christlichen Dialog sprechen oft, als ob Juden und Christen über Gott übereinstimmten, nicht aber über Jesus. Sie haben vergessen, dass orthodoxe Christen in einem sehr realen Sinne glauben: Jesus ist Gott.

Schwächung des Judentums

Die beunruhigende Tendenz, sich vor unbequemen Unterschieden zu drücken, die sich durch den ganzen Text von dabru emet zieht, mag auch hilfreich sein, um den defensiven Ton der wunderlichsten These der Stellungnahme zu erklären: „Ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen,“ versichern uns die Verfasser, „wird die jüdische Praxis nicht schwächen.“ Setzt man die praktischen und theologischen Standpunkte, die dabru emet vertritt, voraus, dann würde die Besorgnis um das Aufrechterhalten einer eigenständigen jüdischen Existenz - eine Besorgnis, die die Autoren hier (ängstlich?) zerstreuen - eine überzeugendere Antwort verlangen.

Man braucht kein Befürworter von interreligiöser Feindseligkeit zu sein, um wahrzunehmen, dass zwei Gemeinschaften, die eine instinktive Abneigung gegeneinander spüren, keinerlei Verschmelzung befürworten, weder durch kulturelle Assimilation noch durch Mischehe. Aus dem gleichen Grund müssen Gemeinschaften, die ihre Animosität weitgehend überwunden haben und zu gegenseitiger Achtung gekommen sind, wie es Juden und Christen in einem bemerkenswerten Ausmaß in den Vereinigten Staaten getan haben, anderweitig nach Verstärkung der Gruppenidentität suchen, wie sie unter dem früheren und gespannteren Verhältnis vorhanden war. In jedem Fall sind die Risiken für die kleinere Gemeinschaft, nämlich die Juden, höher. Die Risiken sind besonders hoch, wenn Juden und Christen tatsächlich in einer Beziehung stehen, wie sie von dabru emet beschrieben wird.

Die Stoßrichtung dieser Stellungnahme ist es, die beiden Gemeinschaften wie zwei Erbsen in einem einzigen religiösen Topf erscheinen zu lassen. Beide, so wird uns gesagt, beten den gleichen Gott an, stützen sich auf das gleiche Buch, aus dem sie „ähnliche Lehren“ ziehen und erkennen dieselben „moralischen Prinzipien“ an - ja, „die moralischen Prinzipien der Tora.“ Darüber hinaus waren beide Ziele der „mörderischen Raserei“ der Nazis - wenn auch mit einer Zeitverschiebung - und beide können jetzt Gottes Gabe des Landes Israel würdigen. Obgleich die Stellungnahme Meinungsverschiedenheiten erwähnt und bittet, dass sie respektiert werden, so ist es doch schwer, darüber hinwegzukommen ohne das Gefühl, die fast zweitausend Jahre jüdisch-christlicher Auseinandersetzung hätte auf wenig mehr als dem Narzismus kleiner Unterschiede beruht.

Ist es reiner Zufall, dass die neue Annäherung zwischen Juden und Christen von hochschnellenden Zahlen bei den Mischehen und von einer auffälligen Hinnahme dieser demographischen Katastrophe seitens vieler Jüdischer Organisationen begleitet wurde? Wenn, wie uns jetzt gesagt wird, die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Religionen wirklich so grundlegend und so umfassend sind, warum sollte der Mischehe oder der Bekehrung zum Christentum so energisch widerstanden werden, wie es Juden ihre Tradition so lange anempfohlen hat?

Nichts hält irgendjemanden davon ab, „die Wahrheit zu sprechen“ über die Beziehung von Juden und Christen, wie er sie sieht. Doch mit den Verfassern und Unterzeichnern von dabru emet anzunehmen, dass ihre Version der Wahrheit keine Gefahr für jüdische Praxis und Identität bedeute, ist nicht nur Wunschdenken; es ist „Pfeifen im Dunkeln.“

Anmerkungen
  1. Der Beitrag von Jon D. Levenson ist erschienen in: Commentary, Dezember 2001. Übersetzung: Rudolf Weckerling
  2.  „Sprecht die Wahrheit“ nach Worten aus Sacharja 8,16. S.: Begegnungen, Heft 1, 2001, S. 33; Heft 2,2001, S. 30; Heft 1, 2002, S. 21. Eine Sammlung von Aufsätzen, die die Stellungnahme und ihre Sicht erläutern, in: Christianity in Jewish Terms, hg. von Frymer-Kensky, Novak, Ochs, Signer und David Fox Samuel (Westview Press, 438 S.)

Editorische Anmerkungen

QUELLE: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum. Heft Nr.3, 2002