Wider die Indienstnahme der Religionen durch Haß und Gewalt

Zu Beginn des Jahres 2002 gab es einige Friedens- und Dialogbemühungen von Oberhäuptern und Vertretern der monotheistischen Religionen in Alexandria, Assisi und Paris. Die Texte der daraus hervorgegangenen Erklärungen werden fachlich umrahmt von einem Kommentar des Autors.

Hans Hermann Henrix

Wider die Indienstnahme der Religionen durch Haß und Gewalt

In zu vielen Weltgegenden gibt es aktuelle Konflikte zwischen Menschen, Gemeinschaften und Völkern, in die Religionen verwickelt sind, als daß die Frage ausbleiben kann: Was tun führende Männer und Frauen der Religionsgemeinschaften, um der Aggressivität und Tödlichkeit dieser Konflikte und Kriege Einhalt zu gebieten? Wie ist es möglich, daß religiöse Traditionen immer wieder für Haß und Gewalt instrumentalisiert werden? Läßt sich nicht wenigstens eine solche Instrumentalisierung des Religiösen durch Emotion, Aggressivität oder Politik offenlegen und damit ansatzweise überwinden? Müssen die Religionsgemeinschaften jetzt nicht alle ihre Potentiale des Aufeinanderzugehens, des Dialogs, der Wiederanknüpfung abgebrochener Kontakte und der Friedensförderung mobilisieren? Ist nicht ein erneutes Sprechen zwischen den Religionsgemeinschaften dringend geboten? Daß dieser Problem- und Fragedruck unter Juden, Christen und Muslimen empfunden wird, belegen wichtige Texte der zurückliegenden Wochen und Monate, welche der Freiburger Rundbrief in diesem Heft dokumentiert. Es wurden Initiativen ergriffen, Zeichen und Symbole gesetzt, Orientierungsmarken gegeben - hier eher im Stillen, dort eher in der großen Öffentlichkeit.

1. Erstes interreligiöses Treffen von Alexandria

Im Schatten der Anschläge vom 11. September 2001 und der blutigen Terroranschläge und Kämpfe im israelisch-palästinensischen Konflikt waren auf Initiative des Anglikanischen Erzbischofs von Canterbury, George Carey, und Rabbiner Michael Melchior, Jerusalem, am 21./22. Januar 2002 führende Vertreter der drei monotheistischen Religionen im ägyptischen Alexandria zusammengekommen. Der Großscheich der Al-Azhar-Universität von Kairo und höchste geistliche Würdenträger der Sunniten, Scheich Mohammed Sayed Tantawi, nahm an dem nichtöffentlichen Treffen ebenso teil wie eine jüdische Delegation unter Leitung des sephardischen Oberrabbiners Eliahu Bakshi-Doron. Die Religionsvertreter forderten in einer nachfolgenden öffentlichen „Ersten Erklärung von Alexandria“ ein Ende der Gewalt und des Blutvergießens. Die wohl wichtigste Aussage dieser Erklärung richtet sich gegen eine Indienstnahme der Religion für das Töten: „Nach den Traditionen unseres Glaubens bedeutet das Töten Unschuldiger im Namen Gottes eine Entweihung Seines Heiligen Namens und eine Diffamierung der Religion in dieser Welt.“ Bedeutend ist wohl auch der Satz: „Palästinenser und Israelis müssen den heiligen Ratschluß des Schöpfers respektieren, dank dessen Gnade sie in dieser Region, genannt Heiliges Land, leben“, weil er eine muslimisch religiös begründete Ablehnung der Existenz von Juden - und infolgedessen auch eines jüdischen Staats - im „Heiligen Land“ disqualifiziert. Die Erklärung, deren

Zustimmung durch die beteiligten palästinensischen Religionsvertreter die Rückendeckung von Palästinenserführer Arafat erhalten haben soll, wurde in den nachfolgenden Wochen kritisiert, weil sie sich als wirkungslos erwiesen und den Kontakt mit den politischen Gegebenheiten verloren habe. Dennoch ist sie hilfreicher als ein hilfloses Schweigen der Religionsführer in der Region, stellt sie doch im inner- und interreligiösen Bereich eine appellable Instanz gegen religiöse Fundamentalisten dar.

Folgende Erklärung wurde am 21. Januar 2002 in Alexandria von den Oberhäuptern der religiösen Gemeinschaften im Heiligen Land unterzeichnet:

„Im Namen Gottes des Allmächtigen und des Barmherzigen beten wir, die wir uns an diesem Ort als religiöse Oberhäupter der islamischen, christlichen und jüdischen Gemeinschaften versammelt haben, für einen wahren Frieden in Jerusalem. Wir fühlen uns verpflichtet, die Gewalt und das Blutvergießen zu beenden, welche den Menschen das Recht auf Leben und Würde nehmen.

Nach den Traditionen unseres Glaubens bedeutet das Töten Unschuldiger im Namen Gottes eine Entweihung Seines Heiligen Namens und eine Diffamierung der Religion in dieser Welt. Die Gewalt im Heiligen Land ist ein Übel, dem sich alle in gutem Glauben handelnden Menschen widersetzen müssen. Wir streben danach, als Nachbarn zusammenzuleben, welche die Integrität unseres gegenseitigen historischen und religiösen Erbes respektieren. Wir rufen alle auf, sich gegen Hetze, Haß und falsche Darstellung der anderen Seite zu wenden.

  1. Das Heilige Land ist unseren drei Glaubensgemeinschaften heilig. Deshalb müssen die Angehörigen der göttlichen Religionen die Heiligkeit des Landes respektieren und verhindern, daß dieses durch Blutvergießen beschmutzt wird. Die Heiligkeit und Integrität der Heiligen Stätten müssen bewahrt und die Freiheit der Religionsausübung gewährleistet werden.
  2. Palästinenser und Israelis müssen den heiligen Ratschluß des Schöpfers respektieren, dank dessen Gnade sie in dieser Region, genannt Heiliges Land, leben.
  3. Wir rufen die politische Führung beider Völker auf, sich für eine gerechte, sichere und dauerhafte Lösung im Geiste Gottes und der Propheten einzusetzen.
  4. Als ersten unmittelbaren Schritt rufen wir zu einem religiös gebilligten Waffenstillstand auf, der von allen Seiten respektiert und beachtet werden soll. Wir fordern, die Empfehlungen des Mitchell- und Tenet-Plans umzusetzen, einschließlich der Aufhebung der Beschränkungen und der Wiederaufnahme von Verhandlungen.
  5. Wir streben danach, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die jetzigen und künftigen Generationen in gegenseitigem Respekt und Vertrauen zusammenleben können. Wir rufen alle dazu auf, von Haß und Dämonisierung abzusehen und die künftigen Generationen entsprechend zu erziehen.
  6. Als religiöse Oberhäupter geloben wir, das gemeinsame Streben nach einem gerechten Frieden fortzusetzen. Dieser soll zu einer Versöhnung in Jerusalem und im Heiligen Land führen, zum gemeinsamen Wohl aller unserer Völker.
  7. Wir geben die Errichtung einer ständigen gemeinsamen Kommission bekannt, welche die Empfehlungen dieser Erklärung verwirklichen und mit unserer jeweiligen politischen Führung in Beziehung treten soll.“

Friedensappell von Papst Johannes Paul II. an die Vertreter der monotheistischen Religionen im Heiligen Land (Vatikan, Generalaudienz am 13. März 2002):

„Ich richte einen herzlichen Willkommensgruß an die Vertreter der Religionsführer der drei monotheistischen Religionen im Heiligen Land, die sich vor kurzem in Alexandria versammelten und die „Erste Erklärung von Alexandria“ veröffentlichten. Wir alle sind betrübt über die täglichen Gewalttaten und den Tod in Israel und den palästinensischen Gebieten. Unsere Mission als Männer und Frauen der Religion veranlaßt uns, für den Frieden zu beten, den Frieden zu verkünden und alles in unserer Macht Stehende zu tun, um zu einem Ende des Blutbades beizutragen [...]“

2. Das Friedensgebet von Assisi

Der Gebetstag für den Frieden auf der Welt vom 24. Januar 2002 in Assisi war unter den Augen der Weltöffentlichkeit ein geistlicher Akt gegen den religiösen Fundamentalismus, der im Namen Gottes zu töten vorgibt. Papst Johannes Paul II. hatte einmal mehr die Initiative zu diesem Tag des Gebets und Fastens für den Frieden ergriffen und nahm an ihm selbst teil. Nach der Begrüßung durch den Papst sprachen die beteiligten Vertreter der 12 Religionsgemeinschaften über ihre Erfahrungen mit dem Frieden. Dann begaben sie sich zu getrennten Räumen des Franziskanerkonvents, um dort als je einzelne Religionsgemeinschaft für den Frieden zu beten. Insofern war das Modell des ersten Weltgebetstags der Religionen für den Frieden vom 27. Oktober 1986 geändert worden. Damals waren die Religionsführer zusammengekommen, nicht um im Sinne eines gemeinsamen Gebets „zusammen zu beten“, sondern um zugegen zu sein, während die anderen beteten, und zu beten, während die anderen zugegen waren. Diese wechselseitige Präsenz beim Gebet fand bei Assisi II nicht statt. Vielmehr diente die nachmittägliche Zusammenkunft einem gemeinsamen Friedensversprechen. In zehn Punkten verpflichteten sich die Religionsvertreter, „auf der großen Baustelle des Friedens zu arbeiten“. Nachdem der Papst gerufen hatte: „Nie wieder Gewalt! Nie wieder Krieg! Nie wieder Terrorismus! Im Namen Gottes bringe jede Religion der Welt Gerechtigkeit und Friede, Vergebung und Leben, Liebe!“, entzündete jeder/jede eine Öllampe als Friedenslicht. Der Lobpreis des hl. Franziskus auf die Schöpfung stand vor dem abschließenden Friedensgruß aller und vor dem Schlußwort des Papstes. Nach Assisi 2002 dürfte sich keine Partei mehr auf religiöse Gründe für den gewaltsamen Austrag von Konflikten berufen. Religion dürfte nicht länger Ursache des Gewaltproblems sein, sondern Instrument der Lösung des Gewaltproblems.

Gemeinsame Erklärung zum Abschluß des interreligiösen Gebetstreffens*

„Hier in Assisi versammelt, haben wir gemeinsam über den Frieden nachgedacht, der Geschenk Gottes und gemeinsames Gut der gesamten Menschheit ist. Als Angehörige verschiedener religiöser Traditionen bekräftigen wir, daß es zum Aufbau des Friedens notwendig ist, den Nächsten zu lieben und die Goldene Regel zu beachten: ‚Tu deinem Nächsten das, was Du willst, das dir getan wird.’ In dieser Überzeugung werden wir nicht müde, auf der großen Baustelle des Friedens zu arbeiten, und halten hierzu fest:“

Dr. Konrad Raiser, Ökumenischer Rat der Kirchen: „Wir verpflichten uns, unsere feste Überzeugung kundzutun, daß Gewalt und Terrorismus dem authentischen Geist der Religion widersprechen. Indem wir jede Gewaltanwendung und den Krieg im Namen Gottes oder der Religion verurteilen, verpflichten wir uns, alles Mögliche zu tun, um die Ursachen des Terrorismus zu beseitigen.“

Bhai Sahibji Monhinder Singh, Sikhismus: „Wir verpflichten uns, die Menschen zu gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Hochachtung zu erziehen, damit sich ein friedliches und solidarisches Zusammenleben zwischen den Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Gruppen, Kulturen und Religionen verwirklichen läßt.“

Metropolit Pitirim, Orthodoxes Patriarchat von Moskau: „Wir verpflichten uns, die Kultur des Dialogs zu fördern, damit gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zwischen den einzelnen und Völkern wachsen, die Voraussetzung für einen echten Frieden sind.“

Metropolit Jovan, Orthodoxes Patriarchat von Serbien: „Wir verpflichten uns, das Recht jeder einzelnen auf ein menschenwürdiges Leben gemäß seiner kulturellen Identität und auf die freie Gründung einer eigenen Familie zu verteidigen.“

Scheich Abdel Salam Abushuk, Islam: „Wir verpflichten uns zum aufrichtigen und geduldigen Dialog, indem wir nicht darauf achten, was uns wie unüberwindbare Mauern trennt, sondern im Gegenteil erkennen, daß die Begegnung mit dem, was uns von anderen Menschen unterscheidet, zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen kann.“

Bischof Vasilion, Orthodoxe Kirche in Zypern: „Wir verpflichten uns, einander die Irrtümer und Vorurteile in Vergangenheit und Gegenwart zu verzeihen und uns im gemeinsamen Bemühen zu unterstützen, Egoismus und Übergriffe, Haß und Gewalt zu besiegen und aus der Vergangenheit zu lernen, daß Friede ohne Gerechtigkeit kein wahrer Friede ist.“

Chang-Gyou Choi, Konfuzianismus: „Wir verpflichten uns, an der Seite derer zu stehen, die Not und Verlassenheit leiden, und uns zur Stimme derer zu machen, die selber keine Stimme haben. Wir müssen konkret an der Überwindung solcher Situationen mitwirken, von der Überzeugung getragen, daß niemand allein glücklich sein kann.“

Hojjatoleslam Ghomi, Islam: „Wir verpflichten uns, uns den Ruf all jener zu eigen zu machen, die nicht vor der Gewalt und dem Bösen resignieren. Wir wollen mit all unseren Kräften dazu beitragen, der Menschheit unserer Zeit eine wirkliche Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden zu geben.“

Nichiko Niwano, Buddhismus: „Wir verpflichten uns, jede Initiative zu ermutigen, die Freundschaft zwischen den Völkern fördert, in der Überzeugung, daß der technologische Fortschritt eine zunehmende Gefahr von Zerstörung und Tod für die Welt mit sich bringt, wenn ein solidarisches Einverständnis zwischen den Völkern fehlt.“

Rabbiner Samuel-René Sirat, Judentum: „Wir verpflichten uns, die Verantwortlichen der Nationen dazu aufzufordern, auf nationaler wie internationaler Ebene alle Anstrengungen zu unternehmen, damit auf der Grundlage der Gerechtigkeit eine Welt der Solidarität und des Friedens erbaut und gefestigt wird.“

Dr. Mesach Krisetya, Mennonitische Weltkonferenz: „Wir, Angehörige von unterschiedlichen religiösen Traditionen, werden nicht müde zu verkünden, daß Friede und Gerechtigkeit nicht voneinander zu trennen sind und daß Friede in Gerechtigkeit der einzige Weg ist, auf dem die Menschheit in eine hoffnungsvolle Zukunft gehen kann. Wir sind davon überzeugt, daß in einer Welt mit immer offeneren Grenzen und immer kürzeren Entfernungen, in der die Beziehungen durch ein dichtes Kommunikationsnetz immer leichter werden, Sicherheit, Freiheit und Frieden nicht durch Gewalt, sondern nur durch gegenseitiges Vertrauen gesichert werden können.

Möge Gott unsere Vorschläge segnen und der Welt Gerechtigkeit und Frieden schenken.“

*Aus: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 1. Februar 2002, S. 9.

3. Jüdisch-Christlicher Kongreß in Paris

Gegenüber dem großen Symbol von Assisi war es ein kleines und doch sehr achtenswertes Zeichen, daß sich aufgrund einer Initiative des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC) Juden und Christen zu einer ersten gemeinsamen Europabegegnung am 28./29. Januar 2002 in Paris trafen. Es ging darum, die Stimme des europäischen christlich-jüdischen Dialogs in der jetzigen Weltlage vernehmbar zu machen.

Bei der Auftaktveranstaltung mit etwa 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Pariser Rathaus wurden die Entwicklungen im katholisch-jüdischen Verhältnis seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) sowie während des Pontifikats von Johannes Paul II. gewürdigt. Der zweite Veranstaltungsteil mit etwa 130 Fachleuten aus synagogalem, kirchlichem und öffentlichem Leben besonders in Frankreich bekräftigte die Notwendigkeit des Gedenkens der Schoa wie auch des Aufrufs zum Frieden zwischen allen Völkern der Welt. Auch hier wurde jede Tötung im Namen Gottes als dem Geist der Religion strikt widersprechend gegeißelt. So fügt sich das nicht so spektakuläre Treffen von Paris zu jenen Aussagen und Symbolen von Alexandria und Assisi, die zwar in der „heißen Phase“ des bedrückenden Nahost-Konflikts wenig auszurichten vermögen, aber dennoch notwendig sind, um in nachfolgenden Zeiten eine friedensfördernde Wirkung entfalten zu können. Initiatoren des Treffens waren Henri Hajdenberg und Rabbiner Gilles Bernheim, Paris.

Gemeinsame Erklärung der Vertreter des Europäischen Jüdisch-Katholischen Treffens in Paris

„Die Erklärung Nostra aetate (1965) des II. Vatikanischen Konzils - das auf Initiative von Papst Johannes XXIII. zusammengetreten war und dessen Andenken wir ehren - hat nach zwei Jahrtausenden von Vorurteilen und von Leid, das dem jüdischen Volk zugefügt worden war, den Beziehungen zwischen Juden und Katholiken eine neue Richtung gegeben. In einer Reihe von Initiativen von großer symbolischer Bedeutung, angefangen von seinem Besuch in der Großen Synagoge von Rom am 13. April 1986 bis zu seiner Pilgerreise nach Israel und seinem Gebet an der Tempelmauer in Jerusalem, verlieh Johannes Paul II. dieser Beziehung eine neue Dimension und einen neuen Ton. Ähnliches beweisen die Reueakte der katholischen Kirche von Frankreich, von Deutschland und Polen, sowie die Vatikanische Erklärung über die Schoa und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Staat Israel. Dafür bezeugen wir, die jüdischen Teilnehmer dieses Treffens, Papst Johannes Paul II. unsere Ehrerbietung.

Das eben zu Ende gegangene Jahrhundert hat das größte Verbrechen der Geschichte gesehen, bei dem nahezu ein Drittel der jüdischen Weltbevölkerung hingemordet worden war, in einem Europa, zu dessen kulturellem Erbe die Judenheit Großes beigetragen hat. Als Leugnung der Einheit des Menschengeschlechts zwingt die Schoa auf schmerzhafte Weise die gesamte Menschheit, sich selbst und ihre Werte zu prüfen und die Ursachen zu erforschen, die ein solch großes Verbrechen ermöglichten. Diese unsere Überlegungen sollen nicht dazu dienen, neue Ressentiments zu nähren. Vielmehr wollen sie die Fundamente eines geschwisterlichen Zusammenlebens stärken.

In der heutigen Zeit, in der viele sich mit einer Auflösung von Werten abfinden und andere sogar bereit sind, im Namen Gottes zu morden, ist es die Pflicht der geistlichen Führer der verschiedenen Religionsgemeinschaften - wie es auf der jüngsten Zusammenkunft von Assisi geschehen ist -, Rassismus, Antisemitismus und Terrorismus zu verurteilen und alle Völker zum Frieden aufzurufen.

In unserer Aufgabe als Bewahrer der Geschichte des europäischen Judentums und im Sinne der Demokratie bestärken wir unsere Verbundenheit mit dem israelischen Volk. Mit Sorge beobachten wir das Wiederaufleben einer gewalttätigen antijüdischen Stimmungslage, die sich in neuen Ausdrucksweisen zeigt.

Um so mehr begrüßen wir den Kampf, den die katholische Kirche an unserer Seite gegen einen haßerfüllten Mißbrauch der göttlichen Botschaft führt. Wir äußern die Hoffnung, daß diese europäischen jüdisch-katholischen Treffen künftig regelmäßig und auf hoher Ebene stattfinden.“

Der gemeinsamen Erklärung schloß sich folgende separate Erklärung der Vertreter der katholischen Kirche an:

„Wir, die katholischen Teilnehmer dieses europäischen Treffens, erklären öffentlich:

Unsere volle Geschwisterlichkeit mit den jüdischen Gemeinschaften beruht nicht auf politischen Überlegungen, sondern auf unseren tiefsten geistigen Überzeugungen, und besonders auf unserem Glauben an den von Gott besiegelten Bund. In Verantwortung gegenüber der jüdischen Geschichte nehmen wir die Gelegenheit wahr, entschieden unsere bedingungslose Verurteilung von jeglichem Antisemitismus - sei er weltlicher oder religiöser Natur - auszusprechen. Das Christentum kann und darf niemals benutzt werden, um Gewalt in Wort und Tat gegen Juden zu rechtfertigen.

Vor mehr als 50 Jahren drohte Europa sich auf dem Fundament eines hingemordeten Volkes, den Juden, neu aufzubauen. Wir müssen uns daran erinnern, daß sich die europäische Geschichte aus der jüdischen und der christlichen Geschichte aufbaut. Das Europa von heute kann sich nur in seiner Verwurzelung im Gesetz, das Mose am Sinai empfangen hat, verstehen.

Wir halten daran fest, daß die geschichtliche Unterweisung der jungen christlichen Generation über die Schoa deswegen erfolgen muß, damit der Götzendienst der Selbstverherrlichung, den der Nazismus bis hin zur Verwerfung des Mitmenschen und seiner Ausrottung getrieben hat, ein für allemal aus unserer Kultur verbannt wird.

Gleichermaßen wollen wir uns dafür einsetzen, daß den kommenden Generationen eine ehrliche und respektvolle Kenntnis des Judentums vermittelt wird, damit die eindringlichen Richtlinien und Hinweise des Zweiten Vatikanischen Konzils sich nicht nur dem Verstand einprägen, sondern auch in Taten ihren Ausdruck finden.

Wir beten um Frieden für Jerusalem!“ Paris, 29. Januar 2002

(Aus dem Französischen von Alwin Renker. Den Originaltext der Erklärung von Paris verdanken wir Prof. Dr. Jean Halperin, Genf.)

Schreiben von Papst Johannes Paul II. an Kardinal Walter Kasper, Präsident der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, anlässlich seiner Teilnahme am Jüdisch-Katholischen Kongress in Paris:

„[...] Ich freue mich über diese Initiative, die zum Dialog beitragen soll und sich dabei auf den vom Konzil aufgezeigten Weg der katholischen Kirche stützt. Schalom, Friede! Mit diesen Worten aus der Bibel möchte ich meine herzlichen Grüße an alle Teilnehmer des Treffens richten. Es ist von besonderer Bedeutung als eine Art Fortsetzung des am 24. Januar in Assisi veranstalteten Gebetstags für den Frieden in der Welt. Alle Religionen haben sich zum Einsatz für den Frieden verpflichtet; damit haben sie ein Zeichen der Hoffnung für die Welt gesetzt und daran erinnert, daß seine spirituelle und transzendente Natur den Menschen dazu anspornt, den Frieden und die Achtung der Würde jedes Menschen zu fördern. Juden und Christen stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Die Botschaft, die vom Gott des Bundes mit Mose, den Patriarchen und den Propheten zu uns gelangt, gehört zu unserem gemeinsamen Erbe und lädt uns zur Zusammenarbeit im Leben der Welt ein, denn der Allerhöchste ruft uns auf, sowohl heilig zu sein, wie er selbst heilig ist, als auch unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst.

Seit der Erklärung Nostra aetate des II. Vatikanischen Konzils sind zahlreiche Vorhaben - über die ich mich sehr freue - für ein besseres gegenseitiges Verständnis und für eine Versöhnung zwischen unseren beiden Gemeinschaften in die Tat umgesetzt worden. Ein solcher Text ist ein Ausgangspunkt, eine Grundlage und eine Orientierungshilfe für die künftigen Beziehungen. Nach den leidvollen Ereignissen, die die Geschichte Europas vor allem im Laufe des 20. Jahrhunderts geprägt haben, ist es jetzt angezeigt, unseren Beziehungen einen neuen Impuls zu geben, damit die religiöse Tradition, welche die Kultur und das Leben des Kontinents beseelt hat, auch weiterhin Teil seiner Seele bleibt und es ihm auf diese Weise ermöglicht, dem Wachstum des ganzen Menschen und jedes einzelnen Menschen zu dienen.

Aufgrund ihrer jeweiligen Identität stehen Juden und Christen in Verbindung zueinander, und sie müssen die Kultur des Dialogs, so wie sie der Philosoph Martin Buber ins Auge gefaßt hat, weiter entfalten. Es liegt an uns, den neuen Generationen unsere gemeinsamen Reichtümer und Werte weiterzugeben, damit der Mensch nie mehr seinen Bruder im Menschengeschlecht verachtet und Krieg und Konflikte nie mehr im Namen einer Ideologie geführt werden, die eine Kultur oder Religion verachtet.

Im Gegenteil: Die unterschiedlichen religiösen Traditionen sind dazu berufen, ihr Erbe in den Dienst aller Menschen zu stellen, um miteinander das gemeinsame Haus Europa aufzubauen, das von Gerechtigkeit, Frieden, Recht und Solidarität zusammengehalten wird. Dann wird sich das vom Propheten übermittelte Wort Gottes (vgl. Jes 11,6-9) verwirklichen. Die Jugend benötigt unser gemeinsames Zeugnis und Engagement, um zu glauben, um den Namen Gottes durch das ganze Leben zu heiligen und um auf eine verheißungsvolle Zukunft der Welt zu hoffen. Dann wird sie sich darum bemühen, die Bande der Brüderlichkeit zu festigen, um eine erneuerte Menschheit zu bilden. Ich bitte den Allmächtigen, die Arbeiten der Tagung in Paris mit seinem Geist zu erfüllen und die Bemühungen der Teilnehmer fruchtbar werden zu lassen. Der Friede Gottes erfülle das Herz jedes Menschen!“

Editorische Anmerkungen

Quelle: Freiburger Rundbrief Nr. 3, 2002. Vatikan, 25. Januar 2002 (Orig. franz. in L’Oss. Romano 30.01.2002).


Dr. h.c. Hans Hermann Henrix ist Direktor der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen.