„Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an." (Sach 2,12)

Die Initiative zum „Tag des Judentums" geht auf die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung (EÖV2) in Graz (1997) zurück. Im Jahr 2000 hat der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) den „17. Jänner – Tag des Judentums" als Gedenktag im Kirchenjahr eingeführt.

Das Datum für den „Tag des Judentums" ist bewusst gewählt: Den Geist dieses Tages sollen die Kirchen in die anschließende weltweite „Gebetswoche für die Einheit der Christen" (18. bis 25. Jänner) weiter tragen. Denn bei allen Trennungen der Christenheit untereinander sei allen Kirchen gemeinsam, dass sie im Judentum verwurzelt sind.

Der Tag des Judentums ist für Christen verbunden mit dem Eingedenken in die Verstrickung in Schuldzusammenhänge des Antisemitismus. Die Jahrhunderte lang tradierten antijüdischen Stereotypen in der christlichen Theologie, v.a. die Anklage des Gottesmordes trugen zum Gefühl der Selbstgerechtigkeit der Christen bei, trugen bei den Christen zu einer Mentalität bei, die sich vor der notwendigen Solidarität mit den ausgegrenzten und nach und nach auch dem Tod preisgegebenen Opfern des nationalsozialistischen Regimes drückte. Das Bewusstsein der Glaubenssolidarität der Christen mit den Juden war nicht oder viel zu wenig vorhanden. Und es gab zu wenig, viel zu wenig Gerechte. Politische Naivität, Angst, eine fehlgeleitete Theologie, die über Jahrhunderte hinweg die Verachtung des jüdischen Volkes gelehrt hatte, und mangelnde Liebe haben viele Christen damals veranlasst, gegenüber dem Unrecht und der Gewalt zu schweigen, die jüdischen Menschen in unserem Land angetan wurden. Wir Christen bekennen mit dem jüdischen Volk den Gott Israels. Wir erkennen heute beschämt, dass mit der Zerstörung der Synagogen, dass mit der Schoa der Name des Ewigen geschändet wurde, ohne dass viele unserer Vorfahren im Glauben dies gespürt hätten.

„Man hat meinem Gott das Haus angezündet und die Meinen haben es getan. Man hat es denen weggenommen, die mir den Namen meines Gottes schenkten- und die Meinen haben es getan. Man hat ihnen ihr eigenes Haus weggenommen- und die Meinen haben es getan. Man hat ihnen ihr Hab und Gut, ihre Ehre, ihren Namen weggenommen - und die Meinen haben es getan. Man hat ihnen das Leben weggenommen- und die Meinen haben es getan. Die den Namen desselben Gottes anrufen, haben dazu geschwiegen - ja, die Meinen haben es getan. Man sagt: Vergessen wir's und Schluss damit. Das Vergessene kommt unversehens, unerkannt zurück. Wie soll Schluss sein mit dem, was man vergisst? Soll ich sagen: Die Meinen waren es, nicht ich? - Nein, die Meinen haben so getan. Was soll ich sagen? Gott sei mir gnädig! Was soll ich sagen? Bewahre in mir Deinen Namen, bewahre in mir ihren Namen, bewahre in mir ihr Gedenken, bewahre in mir meine Scham: Gott sei mir gnädig."[1]

So tragen wir unsere Ehrfurcht vor den Opfern, unseren Schmerz über das bis dahin unausdenkbare Leid, das dem jüdischen Volk angetan wurde, unsere Klage und unsere Hoffnung, dass nicht die Täter, sondern die Opfer und deren Würde das letzte Wort in der Geschichte haben, vor Gott den Richter menschlicher Geschichte vor.

Papst Benedikt XVI. hat in Auschwitz am 28. Mai 2006 von Auschwitz als einem „Verbrechen gegen Gott und den Menschen ohne Parallele in der Geschichte"[2] gesprochen hat. Der Papst stellt sich auf die Seite derer, die die Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit der Schoa betonen.

„An diesem Ort des Grauens ... zu sprechen, ist fast unmöglich – ist besonders schwer und bedrückend für einen Christen, einen Papst, der aus Deutschland kommt. An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen."

Die wortgewandte Rede des Gelehrten weicht dem Gestammel des Beters, wenn sich die Ohnmacht der Sprache geradezu in einem „Schrei" entlädt, der sich im Sinne einer theodizee-empfindlichen Spiritualität der Klage an Gott selbst wendet: „Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden?"[3] Benedikt begründet die Singularität der Schoa theologisch:

„Im tiefsten wollten jene Gewalttäter mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Maße des Menschseins aufgerichtet hat. Wenn dieses Volk einfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat und ihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nur noch dem Menschen gehören - ihnen selber, die sich für die Starken hielten, die es verstanden hatten, die Welt an sich zu reißen. Mit dem Zerstören Israels, mit der Schoa, sollte im letzten auch die Wurzel ausgerissen werden, auf der der christliche Glaube beruht."[4]

Biblisch gesprochen wird „Gottes Augapfel" überall dort angetastet, wo sein auserwähltes Volk bedroht und verfolgt wird (vgl. Sach 2,12).[5]

Adam, wo bist du?

Johann Baptist Metz plädiert für eine moralische Auffassung von Tradition, die nur dann Maßstäbe für das eigene Handeln aus der Geschichte gewinnt, wenn sie sich der katastrophischen Dimension der Geschichte stellt. Für diese Auffassung von Tradition ist es entscheidend, dass sich der Erinnernde in ein moralisches Verhältnis zum Erinnerten setzt, also den neutralen Standpunkt distanzierend verfahrender, am Objektivitätsideal orientierter Geschichtsforschung überwindet. Eine anamnetische Kultur gedenkt der verstummten Opfer und erklärt sich mit ihnen solidarisch.[6] – Es besteht die Gefahr, das Grauen von Auschwitz metaphysisch aufzuladen und Auschwitz zu einer Art negativem Mythos zu stilisieren. Eine solche Stilisierung zu einem tragischen Betriebsunfall der Geschichte würde aber den Standpunkt der Verantwortung, der Scham und der Umkehr auflösen und der Tendenz zur Enthistorisierung des Geschehens Vorschub leisten.[7] Was war in der Geschichte unseres Landes, in den Köpfen und Herzen der Menschen unseres Landes, dass solche Ausgeburten des Bösen geschehen konnten. Und wir fragen uns, warum Gott so etwas zugelassen hat:

„Wo warst Du, Gott? Wo warst Du, als Frauen und Kinder, alte und junge Leute ermordet und in die Todeskammern geschickt wurden?" Es geht in letzter Konsequenz um Fragen an uns selbst: „Wo war der Mensch - und wo die Menschlichkeit -, als unseren Brüdern und Schwestern so Furchtbares zugefügt wurde?"[8]

„Wo bist du?" (Gen 3,9) Das ist die Urfrage Gottes an den Menschen. Die Bibel spricht nicht nur von der Suche des Menschen nach Gott, sondern auch von Gottes Suche nach dem Menschen. „Von Anbeginn an hast Du den Menschen ausgesondert und für würdig erachtet, in Deiner Gegenwart zu stehen", heißt es in der Liturgie des Versöhnungstages.[9]

Es ist dies die Urfrage von Religion nach Abraham J. Heschel:

„Adam, wo bist Du?" (Gen 3,9). Das ist der Ruf, der immer wieder ergeht. Es ist ein leises, zartes Echo auf eine leise, zarte Stimme; nicht in Worte gefasst, nicht ausgedrückt in den Kategorien des Geistes, sondern unbeschreiblich und geheimnisvoll wie die Herrlichkeit, von der die ganze Erde erfüllt ist. Es ist eingehüllt in Schweigen, verborgen und gedämpft, und doch ist es, als seien alle Dinge das erstarrte Echo der Frage: Wo bist Du? Glauben kommt aus der Ehrfurcht, aus dem Bewusstsein, dass wir Seiner Gegenwart ausgesetzt sind; aus dem dringenden Verlangen, Gottes Herausforderung zu entsprechen, aus dem Bewusstsein, heimgesucht zu sein. Religion ist Gottes Frage und die Antwort des Menschen. ... Der Weg zu Gott ist der Weg Gottes. Wenn nicht Gott die Frage stellt, ist all unser Fragen umsonst. ... Gottesdienst und Kultus haben die Aufgabe, unsere Wachsamkeit zu erhöhen und unsere Wertschätzung für das Geheimnis zu stärken."[10]

„Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Kain entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders?" (Gen 4,9) – Die Botschaft der jüdischen und der christlichen Bibel mutet uns zu, dass wir einander aufgetragen sind, einander Patron sind, füreinander sorgen, Verantwortung tragen, einander Hüter und Hirten sind. Die Bibel traut uns zu, dass wir Freunde und Anwälte des Lebens sind, dass wir Lebensräume schaffen, in denen in die Enge getriebene Menschen Ja zum Leben sagen können. Die Erinnerung an die Ermordung der Juden und an die Schoa bleibt für Christen durch den Gedanken der Verstrickung in Schuldzusammenhänge, das gläubige Vertrauen auf die erlösende Macht Gottes und die aufrichtige Bitte an Gott und an sein erwähltes Volk um die Schuldvergebung strukturiert.

Besinnung auf die Wurzeln

Heute bekennen wir alle dankbar, dass es nicht möglich ist, Christ zu sein, ohne die jüdischen Wurzeln des Glaubens hochzuschätzen. „Dabei durften wir – beschämt und beschenkt zugleich – das jüdische Volk als das Volk des ersten, nie gekündigten Bundes Gottes mit den Menschen wiederentdecken." Anknüpfend an die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils sagte Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in der Synagoge von Rom am 13. April 1986:

„Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ‚Äußerliches', sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Inneren' unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen, wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder."

Der Glaube an den einen Schöpfergott ist Christen und Juden ebenso gemeinsam wie die Gebote des Dekalogs oder die Hoffnung auf den Messias.

Das Gedenken an die Schoa ist Anlass, heute deutlich zu machen:

  • Die Kirchen sind dankbar für das Gotteslob des jüdischen Volkes. Dieses Gotteslob führt uns zur Quelle unseres eigenen Glaubens.
  • Die Kirchen sind dankbar für die vielfältigen Formen jüdischen Lebens in unserem Land.
  • Die Kirchen verstehen und lehren ihren Glauben so, dass dies nicht in Abwertung der jüdischen Religion geschieht, sondern in stetiger Erinnerung an Gottes Treue zu seinem erwählten Volk.
  • Wir sind wachsam gegenüber jeglicher Form von Politik, die auf Abwertung und Ausgrenzung von Minderheiten setzt. Insbesondere sind wir hellhörig im Hinblick auf jede Form des Antisemitismus und werden ihr entschieden entgegen treten.[11]

Mit dem jährlich gefeierten „Tag des Judentums" bringen die christlichen Kirchen in Österreich die Besinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums zum Ausdruck. Welchen Verlust hat die Kirche erlitten, als sie sich vom jüdischen Leben distanzierte und als der Einstrom israelitischen Lebens in ihr versiegte? Israel war und ist der leibhaftige Träger und Einbringer der Wirklichkeit von Offenbarung, Erwählung und Bund in die Kirche.[12] Durch die Distanzierung von Israel hat sich ein allzu statisches, allzu geschichtsloses und einseitig begriffliches Verständnis von Kirchen durchgesetzt, sodass das lebendige Bewusstsein weitgehend fehlte, mit Abraham als dem Erstgerufenen Gottes herausgerufenes Volk zu sein. Israel hätte dieses Bewusstsein einzubringen als sein Erbe. – Es bedeutet drittens das allzu geringe Wissen des Herzens um den Gottesbund. Man weiß um politische Bündnisse und ihre Tragweite, aber schon die für Israel schlechthin wesentliche Vokabel ,Bund mit Gott' liegt für viele weitab. Die unerlässlichen Konsequenzen einer Existenz in und aus diesem Bunde mit dem heiligen Gott werden dementsprechend nicht genügend gelebt und gesehen. – Damit hängt dann viertens zusammen der mangelnde Glaube an die Bundesverheißung, der fehlende Mut zum Auszug, zur Wüste, zur unbürgerlichen dynamischen Existenz auf das Königtum Gottes hin. – Und es bedeutet fünftens das Nicht-mehr-Verspüren der Israel eigenen messianischen Ungeduld, wie sie Jesu letztes Wort in der Bibel „Ja, ich komme bald!" in uns entfachen und wach halten wollte.[13]

Der Jude Jesus

„Christen sind aufgerufen, ihre Auffassungen über Juden und Judentum unter dem Gesichtspunkt der Gemeinsamkeit zu prüfen und, wo nötig, zu ändern. Dabei kann es nicht darum gehen, wahrhaft Trennendes zu leugnen oder falsche Kompromisse zu schließen. Uns eint und trennt vor allem die Person Jesu, der Jude war und für uns Christen Sohn Gottes und Erlöser der Welt ist. Das Aufzeigen der gemeinsamen Wurzeln lässt uns aber das Judentum in seiner Identität besser verstehen und hilft uns zugleich, vielleicht verschüttete Dimensionen unseres Glaubens zu erschließen."[14]

Es kommen Dimensionen der Christuswirklichkeit, Züge des Antlitzes Jesu, die von uns längst nicht mehr gesehen werden, zum Leuchten, wenn wir zu einem neuen Gespräch mit Israel finden.

Wer Jesus kennen will, muss das Volk kennen, in das er gehört, seine Geschichte, seine Überlieferung (das AT), seine großen Gestalten, sein Leben, seine Seele und sein Schicksal bis heute. Jesus ist für den Christen nicht ohne sein Judentum zu haben. Er muss daher Abschied nehmen von einer langen Tradition, die aus Jesus ein internationales Subjekt, ein allgemeines Individuum gerecht hat, bis hin zu den Versuchen, einen russischen Christus (Dostojewski) oder einen Jesus des reinen, arischen Blutes zu dichten (christliche Theologen während des Nationalsozialismus). Wir müssen ihn aus seiner allgemeinen, vom Judentum gesäuberten Menschlichkeit zurückkehren lassen in sein Volk, zu seinem Charakter und seinem Gesicht, das er haben wollte. Was dabei aussieht wie eine Verengung, wie Vereinzelung und Beschränkung, ist die Wahrheit des konkreten Lebens Jesu, und ist der Wahrheit nach mehr als das Allgemeine, ideell über der Szene der Völker Schwebende. Denn so geht Jesus, den die Christen als den Sohn Gottes und Bruder aller Menschen verehren, wirklich ein in die Geschichte der Stämme, der Gruppen, in das unendliche Geflecht der Beziehungen, nicht von oben, sondern aus einer bestimmten Ecke der Welt.

[1] Klagegebet von Klaus Hemmerle, geschrieben für den 10. November 1988, dem 50. Gedenktag der Reichspogromnacht 1938.

[2] Benedikt XVI., Wo war Gott? Die Rede in Auschwitz, Freiburg 2006,9.

[3] A.a.O.

[4] Benedikt XVI., Wo war Gott? 11.

[5] Vgl. Joseph Ratzinger, Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart 1999, 267f.; dazu Jan-Heiner Tück, Zur Einzigartigkeit der Shoah, in: IkaZ (Communio) 39 (2010) 440-453, hier 444-450.

[6] Vgl. Johann B. Metz, Kirche nach Auschwitz. Mit einem Anhang: Für eine anamnetische Kultur, Hamburg 1993, 19.

[7] Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 21992, 12.

[8] Christoph Kardinal Schönborn, Das Volk Israel lebt. Ansprache in der Gedenkstätte Yad Vashem am 8. November 2007.

[9] Abraham J. Heschel, Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen – Vluyn 4 1995, 104.

[10] Abraham J. Heschel, Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen – Vluyn 4 1995, 105.

[11] 75 Jahre November Progrome. Erklärung des Vorstands des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ), 7. November 2013.

[12] Vgl. Heinrich Spaemann, Die Christen und das Volk der Juden (Münchner Texte – Impulse aus Gnadenthal 7) München 1966, 22.

[13] Heinrich Spaemann, Die Christen und das Volk der Juden 23.

[14] Die Last der Geschichte annehmen. Wort der Bischöfe zum Verhältnis von Christen und Juden aus Anlass des 50. Jahrestages der Novemberprogrome 1938, hg. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1988,11.

Editorische Anmerkungen

Manfred Scheuer ist Bischof von Innsbruck.
Quelle: Homepage der Diözese Innsbruck.