Weder Klärung noch Fortschritt

Anfang Oktober stellte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihre „Orientierungshilfe zum Thema Land und Staat Israel“ vor.[1] Erarbeitet hat sie der „Gemeinsame Ausschuss »Kirche und Judentum«“ der drei evangelischen Kirchenbünde. Er nahm sich dafür fünf Jahre Zeit. Man ahnt, im Ausschuss wurde viel debattiert.

 Ziel ist, „die oft hoch emotional und polarisierend geführte Diskussion um Land und Staat Israel zu versachlichen“ und es dem Leser zu ermöglichen „zu einem begründeten, eigenständigen Urteil zu kommen“. Letzteres wird eingeschränkt, da keine Nachweise für getroffene Aussagen an die Hand gegeben werden.

Zu Beginn „bejaht“ die Orientierungshilfe „das Existenzrecht des Staates Israel“. Es berührt eigentümlich, wenn dies in den Kirchen immer noch ausdrücklich betont werden muss. In der Folge bringt die Studie grundlegende Informationen zu den Landverheißungen der Bibel, benennt Aspekte jüdischen wie muslimischen Verständnisses des Landes Israel und der Stadt Jerusalem, skizziert die Kirchengeschichte des „Heiligen Landes“, zählt theologische Positionen auf und führt in evangelisches Staatsverständnis ein. 

Als erste Einführung in das Thema ist das alles hilfreich. Am Ende hat der Leser nachvollzogen, inwiefern Christen vom Land Israel als „heiligem“ oder „gelobten Land“ sprechen können, ohne damit Territorien zu umreißen oder den Staat Israel religiös zu legitimieren, was dieser wie jeder Staat nicht nötig hat.

Eine wirkliche Weiterführung ihres Themas gelingt der Orientierungshilfe nicht. Dazu müsste sie mehr Farbe bekennen. So fordert sie Christen zwar auf, sich „am Überleben des von Gott erwählten jüdischen Volkes“ im Staat Israel mitzufreuen (was nach der Shoa in Deutschland leicht makaber klingt), um faktisch sogleich mit einem doppelten „kann“ einzuschränken: Die Staatsgründung „kann als ein Mittel erscheinen“, um „Juden ein Leben im Land Israel in Recht und Frieden zu ermöglichen“. Sie „kann“ als ein „Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk“ gedeutet werden. Also kann man sie christlich weiterhin auch anders verstehen? Mehr als 30 Jahre nach der rheinischen Synodalerklärung zum Thema bietet die Orientierungshilfe hier weder Klärung noch Fortschritt.

Der Grund dürfte in unausgesprochener Rücksichtnahme auf Muslime und palästinensische Christen liegen. Die Studie meint, dass es christlicherseits „für die Beschäftigung mit dem Judentum und der Situation im Nahen Osten … eine Rolle (spielt), dass in der Bundesrepublik heute auch Muslime leben, die aus der Region stammen“. Das wäre neu, wenn christliches Selbstverständnis von muslimischer Präsenz in Deutschland mitbestimmt würde. Im Blick auf christlich-palästinensische Theologie benennt die Studie zwar deren Differenz zu hier geprägter Israeltheologie, etwa wenn diese die Erwählung Israels aufhebt und die Landverheißungen der Bibel allen „Schwachen“ und damit jetzt primär den Palästinensern gelten lässt. Doch Schlussfolgerungen daraus überlässt sie dem Leser.

Die Orientierungshilfe enthält bei den Informationen über die Gegenwart im Staat Israel und in den palästinensischen Autonomiegebieten leider etliche Fehler oder Ungenauigkeiten. So wurden die Juden in der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes nicht aus der römischen Provinz Syria Palaestina vertrieben (S. 17), sondern aus der Provinz Judaea; Kaiser Hadrian nahm die Umbenennung im Jahre 136 vor. Die Autoren sehen den Beginn der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel in Spannung zur biblischen „‚Geburt‘ des ju¨dischen Volkes in Ägypten“ (18); damit stehen sie freilich selbst in Spannung zu jüdischem Selbstverständnis und verwenden den Begriff „jüdisches Volk“ ahistorisch.

Eine Besonderheit Israels gegenüber anderen modernen Demokratien sieht die Orientierungshilfe darin, „dass dieser Staat sich nicht nur als ‚demokratisch‘, sondern auch als ‚jüdisch‘ definiert“ und „allen Jüdinnen und Juden das Recht auf Einwanderung“ garantiert (95). Nun, auch die Bundesrepublik versteht sich als „deutsch“ – das Grundgesetz gilt „für das gesamte Deutsche Volk“ – und hat daher etwa den Wolgadeutschen die Einwanderung ermöglicht. Bei weiteren Begründungen für die „Besonderheit Israels“ irren die Autoren: Der Sabbat ist nicht „der wöchentliche Feiertag“ in Israel; anders als in Deutschland mit dem Sonntag als gesetzlichem Feiertag steht es israelischen Bürgern frei, je nach Religionszugehörigkeit den Freitag, Samstag oder Sonntag als Feiertag zu halten. Auch „das Personenstandswesen wird nicht … durch das Rabbinat geregelt“, sondern den alten osmanischen Rechtsprinzipien folgend von der jeweiligen Führung der Religionen im Staat. Schließlich sind „palästinensische Israeli“ nicht „aus Sicherheitsgründen vom Wehr- und Sicherheitsdienst ausgeschlossen“, sondern davon befreit; sie können sich freiwillig melden. 

Solche Ungenauigkeiten und Fehler häufen sich vor allem in der Beschreibung der „Lebensverhältnisse der Christen im Heiligen Land“ (71f).

[1] Gelobtes Land? Land und Staat Israel in der Diskussion. Eine Orientierungshilfe, herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Union Evangelischer Kirchen in der EKD und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, 128 S. u. 16 S. vierfarbiger Bildteil, Gütersloh 2012, 6,99 €. Die Studie kann als pdf-Datei hier geladen werden: Gelobtes Land

Editorische Anmerkungen

Ricklef Münnich ist evangelischer Theologe, Pfarrer und Evangelischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR).