Was uns an Gott fehlt, wenn uns die Juden fehlen

Die Rezeption von bereits vorliegenden Theologien einer positiven Verhältnisneubestimmung zwischen Christen und Juden ... erfolgt, wenn überhaupt, nur unter großen Widerständen. Zugleich aber werden nach wie vor gravierende Negativurteile über die Juden gefällt und weiter tradiert.'

Karl-Heinz Minz

Was uns an Gott fehlt, wenn uns die Juden fehlen

Im Kontext Ihrer Tagung über die "Christliche und jüdische Identität nach Auschwitz" möchte ich einige Aporien und offene Fragen thematisieren, wie sie sich heute innerhalb der katholischen Theologie und Kirche darstellen.

In einem ersten Block werde ich das Thema mit Hilfe der gleichnamigen Monographie von Paul Petzel begründen. Anschließend soll an einigen exemplarischen Befunden das "Fehlen der Juden" in der christlichen Theologie dargelegt werden. In einem dritten Teil werden dann abschließend die Konsequenzen und Prognosen aus diesem Befund reflektiert.

I. Grundlegung des Themas

Christ sein bestimmt sich wesentlich als Zeugnisgeben von einem gründenden Ursprung. Dabei erweist es sich als grundlegendes Merkmal, wie die Zeugengemeinschaft, die diesen Jesus als ihren Christus und ihren Herrn bekennt, seiner Botschaft nachgefolgt ist und wie sie ihm heute nachfolgt. Christliche Wahrheit ist wahr nur und ausschließlich als Zeugenwahrheit. Hierin erhalten christliches Leben und christlicher Glaube ihre Identität. Begründungs- und Vermittlungsstrukturen des Osterglaubens machen diesen Zusammenenhang vom Zentrum des christlichen Glaubens her deutlich.

Identität beinhaltet hier also die lebendige Verbindung mit dem konstituierenden Grund jeden Christseins - mit dem Juden Jesus von Nazareth. In diesem Vermittlungsgefüge ist sicher auch die tiefenpsychologische Bestimmung von Identität von hoher Bedeutung;1 darauf soll aber hier nicht weiter eingegangen werden.

Zugleich ist festzuhalten, daß ohne die nahezu 2000 Jahre christliche Judenfeindschaft "Auschwitz" nicht möglich gewesen ist. Dadurch erweist sich "Auschwitz" als die radikale Infragestellung des gesamten christlichen Glaubens, und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits als Schuld und Sünde, damit andererseits auch als Negation der Identität dessen, der Zeugnis von seinem Ursprung gibt. In bezug auf den gründenden Grund ihres Glaubens und die Zeitgenossenschaft mit ihm „muß heute stets mitgesehen werden, daß durch den Juden Jesus von Nazaret der Christ unaufgebbar einbezogen bleibt in diese konkrete Heilsgeschichte und Selbstmitteilung Gottes an sein erwähltes Volk Israel. Ereignet sich diese Selbstzusage Gottes im und als ‘Mitsein’ in der Bundesgeschichte Israels, und zwar als JHWH selbst, in Wort und Geist, dann ergibt sich von diesem concretum her, daß es eine Einheit der Heilsgeschichte begründet."2Innerhalb dieser heilsgeschichtlichen Einheit einer Bundeswirklichkeit hat die christliche Theologie von Jesus und von Christus zu sprechen.

Paul Petzel hat in seiner wegweisenden Dissertation "Was uns an Gott fehlt, wenn uns die Juden fehlen"3 diese Zusammenhänge ausführlich reflektiert. Dieser Titel geht auf eine Feststellung des Berliner Theologen Friedrich-Wilhelm Marquardt zurück, der in seinem Werk "Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik"4 schreibt: "Und wenn es nach Auschwitz überhaupt noch einen Auftrag für Theologie gäbe, dann den: dem nachzudenken, was uns an Gott fehlt, wenn wir Israel verloren geben." Angesichts der christlichen Schuld an Auschwitz und des damit verbundenen Identitätsverlustes besteht für eine Theologie nach Auschwitz die Forderung zu einer radikalen Neubesinnung. "Eine Theologie, die ihre eigene Tradition nicht verleugnen will, muß dann nüchtern und selbstkritisch einräumen, daß dem politischen und juristischen Verjagen der Juden ihre theologische Disqualifizierung, daß ihrem Ausschluß aus der gesellschaftlichen Mitwelt die theologische Exkommunikation aus heilsgeschichtlichen Lebenszusammenhängen vorausging."5

Wegweisende Lineaturen einer solchen Neubesinnung lassen sich mit Hilfe des vorliegenden Werks von Petzel skizzieren. Demnach hat vom Zeugnischarakter christlicher Existenz ausgehend die christliche "Theologie an einer Form zu arbeiten, in der sich das In-, Mit- und Pro-Israel-sein ihres Herrn nachvollzieht und eine entsprechende Lebenspraxis der Christen provoziert".6

Insofern stellt sich das ungeheuerliche Geschehen der Shoah als radikale Infragestellung, wenn nicht sogar als Falsifikation christlichen Zeugnisses dar; denn Judenhaß von Christen ist eine abgründige Verleugnung Jesu. Doch auch angesichts des Menetekels "Auschwitz"7 fehlt es heute noch immer an christlicher Trauerarbeit.8 Im Gegenteil: Die Rezeption von bereits vorliegenden Theologien einer positiven Verhältnisneubestimmung zwischen Christen und Juden, z. B. der 1981 erschienenen "Freiburger Leitlinien zum Lernprozeß Christen Juden",9 erfolgt, wenn überhaupt, nur unter großen Widerständen. Zugleich aber werden nach wie vor gravierende Negativurteile über die Juden gefällt und weiter tradiert.

Als Fazit der Analyse christlicher Theologien ergibt sich: Das Jüdische ist allem Christlichen wesentlich inne. Kirche, Theologie und Glaube bleiben konstitutiv auf Israel verwiesen und gewinnen ihre Identität nur an und aus Israel. Nach F.-W. Marquardt ist von Jesus her ein lutherisches "totaliter aliter" als Verhältnisbestimmung zwischen Altem und Neuem Testament auszuschließen.10 Stattdessen bleibt die Aufgabe gestellt, eine Christologik - und darin eine Theologik - zu suchen, "in der entgegen den vorherrschenden Traditionen die christologischen Aussagen nicht als Movens der theologischen Liquidierung der Juden fungieren, sondern Nähe zu und Verbundenheit mit den Juden überhaupt erst erkannt und gestiftet werden kann."11 Positiv: Nach der Konzilserklärung Nostra aetate Nr. 4, von Papst Johannes Paul II. als entscheidende Wende im Verhältnis zwischen Christen und Juden herausgestellt, "steht Israel unverbrüchlich im Bund. Nur im Raum, den der Bogen dieses Bundes aufspannt, kann christliche Theologie nach den Juden und ihrer Bedeutung für die eigene Gottesrede suchen".12 Die bleibende Verwiesenheit "der Christen auf die Juden im Stehenvor Gott wiederholt sich im Reden von Gott".13 Wird von Christen und Christinnen diese bleibende Berufung Israels verneint oder verzerrt, wird dadurch Gottes Heilshandeln bestritten oder ideologisch verzeichnet.

II. Der tatsächliche Stand der Verhältnisbestimmung

Im Blick auf die zahlreichen Aktivitäten innerhalb der katholischen Kirche mag es heute - 50 Jahre "nach Auschwitz" - den Anschein haben, die - auch von neueren kirchenamtlichen Verlautbarungen - geforderte Verhältnisneubestimmung sei tatsächlich in vollem Gange und habe substantielle Fortschritte erzielt. Wegweisende Dokumente liegen seit langem vor, z. B. das Arbeitspapier des Gesprächskreises "Juden und Christen" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 8. Mai 1979 mit dem Titel "Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs" sowie die "Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche" vom 24. Juni 1985 der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum im Sekretariat für die Einheit der Christen.

Bei einem genaueren Hinsehen wird jedoch deutlich, daß es sich in den allermeisten Fällen um reine Alibiaktivitäten handelt, die den status quo in bezug auf die Juden völlig unverändert lassen: Juden werden nicht als Subjekte anerkannt und geachtet, sondern nach wie vor christlicher Definitionsanmaßung unterworfen. Einige wenige Beispiele können zur Verdeutlichung genügen, und zwar aus dem Bereich der wissenschaftlichen Theologie und aus dem im Jahre 1993 erschienenen Katechismus der Katholischen Kirche. Einen Eindruck vom Ist-Stand der Katechese vermittelt eine weitverbreitete Kinderbibel des Verlags Herder in Freiburg/Breisgau.

1.) Ein Beispiel aus der Katechese

Als repräsentative Stichprobe aus dem Bereich der Katechese kann die von Elmar Gruber herausgebene Kinderbibel "Die Bibel in 365 Geschichten erzählt" angesehen werden.14 Es handelt sich um eine Auswahlbibel, in die solche Erzählungen aufgenommen wurden, "die besonders grundlegend sind für den christlichen Glauben und solche, die besonders bekannt und beliebt sind. Vor allem verfolgt die Auswahl auch das Ziel, ein zusammenhängendes Bild zu geben über die Geschichte Gottes mit den Menschen" (so der Herausgeber in seiner Einführung). Dieses Ziel ist jedoch völlig verfehlt worden, da der Herausgeber eine Perspektive vertritt, welche die Judenheit zur Zeit Jesu als Unheilskollektiv zeichnet, das dann mit dem Kommen Jesu von Nazareth als Negativfolie abgetan werden kann. Hierzu tragen die falschen Harmonisierungen zwischen den Evangelien ebenso bei wie die fehlenden Lesehilfen und theologischen Erläuterungen. Ein fundamentalistisches Bibelverständnis prägt alle Erzählungen; die Zeichnungen von John Haysom können durchaus als Edelkitsch nach Stil der Wachtturmhefte charakterisiert werden; sie verstellen einen Zugang zur biblischen Botschaft.

Dieses "biblische Geschichtenbuch für Kinder und Jugendliche" (so der Hinweis auf der 4. Umschlagseite) enthält zahlreiche und gravierende Antijudaismen, die nach den heutigen kirchenamtlichen Verlautbarungen zur Verhältnisbestimmung zwischen Christen und Juden nicht mehr vertreten werden dürfen. Einige Beispiele mögen hier genügen: Juden als Negativfolie, Pharisäerschelte, unhaltbare antijüdische Polemik, Schuldzuweisungen für den Tod Jesu und Freispruch für den Despoten Pilatus, antijüdisches Verstockungsmotiv, Behauptung einer jüdischen Kollektivschuld am Tode Jesu.

Es ist daher unverständlich, aus welchen Gründen für dieses Buch die kirchliche Druckerlaubnis des Ordinariats München erteilt wird. Soll dieses Imprimatur eine Albifunktion erfüllen?

Diese Kinderbibel ist ein Beispiel dafür, wie heute in der Katechese antijüdische Vorurteile wider besseres Wissen und in vollem Gegensatz zu positiven kirchlichen Verlautbarungen verbreitet werden. Der überwiegende Teil der Leserinnen und Leser wird nicht in der Lage sein, sich dieser Woge antijüdischer Vorurteile, die das Buch enthält, erfolgreich entgegenzustellen.

2.) Beispiele aus der wissenschaftlichen Theologie

In einem fachwissenschaftlichen Referat hält der katholische Alttestamentler Frank-Lothar Hossfeld noch im Jahre 1995 an seiner Auffassung fest, daß das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament/Bund grundsätzlich als "totaliter aliter", als qualitativ gegensätzlich also, bestimmt werden muß. 15 Eine jüdisch akzentuierte Bundestheologie wird hingegen mit aller Entschiedenheit abgelehnt. Er disqualifiziert dabei z. B. die Bundestheologie von Rabbiner Leo Baeck mit folgenden Worten: "Wenn der Bund mit Gott und den Menschen ewig ist [wie es Baeck in Interpretation der jüdischen Tradition sagt], dann besteht überhaupt kein Anlaß mehr zu einer Konzeption von einem neuen Bund." Hossfeld wertet dabei das Denken Baecks als "theologische Lyrik" ab.

Das Judesein Jesu wird mit einem - unzutreffenden und unsinnigen - Vergleich aus der Musikgeschichte nivelliert, wenn es heißt: "Es ist ein weiter Weg von dem Faktum, daß Ludwig van Beethoven Bonner gewesen ist, bis zur Komposition seiner neun Symphonien. Es kann meiner Meinung nach nicht sein, daß das Faktum des Jude-seins Jesu dessen Leben und Wirken vollständig erfaßt."

Bei diesen Disqualifizierungen eines "totaliter aliter" bleiben die Äußerungen des kirchlichen Lehramtes völlig unberücksichtigt. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, daß von Jesu Lehre her auszuschließen ist, daß er Anlaß zu einer solchen von Hossfeld geforderten Bundesbruchtheologie gegeben hat.

Er nimmt mit dieser seiner Auffassung jedoch den Standpunkt des "Hobbytheologen" (so seine Selbsteinschätzung in der Replik auf Micha Brumlik) Franz Alt ein, der in seinem dezidiert antijüdischen Buch "Jesus - der erste neue Mann"16 behauptet: "Jesu Reden und Lehren waren nicht irgendwie anders, er war ganz anders - der größte Kontrast zu seiner jüdischen Umwelt, den man sich vorstellen kann."

Es ergibt sich der Eindruck, daß bei diesen Ausführungen und Wertungen von Hossfeld nicht ein möglichst vorurteilsfreies exegetisches Arbeiten Anwendung gefunden hat, sondern daß Angst Pate gestanden hat - eine Angst, die ihren Grund in einem mißverstandenen Absolutheitsanspruch des Christentums ihren Grund hat, Angst auch davor, die eigene Arbeit einer Revision zu unterziehen. Es handelt sich hier um eine antijüdische Ideologie, in der Juden nicht als Subjekte anerkannt und geachtet werden, sondern einem sehr subjektiven Standpunkt alttestamentlicher Theologie und ihrer Definitionsanmaßung unterworfen werden.

Der Neutestamentler Helmut Merklein bezeichnet in Band 111 der Stuttgarter Bibelstudien Israel als "Unheilskollektiv". Er schreibt in Auslegung von Lk 13,3.5: "Jesus hält es für müßig, darüber zu streiten, wer in Israel Sünder ist und wer nicht. Das göttliche Strafurteil trifft vielmehr alle, weil alle ohne Ausnahme Sünder sind. Ganz Israel ist ein einziges Unheilskollektiv. Ihm bleibt nur eine letzte Chance: die Umkehr."17

In der 3., überarbeiteten Auflage, die 1989 erschienen ist, heißt es dann auf der gleichen Seite aber: "Jesus hält es für müßig, darüber zu streiten, wer in Israel Sünder ist und wer nicht. Mit dem göttlichen Zorngericht ist vielmehr ganz Israel konfrontiert. Ihm bleibt nur noch eine letzte Chance: die Umkehr." Hier ist der Begriff "Unheilskollektiv" als solcher zwar gestrichen und die "Aussicht" auf Bestrafung zurückhaltender formuliert; der Sache nach aber ist überhaupt nichts von der "christlichen" Vorverurteilung Israels zurückgenommen worden. Der evangelische Neutestamentler Erich Gräßer, dem der vorliegende Band gewidmet ist, vertritt einen ähnlichen Standpunkt, u. a. gegen den Synodalbeschluß der Rheinischen Landessynode vom 10.1.1980 "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" sowie gegen die Theologie der zwei Heilswege von Franz Mußner.18

Wie bereits bei Adolf Harnacks Vorlesungen über "Das Wesen des Christentums" (Berlin, Wintersemester 1899/1900), kann auch hier und heute von christlichen Theologen eine Negativfolie konstruiert werden, die einen Jesus zeigt, der als "absoluter Heilsbringer" (im Sinne z. B. der Dogmatik von Karl Rahner) für die exegetische Entfaltung einer (dogmatischen!) Sühnetheologie benutzt wird, und zwar nach dem Schema: Unheilskollektiv - Kollektivschuld - christologische Sühnetheologie. Die heilsmittlerisch-sakramentale Funktion der Toraals Gnade19 wird dadurch unerwähnt gelassen bzw. christologisch-dogmatisch radikal zu Lasten Israels umgedeutet. Insbesondere stellt sich die Frage, wie von Jesu Tora-Verständnis her eine solche Bewertung als "Unheilskollektiv" überhaupt möglich sein soll. Es soll hier nur angemerkt werden, daß sich in anderen theologischen Disziplinen, wie z. B. der Dogmatik und der Moraltheologie, vergleichbare antijüdische Konstrukte finden. Von daher hat die Bestandsaufnahme von Charlotte Klein, die sie 1975 unter dem Titel "Theologie und Anti-Judaismus. Eine Studie zur deutschen theologischen Literatur der Gegenwart" 20 vorlegte, auch 21 Jahre nach ihrem Erscheinen nichts von ihrer Aktualität und Dringlichkeit verloren. Angesichts der heute immer noch vorherrschenden und wiedererstarkenden theologischen Antijudaismen und antijüdischen Vorurteile ist eine Neuauflage dieses Buches eine Notwendigkeit.

3.) Der Katechismus der Katholischen Kirche

Stammen die eben genannten Antijudaismen von katholischen Theologieprofessoren, von Repräsentanten des kirchlichen Lehramtes also, so findet sich im 1993 erschienenen Katechismus der Katholischen Kirche (dt. 1993; im folgenden abgekürzt KKK) ebenfalls eine deutliche Negativzeichnung von Juden und Judenheit.

Es hat durchaus Symptomwert, nämlich den einer Verdrängung, daß der "Gesprächskreis ‘Juden und Christen’ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken" mit Datum vom 18. Mai 1995 zwar einen "Zwischenruf" zu diesem Weltkatechismus verabschiedet hat, daß jedoch das Präsidium des ZdK beschlossen hat, "den Text der Erklärung vorerst nicht zu veröffentlichen. Er soll vielmehr zunächst dem Hauptredaktor, Erzbischof-Koadjutor Dr. Christoph Schönborn OP, Wien, zugeleitet werden ... Nach der Antwort von Erzbischof-Koadjutor Schönborn will das Präsidium erneut beraten" (so in einem Schreiben an die Mitglieder des Gesprächskreises von Juli 1995).

In dem "Zwischenruf" werden insbesondere drei Defizitfelder herausgestellt:

1. Der Eigenwert des Alten Testaments wird im Katechismus relativiert.

 

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"Das Verhältnis der beiden Testamente der einen christlichen Bibel erscheint in einem undeutlichen Zwielicht. Einerseits wird der eigene Offenbarungswert des ‘Alten Testamentes’ mehrfach bekräftigt (121-123, 129). Andererseits wird er durchgängig relativiert. Dies liegt vor allem daran, daß das Alte Testament mit Hilfe der ‘typologischen’ Auslegungsmethode entgegen der Bejahung seines Eigenwertes (121) vorherrschend als unvollkommene Vorform (‘Typos’) erscheint, die erst im Neuen Testament ihre Vollkommenheit findet. Nach dieser ‘Typologie’ ist das, was Gott im Alten Testament sagt, ganz auf das neue Testament ausgerichtet und erhält erst hier seine Endgültigkeit (140). Das zeigt sich z.B. an der Art der Darstellung einiger wichtiger Themen, die hier kurz aufgelistet werden: Die prophetischen Verheißungen der Liebe sind im neuen und ewigen Bund in Erfüllung gegangen (2787); die Hinrichtung Jesu kündigt die Zerstörung des Tempels von Jerusalem an (586); der Wortlaut des alten jüdischen Gesetz[es] ist ‘Zuchtmeister’ (Gal 3,24), um Israel Christus entgegenzuführen (708); das Gesetz ist die Vorbereitung auf das Evangelium; es liefert dem Neuen Testament ‘Typen’, um das neue Leben nach dem Geist zu veranschaulichen (1964); das jüdische Exil steht im Schatten des Kreuzes, und der ‘heilige Rest’, der aus dem Exil zurückkehrt, ist ein Bild der Kirche (710). Beim Augustinuswort ‘Das Neue Testament ist im Alten verhüllt, das Alte im Neuen enthüllt’ fehlt eine theologische Reflexion (129, 2763). - Diese Art der Typologie muß notwendigerweise dazu führen, daß die Hebräische Bibel als unvollkommene Vorform zum Neuen Testament erscheint. Die Typologie hält die beiden Testamente im KKK zusammen. Damit ist die Gefahr gegeben, daß die Geschichte des biblischen Israel und die im Judentum konstitutive Erinnerung an diese Geschichte aufgelöst wird. Darum kann die Typologie, wie sie hier angewandt wird, eine mildere Form der Enterbung Israels sein, von der die Kirche in anderen Verlautbarungen längst Abschied genommen hat."

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2. Der kirchliche Antijudaismus bleibt unangesprochen.

 

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"Der kirchliche Antijudaismus, der seine Wurzeln in der Ablösung der frühen Kirche vom Judentum und der dadurch hervogerufenen antijüdischen Polemik schon im Neuen Testament hat und der durch einige Vorgänger des KKK in der Kirche große Verbreitung fand, ist nicht angesprochen. Ein solches Versäumnis ist heute schwer verständlich. Ein Katechismus nach der Schoa hätte auf die Schuldgeschichte der früheren Katechismen hinweisen, ihre Auswirkungen benennen und die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen müssen."

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3. Keine praktischen Folgerungen für gemeinsames Tun.

 

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"Der KKK versäumt die Chance, das erneuerte Verhältnis von Juden und Christen als Zeichen der Hoffnung inmitten einer unerlöst scheinenden Welt und als Herausforderung zu getrennt-gemeinsamer Arbeit für das Kommen des Gottesreiches zu präsentieren."

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Soweit der "Zwischenruf". Von jüdischen Teilnehmern des Gesprächskreises werden als besonders diskriminierend die Ausführungen des Katechismus zu "Messias" und zu "Mission" kritisiert. So heißt es in Nr. 674: "Das Kommen des verherrlichten Messias hängt zu jedem Zeitpunkt der Geschichte davon ab, daß er von ‘ganz Israel’ (Röm 11,26) anerkannt wird, über dem zum Teil ‘Verstockung liegt’ (Röm 11,25), so daß sie Jesus ‘nicht glaubten’ (Röm 11,20) ... Der Eintritt der ‘Vollzahl’ der Juden (Röm 11,12) in das messianische Reich im Anschluß an die ‘Vollzahl der Heiden’ (Röm 11,25) wird dem Volk Gottes die Möglichkeit geben, das ‘Vollmaß Christi’ (Eph 4,13) zu verwirklichen, in dem ‘Gott alles in allen’ sein wird (1 Kor 15,28)."

Dazu äußert ein jüdisches Mitglied des Gesprächskreises die folgende Kritik: Es sei reinster Antijudaismus, wenn die Juden dafür haftbar gemacht würden, daß der Messias noch nicht habe kommen können. Israel werde seiner Eigenständigkeit beraubt, wenn alles Israel Betreffende lediglich als Vorbereitung auf den neuen Bund gesehen werde (vgl. Nr. 762, 710). An anderer Stelle werde eine Missionskonzeption vertreten, die auch die Juden mit einbeziehe, was die katholische Kirche eigentlich seit dem Konzil so nicht mehr gelehrt habe (Nr. 846, 849). Besonders schwerwiegend seien die Hinweise auf die Typologie, die fast durchgehend als einzig mögliche Schriftauslegung der Hebräischen Bibel vorgestellt werden (Nr. 1964, 1094).

Im Hintergrund dieser antijüdischen Verhältnisbestimmung erscheint - wieder - ein Absolutheitsanspruch des Christentums, der mit den zahlreichen positiven kirchlichen Verlautbarungen in unvereinbarem Gegensatz steht. So sind im KKK keinerlei dogmatische Konsequenzen gezogen aus der Rede von Papst Johannes Paul II. vor Juden in Mainz am 17. November 1980, in der dieser gesagt hat, daß Röm 11 weiterhin gilt, daß der Bund Gottes mit den Juden also ungekündigt Münc

Von diesem sehr ambivalenten und negativen Befund her stellt sich die Frage: Wie kann heute überhaupt noch ein Dialog zwischen Christen und Juden stattfinden, wenn die Juden darin fehlen oder sie nach wie vor von den Christen missioniert und theologisch vereinnahmt werden? Ist mit diesen eindeutigen Aussagen im neuen Katechismus der KatholischenKirche, der keine substantiellen Konsequenzen aus dem Mentekel "Auschwitz" zieht, nicht jeder wirkliche Dialog zwischen Christen und Juden unmöglich gemacht?

III. Die Konsequenzen einer fehlenden christlichen Identität „nach Auschwitz“

Die dargelegten Beispiele aus der wissenschaftlichen Theologie und aus dem Bereich der Katechese haben gezeigt, daß das "Fehlen der Juden" auch 50 Jahre nach Auschwitz immer noch die Bildung einer christlichen Identität verhindert. Paul Petzel bestätigt im Rahmen seiner erkenntnistheologischen Studie diesen Befund. Christliche Trauerarbeit fehlt nach wie vor, denn "‘realiter’ sind in Kirche und Theologie die Voraussetzungen für eine Trauer um die Juden weitestgehend nicht gegeben. Das maximal in dieser Hinsicht Mögliche scheint das ‘Ausdenken’ einer solchen Trauer zu sein ... Insofern bezeichnet kaum Trauerarbeit das Werk der christlichen Theologie, sondern ihr Sich-Abarbeiten an einem horror vacui." 21

"Die Unfähigkeit zu trauern" (so der bekannte Titel von A. u. M. Mitscherlich) hätte ja als Voraussetzung, daß der Inhalt der Trauer für die Trauernden ein ‘geliebtes Objekt’ war (so etwa nach der Lehre Sigmund Freuds). Das aber ist in bezug auf die Juden zu verneinen. Es "war ja das Perfide an der jahrelangen Vorbereitung des Holocaust: das politische und juristische Verjagen der Juden aus der mitmenschlichen Umwelt. Nachdem die aber zerstört war, ist die Forderung nach Trauer gemäß den analytischen Begriffen absurd."22 Um wieviel mehr gilt das im Blick auf den antijüdischen Grundschlamm in den christlichen Mentalitäten - bis in unsere Gegenwart. Der christliche Antijudaismus wie auch der Antisemitismus bestehen aus tradierten Vorurteilen. Der soziologische Befund zeigt, daß es sich beim Antijudaismus/Antisemitismus um Vorurteile handelt, die durch stereotypes Denken überliefert werden. Gegenüber den aus der Gegenwart angeeigneten erweisen sich die überlieferten Vorurteile als wesentlich stärker. Ein Abbau des Antijudaismus/Antisemitismus hat bei diesen Strukturen anzusetzen.23

Nach den oben dargelegten Beispielen muß freilich bestritten werden, daß ein Abbau dieser antijüdischen Vorurteile in der Katholischen Kirche tatsächlich stattfindet oder ernsthaft stattfinden soll.

Sehr nüchtern schätzt der Historiker Jacob Katz die Lage ein. Seiner Ansicht nach ist es zweifelhaft, daß in den christlichen Kirchen heute "eine solche Revision theologisch überhaupt möglich ist. Es ist von Kritikern dieser Richtung überzeugend argumentiert worden, daß der Versuch, die antisemitischen Folgen aufzuheben, das gesamte Lehrgebäude des Christentums umstürzen würde. Es ist auch aufgezeigt worden, daß die Entfaltung der christlichen Lehre auch bei den bedeutendsten modernen Theologen den Gedanken der christlichen Überlegenheit einschließt, damit zugleich eine negative Einschätzung von Juden und Judentum."24 Katz hält es daher für wahrscheinlich, daß eine Rehabilitation des Judentums im Rahmen des Christentums ein esoterisches Unternehmen bleibt, beschränkt nur auf eine kleine Elite. Die Wirklichkeit bestätigt diesen Befund.

Theologisch bedeutet das eine Falsifikation des christlichen Zeugnisses und damit der christlichen Wahrheit. Nach einem Durchgang durch die bisherige Praxis und Lehre der Christen bleibt so am Ende eine offene Anfrage - vergleichbar mit Émile Zolas ‘J’accuse’ - bestehen. Der im christlichen Glauben bezeugte Christus tritt auf als Zeuge der Anklage. P. Petzel schließt seine Untersuchung "Was uns an Gott fehlt, wenn uns die Juden fehlen" mit den folgenden Fragen an uns Christen: "In diesem Sinn ist hier abschließend zu fragen, ob sich das Wort von Gottes Heil in seinem Christus, das die Theologie, die unter dem Wort steht, auszusprechen hat, nicht gegen sie kehrt und als Wort vom Gericht auf sie zukommt. Tritt der Theologie der in ihrer Rede Bezeugte nicht sub signo temporis als Gegenzeuge, als Zeuge der Anklage entgegen? ... Das jüdische Non bedingt, daß christliche Theologie auf diese Fragen nicht hinreichend, wenn überhaupt, zu antworten weiß. Sie wird die Antworten schuldig bleiben müssen. Und mit den offenen Fragen bleibt sie selbst fraglich. Spricht der, der diese oder ähnliche Fragen stellt, womöglich wie in Mt 25,41 angekündigt: ‘Geht weg von mir’ ... ?"25


Für Frau Margarete Pfafferodt

Fussnoten:
    • Vgl. dazu etwa A. u. M. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 231994, 232-234.
    • K.-H. Minz, Gott ist Einer. Plakat einer Relecture der Gotteslehre, in: M. Böhnke/H. Heinz (Hrsg.), Im Gespräch mit dem dreieinen Gott. Düsseldorf 1985, 399-416, hier 407 f.
    • P. Petzel, Was uns an Gott fehlt, wenn uns die Juden fehlen. Eine erkenntnistheologische Studie, Mainz 1994.
    • F.-W. Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik, München 1988, 145.
    • Petzel, op. cit., 242 f.
    • Petzel, Gott, 56; vgl. auch 165 f.
    • Vgl. op. cit. 19.
    • So op. cit. 30; vgl. 244 f.
    • G. Biemer u. a., Freiburger Leitlinien zum Lernprozeß Christen Juden. Theologische und didaktische Grundlegung, Düsseldorf 1981.
    • Op. cit. 181.
    • Loc. cit.
    • Op. cit. 97.
    • Op. cit. 204.
    • Verlag Herder, Freiburg, 61991.
    • Eine Veröffentlichung des Referats ist in Kürze vorgesehen.
    • F. Alt, Jesus - der erste neue Mann, München 31989, 34. Hierzu M. Brumlik, Der Anti-Alt. Wider Dimefurchtbare Friedfertigkeit, Frankfurt a. M. 1991.
    • H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze, Stuttgart 1983, 34; vgl. auch 143.
    • Z. B. in E. Gräßer, Zwei Heilswege? Zum theologischen Verhältnis von Israel und Kirche, in: Kontinuität und Einheit. Für Franz Mußner. Hrsg. von P.-G. Müller u. W. Stenger, Freiburg 1981, 411-429.
    • Hierzu R. J. Z. Werblowsky, Tora als Gnade, in: Kairos NF 15 (1973), 156-163.
    • München 1975 (Verlag Chr. Kaiser).
    • Petzel, op. cit. 243.244 f.
    • So T. Moser, Die beschimpfte Verdrängung. Über die verfehlte Wirkung von Mitscherlichs "Die Unfähigkeit zu trauern", in: F.A.Z. Nr. 131 vom 6. Juni 1992.
    • Hierzu K.-H. Minz, Artikel ‘Antijudaismus/Antisemitismus’, in: Lexikon der Religionen. Phänomene-Geschichte-Ideen, Freiburg 1992, 27 f.
    • J. Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, Berlin 1990, 328; vgl. auch die Befunde in Klein, Theologie.
    • Petzel, op. cit., 251 f.

Editorische Anmerkungen

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. © Copyright 1996, Karl-Heinz Minz

Der Verfasser hat als katholischer Systematiker im Forschungsteam der "Freiburger Leitlinien zum Lernprozeß Christen Juden" an der Theol. Fakultät der Universität Freiburg Br. mitgearbeitet und u.a. einige größere Beiträge zu diesem Thema geschrieben.

Das vorstehende Referat ist erschienen in: Hofgeismarer Protokolle. Tagungsbeiträge aus der Arbeit der Evangelischen Akademie Hofgeismar, 312: Bernd Jaspert (Hg.) Christliche und jüdische Identität nach Auschwitz, Hofgeismar 1996 (Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar 13.-15. Oktober

1995); ISSN 0931-0398; ISBN 3-89281-220-9. English