Was meint: “So Gott will und er lebt“?

Das Thema des Hoffens taucht in meinem Inneren auf, umgeben von zwei Leitworten...

Was meint: „So Gott will und er lebt“?

Friedrich-Wilhelm Marquardt

Das Thema des Hoffens taucht in meinem Inneren auf, umgeben von zwei Leitworten.

1.) Wir finden es einmal in Gestalt der letzten Strophe von Luthers Vaterunser-Lied: "Amen, das ist: Es werde wahr. Stärk unsern Glauben immerdar, auf daß wir ja nicht zweifeln dran, was wir hiemit gebeten han. Auf dein Wort, in dem Namen dein, so sprechen wir das Amen fein."

Daß hier ein hebräisches Wort – Amen – ein letztes Wort ausgerechnet von Luther, dem theologischen Judenfeind, ist, scheint mir immer neu nachdenkenswert, etwa im Sinne des letzten Wortes Josefs an seine Brüder: "Ihr gedachtet"s böse zu machen; aber Gott gedachte es gut zu machen, daß er täte, wie es jetzt am Tage ist" (Gen 50,20). Gottes Gutmachen geht über alles menschliche Versagen – gerade was das Verhältnis der Menschen zu Israel betrifft. Wohl ist es wahr: Luther hat durch seine Agitation mit dazu beigetragen, daß am Ende seines Lebens das Land Sachsen judenfrei geräumt war. Aber dann mußten doch wir Nicht-Juden erst recht von ihm lernen, immer am Ende von all unserem Rufen und Beten zu Gott hebräisch zu sprechen: Amen. Und dieser Martin Luther mußte es auch dem einfachsten Volk beibringen in der Sprache des "deutschen Mannes": „Amen – das ist, es werde wahr.“ Als Deutscher bis heute zu Gott schreien in der Sprache der Vertriebenen und Erschlagenen!

Und darauf dann die Zukunft bauen, darauf dann alle Hoffnung richten. Denn "Amen" ist ja das Wort von Zukunft schlechthin: Es werde alles das wahr, was wir bisher geglaubt haben. Es bedarf das alles, was wir glauben, noch einer ganz anderen Bewahrheitung als die, die wir bisher mit unserem Herzen geben können. Denn es ist ja unser Herz ein trotzig und verzagt Ding. Und es bedarf das alles, was wir glauben, auch noch einer ganz anderen Bewahrheitung als die, für die wir mit unserem Glauben einstehen können. Luther kannte ja jenen Mann aus dem Volke, Vater eines epileptischen Jungen, der ihn um Hilfe bat und doch nur ein sehr angefochtenes Vertrauen zu Jesu Hilfskräften bekunden konnte: "Ich glaube, hilf meinem Unglauben" (Mk 9,24). Er wußte, daß ohne Glauben an ihn auch Jesus nichts vermag und daß dem Kind nur zu helfen ist, wenn der Vater Jesus vertrauen könnte. Darum war die wichtigste Bitte damals nicht: Heile meinen kranken Jungen, sondern: Hilf meinem Unglauben, so daß du aus der Kraft meines Vertrauens Kräfte gewinnst, meinem Kind zu helfen. Der Abschnitt, in dem die Evangelisten uns diese Szene erzählen, schließt mit der Regel: "Diese Art (d.h. Krankheit) kann nicht ausgetrieben werden außer durch Gebet", das mit einem Amen endet; und einige alte Handschriften fügen noch hinzu: "und durch Fasten", damit wir nicht nur beten, sondern auch etwas tun – Jesus kann heilen und helfen in der Kraft der Selbstheilung von Menschen die an ihn glauben lernen. Aber das ist nicht jedermanns Ding, und unser Luther wußte, daß Glaube nicht das Letzte, und „sola fide“ nicht das Einzige ist, weil aller Glaube schutzbedürftig bleibt vor der Urgewalt des Zweifels: "Stärk unsern Glauben immerdar, auf daß wir ja nicht zweifeln dran, was wir hiemit gebeten han." Das meinte ich mit dem Wort "bewahrheiten"; da denke ich nicht an eine theoretische, auch nicht an eine andere intellektuelle, z. B. eine theologische, sondern an eine gleichsam exorzistische Bewahrheitung des Glaubens an Jesus, die die Urgewalt des Zweifels vertreibt. Den aber können wir nicht selbst überwinden, und zwar nicht deshalb, weil wir zu dumm dafür wären, sondern weil der Zweifel wir selbst sind. In uns ist ja nicht das Wort Gottes Fleisch geworden, das (sagt die christliche Botschaft) ist es nur in Jesus von Nazaret; wir dagegen sind der eingefleischte Zweifel an Gottes Wort. Dagegen kommen wir nur auf mit Beten und Fasten: Gegen das, was ist (die Krankheit des Kindes und den Unglauben des Vaters), kommt nur auf, was erst noch kommen muß: ein Wahrwerden des Glaubens, daß also das Wort Fleisch werde auch in uns. Darum ist Glauben auf Hoffen angewiesen und ist allein Hoffen die Unanfechtbarkeit des Glaubens. Wir können auch als Theologen und bekennende Christen nicht "davon ausgehen", daß wahr sei, was wir glauben; wir können nur darauf zugehen, daß es wahr werde. Schon allein deswegen braucht Hoffen mehr-Sprache und Kräfte als Glauben – und Eschatologie also mehr Platz in einer Dogmatik als Christologie.

2.) Aber nun ein zweites Wort, das in mir auftaucht, wenn ich an das Hoffen denke. Dafür habe ich keinen solchen großen Lehrer mehr, wie eben den Martin Luther; da stehe ich für mich selber ganz allein. Innerhalb der einzelnen Teile meiner theologischen Arbeit taucht ab und zu die Formel auf: "So Gott will und er lebt". Sie wirkt auf manchen vielleicht nur wie ein Spiel. Aber mir ist sie bitter ernst. Ja, sie ist je länger je mehr ein Leitmotiv alles dessen, was ich zu verstehen versuche, hält die einzelnen Teile meiner Arbeit innerlich zusammen und ist inhaltlich die Unruhe des ganzen Laufwerks meiner Gedanken.

Was meine ich mit der Formel "So Gott will und er lebt"? – Es fällt ja gleich auf, daß ich da eine Anleihe beim Apostel Jakobus genommen habe. Der hatte in seinem uns erhaltenen Brief die reichen Kaufleute und Handelsherren seiner Zeit gewarnt vor einem allzu großen Vertrauen auf das ökonomische Gesetz: "Zeit ist Geld". Bedenkt, mahnte er: Zeit kann euch statt immer neuem Gewinn und immer weiterem Wachstum auch den Tod bringen. "Denn ein Hauch seid ihr, der eine kleine Zeit sichtbar ist, hernach aber wieder verschwindet." Macht eure Rechnungen lieber nicht mit der Zeit, sondern mit Gott, und tauscht die Wirtschaftsdevise "Zeit ist Geld" aus gegen eine andere: "So Gott will und wir leben" (Jak 4,14-15). Kein Mensch kann auf sein ewiges Leben bauen.

Nun habe ich diese Weisheit vom Kaufmannsleben auf Gottes Leben übertragen. Kann denn Gott auf sein ewiges Leben trauen? Und das heißt konkret: Können denn wir zu jeder Zeit an jedem Ort Gott sein ewiges Leben zutrauen? Der Apostel Jakobus meinte: Ja. So klar wir über unsere nur begrenzte Lebenszeit seien, die Aussichten unseres Handels einschränken und Grenzen seines Wachstums hinnehmen müssen – bei dem, von dem alle gute Gabe und alles vollkommene Geschenk kommt, also beim Vater der Lichter, ist "keine Veränderung noch ein Schatten infolge von Wechsel" (Jak 1,17). Gottes Beständigkeit und Unwandelbarkeit gehören seit Menschengedenken – vor allem seit Menschen (philosophisch) denken gelernt haben – zu so etwas wie Gott immer dazu. Gott ist so beständig wie das Sein. Mag das Seiende wandelbar und hinfällig sein, mögen Himmel und Erde vergehen: Gott bleibt und seine Worte vergehen nicht. Würden wir das nicht annehmen können, wäre auf nichts mehr Verlaß. Dann könnten wir nie mehr von Gott ausgehen. So hat mein Lehrer Karl Barth uns dies als die einzige Möglichkeit beigebracht, zu einer gewissen Erkenntnis von Gott zu kommen; von uns aus, lehrte er, führt kein Weg zu Gott. Wollen wir Gott kennen lernen, müssen wir immer schon von ihm her kommen. So hatte auch schon der Kirchenvater Augustin sich Gott anvertraut: Ich würde dich nicht suchen, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Finden steht vor Suchen, Gottes Antworten stehen vor unseren Fragen. Gott wird nur von Gott erkannt. Also: "Alles vergehet, Gott aber stehet ohn alles Wanken; seine Gedanken, sein Wort und Wille hat ewigen Grund": (Paul Gerhardt 1666, EG 449,8)

Gerade dieser ewige Grund ist einigen von uns nun ins Wanken geraten und erschüttert worden: in Auschwitz. Seitdem kreist die schwerste Frage jedenfalls meiner ganzen christlichen Existenz und erst recht meiner theologischen Denkversuche um diese Erschütterung. Hat Auschwitz etwas zu tun mit meinem Bekenntnis zu Jesus Christus, meinem Vertrauen zu Gott und also auch mit der christlichen Lehre?

Der Berliner Bischof Dibelius hatte in den frühen sechziger Jahren einmal auf den Satz eines Jungen, nach Auschwitz könne er nicht mehr zu• Gott beten, in altbekannter pragmatischer Schärfe geantwortet: "Ach was, nach Auschwitz hast du nur deine Nerven verloren." Damit wollte er sagen: Es mag ja sein, daß die Geschehnisse und Verbrechen, die mit diesem Begriff gemeint sind, dich persönlich bewegen und durcheinander bringen. Aber das ist nur etwas Subjektives, Nerven kann man beruhigen; objektiv hat das nichts zu bedeuten, vor allem: an Gott kann das nicht rütteln. – Nun muß ich gestehen: Ich möchte heutzutage nicht in der Haut eines Kirchenoberen stecken; es kann ja sein, daß ein Bischof nichts auf Gott kommen lassen darf. Dennoch bin ich nicht sicher, ob unser Bischof damals wirklich Gott verteidigt hat oder nicht nur – was er leider oft getan hat – auch hier den Leuten und der allgemeinen Meinung nach dem Munde geredet hat, vor allem den kirchlichen Kreisen. Gerade in diesen letzten Wochen und Monaten sammeln sich in offiziellen Gremien Kräfte, die unseren zaghaften Versuchen, eine Theologie nach Auschwitz zu erarbeiten und z. B. in der Sprache unserer Gottesdienstliturgien antijüdisch mißverständliche Gedanken zu verändern, kräftig gegensteuern wollen. Wie Dibelius damals Gott nicht ramponieren lassen wollte von unseren durch die Schuldfrage etwas labil gewordenen Nerven, so wollen die kirchlichen Theologen heute die Auschwitzfrage eingrenzen auf das ethische Problem des menschlichen HandeIns, aber jede Infragestellung der kirchlichen Lehre durch Ausch-witz verhindern.

Ich halte die Frage: Was sollen wir denn tun? für enorm wichtig. Wenn wir darauf eine die Christen einigende Antwort finden könnten, wäre dies etwas Großes und im deutschen Protestantismus etwas absolut Neues. – Was wäre das – ethisch! – für das jüdische Volk eine praktische Hilfe, wenn die Kirchen in Deutschland mit ungespaltener Zunge und ohne abenteuernde doppelte Loyalität, also eindeutig für die jüdisch verantwortete Einheit der Stadt Jerusalem einträten und sich von der vatikanischen und ökumenischen Politik abkoppelten, die aus der Stadt Davids ein exterritoriales Gebiet und so etwas Ähnliches wie einen Freistaat Danzig machen möchten, der immer gefährdet bleibt, wie Danzig es war und die Frage heraufbeschwört: Sterben für Danzig?, mourir pour Jerusalem?

Wir brauchen nur ein, zwei ethische Fragen konkret zu stellen, um zu wissen: daraus wird nie etwas. Es müßte ja auch unsere gesamte ethische Tradition aus jenem dogmatischen Begründungszusammenhang herausgelöst werden, in dem sie bis heute gesehen wird; wenn wir uns sollten vorstellen können, daß wir uns in eine Praxis unserer Beziehung zu Israel einigen könnten ohne Veränderung unserer theologischen Voraussetzungen; diese dirigieren immer die Praxis der Kirche, und es kann ethisch nichts erwartet werden ohne Veränderung der theologischen Lehre. Jedenfalls nicht bei uns in Deutschland. Darum würde ich gerne vom Judentum die Umkehrung unserer Theorie-Praxis-Reihenfolge lernen, in eine, wo neue Praxis uns neue Erkenntnis lehrt: "Wir wollen tun und wir wollen hören“ (Ex 24,7) - Tun vor Hören! Aber das ist für jetzt ein zu weites Feld; mir liegt nur an der Beobachtung dieser Unterscheidung, die doch eine Ausrede ist: Auschwitz gehe uns praktisch etwas an, aber nicht theologisch und nicht in der Lehre unseres Glaubens.

Nach meiner Überzeugung geht der Judenmord unsere Lehre etwas an, weil er unseren Glauben heute etwas angeht. – Es ist alltägliche Erfahrung, die mich immer neu überkommt. Ich kann mich nicht an Amsterdam freuen – an Westerbork vorbei, nicht an Straßburg – vorbei an Struthof, nicht an Linz – vorbei an Mauthausen, an München nicht – vorbei an Dachau, an Weimar nicht – vorbei an Buchenwald, an Hamburg nicht – vorbei an Bergen-Belsen, an Berlin nicht – vorbei an Ravensbrück und Sachsenhausen, auch nicht an Krakau – vorbei an Birkenau und Auschwitz, nicht am wiedererstandenen Danzig – vorbei an Stutthof. Ich kann an keinem guten Ort mehr sein, ohne auch bei dem ihm zugehörigen Un-Ort weilen zu müssen. Der Raum ist zerrissen, kein Lebensraum mehr ohne Todesraum – jedenfalls nicht bei uns in Europa. Selbst wo Gras darüber wächst, kann die Erinnerung sich nicht befreien, geht also die Zeit nicht drüber hinweg.

Was nun die Erinnerung betrifft, so habe ich ein nüchternes Verhältnis zu dem Wesen Mensch; unsere Wolfsnatur ist nicht gezähmt. Und wäre ich nicht Christ, so könnte ich wohl meinem Pessimismus über die Humanisierbarkeit der Menschen freien Lauf lassen und etwa denken: Auschwitz – s chrecklich, schrecklich, aber: So ist das Leben. Aber nun bin ich Christ, und nun macht es mich fassungslos, auf diese Weise damit konfrontiert zu sein, daß das Christsein nur ganz wenige dazu gekräftigt hat, dem Rad in die Speichen zu greifen und die Räder der Mordmaschine still stehen zu lassen. Gewiß, auch Christen sind Menschen und weder starke Männer noch starke Frauen. Ich wische das Eingeständnis der Mutlosigkeit, auch der Feigheit nicht achtlos und hochmütig beiseite. Aber das ist es auch nicht, was mich quält. Es ist viele mehr das Problem der Erkenntnisblindheit auch der Christen gegenüber dem, was da rollte. Aber auch das mag ich noch verstehen können; die biblischen Erzählungen von den Blindenheilungen durch Jesus zeigen mir, wie tief Blindheit zum Menschenwesen gehört und wie bedürftig wir auch in dieser Sache eines Heilandes sind. Zwischen 1933 und 1945 bekamen die Gemeinden nur wenig Geschichten von dem Blinden-Heiland zu hören, etwa nach dem Bild von Luther: Gottes Wort sei wie ein fahrender Platzregen; mag es sich heute hier ergossen haben – das gibt es, daß es dann morgen anderswo niederfährt und uns in Trockenheit und Öde verdursten läßt. – Nein, fassungslos macht mich die nicht abzuweisende Erkenntnis, daß die große volkskirchliche Mehrheit der Christen und Theologen in Deutschland so viele Geisteskräfte zum Nationalsozialismus und besonders zur Judenfeindschaft beigesteuert hat und beisteuern konnte. Mein Lehrer Karl Barth hatte schon lange vor 1933 darauf aufmerksam gemacht, wie Kirchentum und Universitätstheologie immer konsequenter auf alles das zusteuerten, was dann im Nationalsozialismus in Erscheinung trat, und wie das keineswegs nur eine kirchenpolitische und politische, sondern eine innere theologische Steuerung war, der Art der Schriftauslegung entspringend, – dem immer neu gesellschaftlich assimilierten Verständnis Gottes, – dem verbürgerlichten Bild Jesu und der zynischen Verachtung des jüdischen Volkes Jesu. als Volk von Gottesmördern entspringend. Doch so viel Aufsehen Barths Theologie schon vor 1933 erregte, so viel Schule sie auch machte – nur eine kleine Gruppe auch seiner direkten Schüler ließ sich für die politische Prophetie dieser Theologie gewinnen; auch Barth gegenüber gelang jene Unterscheidung von Ethischem und Theologischem, von der ich sprach – nur in seinem Fall umgekehrt: dem Theologischen wollte man wohl folgen, dem Ethischen nicht. Im Verständnis des jüdischen Israel ist dies bei nicht wenigen bis heute so geblieben; es gibt wichtige Barth-Schüler und -Freunde, die bereit waren, alles getreulich zu lernen, nur zweierlei nicht: Barths Verständnis des Judentums und – seinen Sozialismus. Solange der Lehrer noch lebte, nahmen sie das schweigend hin, nach seinem Tod schlugen und schlagen sie beides an der kleinen Gruppe, die in Münster, Bonn und Basel gelernt hat, daß das theologische Denken verantwortlich ist für das politische und daß die Art, wie man theologisch argumentiert, die Schrift auslegt, von Gott und Jesus redet, in sich selbst eine politische Weichenstellung und Steuerung bewirkt.

Aber nun ist das vielleicht noch nicht das Schlimmste: Christsein ohne Mut, – christliche Erkenntnisblindheit, – Theologie, die nicht wahr haben will, daß sie in sich selbst eine – oder viele – ethische Entscheidungen enthält, ihnen schon folgt, sie auch bewirkt, sie allemal geistig widerspiegelt. - Für mich unfaßbar ist eine kalte Gleichgültigkeit gegenüber den toten und den überlebenden Opfern des nationalsozialistischen Mord-Systems, an dem Christen nicht nur durch ihre persönliche Widerstandsschwäche beteiligt waren, sondern auch dadurch, daß sie über Jahrhunderte eher und jedenfalls wirksamer Assimilationstheologien förderten als widerstehende Theologien. Das aber ist nicht um der Theologien willen schlimm, sondern um der von den Auswirkungen solcher Theologien betroffenen Menschen willen. Am Ende der fünfziger Jahre, in der Hochzeit des Kalten Krieges, hat es evangelischen Theologen und Kirchenführern nichts ausgemacht, das östliche System ohne G[ott] als System des organisierten Seelenrnordes zu bekämpfen, und sie haben dagegen sogar einen Einsatz von Atomwaffen theologisch gerechtfertigt. Daß wir Christen daran beteiligt waren, Juden in der Gaskammer und auch aus den Feueröfen gerettete Juden um ihren Glauben zu bringen, macht uns selbst zu Seelenmördern. Das ist es, was sich für mich mit dem Ortsnamen Auschwitz verbindet: daß uns das kalt läßt, Attentäter auf den Glauben anderer zu sein.

Dazu folgendes. Attentäter auf den Glauben von Juden waren wir, solange es den – in seinem Vorkommen nicht zu bestreitenden – christlichen Antijudaismus gibt; und leider heißt das: solange es uns Christen gibt. Lassen wir offen, ob dazu die Zeugen der ersten zwei, drei Generationen von Christen zählen, deren Stimmen wir im Neuen Testament hören. Ich möchte mich immer noch nicht befreunden mit der These von einem Antijudaismus im Neuen Testament; noch habe ich die Hoffnung, daß sich entsprechende "Stellen" (der Vater der Juden sei der Teufel, oder es gäbe eine Synagoge des Satans) anders lesen lassen als durch eine antijüdische Brille. Aber daß seit dem 2.Jahrhundert gerade die theologische Lehre des Christentums ein einziges Attentat auf den Glauben der Juden war, läßt sich leider nicht leugnen. Doch kann uns im 20.Jahrhundert nicht entschuldigen, daß wir seit alten Zeiten gut ausgebildet waren als solche Attentäter. Selbst wenn gerade theologisch gesehen Antijudaismus unverzichtbar wäre für die Darstellung und das Lebenszeugnis des christlichen Glaubens, wenn er also praktisch und gedanklich ein Integral des Christseins wäre, ließe sich dies nach Auschwitz nicht mehr fortsetzen, müßten wir vielmehr sagen: Die Integrität des Christentums ist zerstört, und entweder: Es ist mit ihm zu Ende, oder: Es muß neu anfangen.

Sodann. Die Christen haben den Philosophen ein Wahrheitsverständnis abgenommen von einer ewigen Überlegenheit und Herrlichkeit der Wahrheit über allen Wandel und Wechsel der Zeiten hin, das sie unberührbar macht gegen alle menschlich-allzumenschlichen Erfahrungen und Zweifel. In diesem Sinne hat gerade die beste Theologie unseres Jahrhunderts protestiert gegen eine Beeinflussung der ewigen Wahrheit durch menschliche Erfahrungen. Wahrheit ist erhaben über Erfahrungen. Allenfalls die Art, wie wir Menschen von der Wahrheit sprechen, die Form, in der wir das versuchen, kann sich wandeln, aber nie kann der Gehalt von Wahrheit davon betroffen werden. Freilich: Für die Lehrer des Talmud war es ein selbstverständlicher Gedanke, daß Gott sich und sein Wort denen anpasse, zu denen er kommt und spricht. An einem reinen, uns nicht sich anpassenden Gott müßten wir verbrennen, am Feuer seiner Heiligkeit. Die jüdischen Lehrer bezogen das nicht nur auf die menschliche Sprache des Wortes Gottes, nicht nur auf die Menschengestaltigkeit des Aussehens Gottes, sondern auf Gott-selbst, auf sein Wesen tiefster innerer Beteiligung an den Freuden und Leiden Israels – ein Wesen äußerster Mitleidensfähigkeit und eines Mitgehen-Könnens und -WolIens mit seinem Volk, das keinerlei Begriff von einer Unbeweglichkeit duldet. Auf seine Weise hat auch unser Martin Luther darum gewußt, als er die uns von Paulus zuerkannte Aufgabe, Gott zu rechtfertigen, deutete mit dem unerklärten Satz: "Deus est mutabilis quam maxime", Gott ist aufs Äußerste wandelbar und begegnet objektiv jedem Menschen so, wie der ich. subjektiv begegnet. Wenn Wahrheit in der Theologie nicht so ein philophisches Abstraktum geworden wäre, sondern die lebendige Personwahrheit des Begegnens geblieben wäre, die sie in der Bibel ist – „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben!“ – dann könnten wir sie nicht denken wie ein Tabu des Unberührbaren. Und dann könnten wir uns freilich einer Anfechtung durch Auschwitz auch nicht entziehen mit der Behauptung, die Wahrheit sei nicht verletzbar, angreifbar, verlierbar, Auschwitz sei nur Nerven- oder Einstellungssache, und wir dürften, oder müßten sogar so tun, „als wäre nichts geschehen". Als Karl Barth im Sommer 1933 diese Losung an die bekennenden Christen ausgab, hat er damit zur guten alten Theologie zurückrufen wollen, gegen die Horden auf den Straßen, die dabei waren das Evangelium zu zerstören. Und er selbst konnte noch alles dazu tun, dem guten alten Evangelium seine Widerstandskräfte gegen den Wahnsinn zurück zu gewinnen. Heute ermahnen uns die zur Ruhe, die wollen, daß kein Widerstand gegen die Zerstörung des Evangeliums durch das Zulassen von Auschwitz formiert wird. Allein der Gedanke, es könne das Evangelium, gar Gott selbst Schaden genommen haben an seiner Seele, als wir alle ihn verließen und flohen – allein dieser Gedanke soll verwehrt werden und keine Fragen in den Kirchen erwecken dürfen.

 

Aber es geht um mehr noch als die Frage einer Unberührbarkeit oder Berührbarkeit der göttlichen Wahrheit. Ein alter Marburger Studienfreund hat mir entgegengerufen: "Erbarmen mit den Juden!" und mir Antijudaismus vorgeworfen, wenn ich den Juden das göttlich und menschlich Beste vorenthalten wolle, was ein Christ kennen könne: den Herrn und Heiland Jesus Christus. Würden wir den gegenüber den Juden aus dem Verhältnis ziehen, seien wir herzlos und überließen die Juden der Unbarmherzigkeit, in der sie sich durch ihr Nein zu Jesus Christus befänden. Nun habe ich zwar niemals Jesus aus der Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses drängen wollen, im Gegenteil: ohne ihn sähe ich keine Möglichkeit, da irgend etwas zu erneuern. Aber an dem mir tatsächlich zu Herzen gehenden Widerspruch kommt etwas mir ganz unmöglich Gewordenes heraus: wie da die Juden gegen ihren Willen und ihre Erkenntnis•objektiviert werden zu notwendigen Empfängern des Christus, wie sie da thematisiert werden als erbarmungswürdige Menschen ohne ihn. Und wie wir sie da überhaupt theologisch zum Objekt-Thema machen.

Ich habe mich immer bemüht, gerade dies nicht zu tun. Nirgendwo habe ich mir eine Israel-Theologie oder eine "christliche Theologie des Judentums" (Clemens Thoma) zur Aufgabe gestellt, keinen "Traktat über die Juden" geschrieben wie mein verehrter Kollege Franz Mussner das getan hat; es gibt auch auf den vielen hundert Seiten, auf die meine Dogmatik inzwischen angeschwollen ist, keinen „locus de Judaeis“ – ich habe das Judentum nicht definiert (so wenig ich einst den Sozialismus defi¬niert habe, als ich damit noch beschäftigt war). Ich habe keine "Lehre" von einer Erwählung Israels, keine von seiner Gottes-Mission in der Menschheit, keine vom Geheimnis seiner Geschichte, seiner Leiden und seiner Gotteszukunft entwickelt; ich habe nicht über das "Wesen der jüdischen Religion" geschrieben und diese auch nicht mit der christlichen verglichen. Ich habe dies alles mit Absicht nicht getan, weil ich mich der schlimmsten Form der Gewalt entschlagen wollte: der Definitionsgewalt, durch die einer definiert, was der andere in Wirklichkeit oder gar, noch schlimmer, in Wahrheit sei, gar: sein solle oder sein werde. Daß wir Christen hemmungslos solche Definitionsgewalt über andere – Heiden und Juden, Gottlose und Andersglaubende – in Anspruch genommen und ausgeübt haben, das halte ich für unseren tiefsten Beitrag zu den Todes- und Mordsystemen des Abendlandes. "Wer Jude ist, bestimme ich" – ein berühmtes (und dabei noch gut gemeintes!) Wort von Hermann Göring – , tief aus dem Geist bisheriger christlicher Theologie geboren; denn bis zum heutigen Tage bestimmen wir, was Juden sind, und fantasieren uns dabei oft das Blaue vom Himmel herunter, z. B. den nicht umzubringenden Unsinn, der sich vom wissenschaftlichen bis zum journalistischen Sprachgebrauch mit dem Begriff "Pharisäer" verbindet.

Überspitzt gesagt: Wer einen, .anderen definiert, ist potentiell bereits sein Totschläger. Darum bin ich gegen jede Israel-Theologie oder etwas Ahnliches. Ich sehe meine Aufgabe darin, christliche Theologie:imHorizont des jüdischen Volkes zu treiben, nicht einmal des „Judentums“, sondern der Menschen dieses Volkes. Und nichts anderes meine ich damit, "als eine Theologie in Dankbarkeit dafür, daß es diese Menschen noch gibt und dadurch Theologie noch einmal die Chance bekommen hat, das Totschlagende in sich selbst zu revidieren. Die Überlebenden sind mir Zeichen, daß das bisherige Wesen des Christentums, Gott sei Dank, nicht bis zu seiner letzten Konsequenz ausgereizt werden konnte, daß unsere Verkehrtheit noch einmal aufgehalten worden ist, in der wir uns unseres Glaubens nur freuen konnten, indem wir andere verteufeln. So verstehe ich also meine Aufgabe nicht darin, die Juden theologisch besser zu verstehen und zu deuten als bisher, sondern nur darin, nie zu vergessen, daß Gott uns Christen unverdienter Weise noch einmal neben Juden leben läßt und uns die Chance gibt, das nicht noch einmal zu vergessen. Dabei verstehe ich auch die Juden weder als Adressaten noch als Richter meiner Theologie. ich möchte diese treiben im Lebensverhältnis zum jüdischen Volk, nicht im Todesverhältnis. Und Lebensverhältnis heißt: Ich möchte von Juden ihre Treue und ihre Wahrheit ler nen. Ich möchte damit überhaupt eine lernende und fragende Theologie, nicht mehr eine dozierende; wie ich, mit Albrecht Schönherr, eine Kirche als "Lerngemeinschaft" ersehne.

Noch weiter zugespitzt: Der Wunsch, Christ sein zu können im Verhältnis zu anderen, meint ein Glaubensverhältnis. In meiner Erkenntnis hat sich das heraus entwickelt aus dem sehr glaubensbestimmten Einfluß Dietrich Bonhoeffers; wir haben gerade hier im Osten in den fünfziger Jahren zu lernen versucht: Kirche für die Welt, Christsein für die Anderen. Da steckte aber noch, wie wir langsam merkten, eine Menge Paternalismus drin. Das ernüchterte sich dann zur Kirche im Sozialismus, ihn als Gesellschaftsform und politische Umwelt hinnehmend und – wo es ging – loyal fördernd. Meine Gedanken gehen nun darüber noch einmal weiter: Christ sein und Theologie treiben im Verhältnis zum jüdischen Volk, Gott für sein Überleben dankend und voll guten Willens, bei ihm und von ihm zu lernen. Nicht mehr – doch dies und es Gott: überlassen, ob oder was daraus werden mag.

ln dieser Überzeugung ist auf zweierlei Weise von Gott die Rede, darum sagte ich, dies sei in meinen Augen ein Glaubensverhältnis.

1.) Wer Gott für das Überleben Israels danken kann und will, empfängt eben darin das Gericht über alles, was er auf früheren Wegen beigetragen hat zum geistigen und leiblichen Töten. Er muß Gott danken dafür, daß er mit seinem Israel tötenden Verständnis Gottes nicht bis zur letzten Konsequenz sich hat durchsetzen können. Das hat notwendig zur Folge, künftig alles aus unseren Gottes-Gedanken herauszulassen, was Israel und anderen zum Verderben werden könnte. Kein Danken ohne Umkehr. Aber wo haben wir in unseren Liturgien auch nur eine Strophe des Dankens für das Überleben von Opfern der Christen? Weil kein Danken, darum keine Umkehr.

2.) Wir können es wirklich Gott überlassen, ob und was aus einem Christsein werden kann, das niemanden mehr totschlägt, auch geistig, theologisch nicht. Es geht eben bei der Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses in keinem Sinn mehr um Judenmission . Ob ein Jesus, den wir Christen von Juden vielleicht besser verstehen lernen als bisher, irgend etwas für Juden Wesentliches bedeutet, können wir nicht wissen, das steht in Gottes Hand. Ich bin immer ganz ratlos, wenn – nicht selten – jemand nach jüdischen Reaktionen auf unsere Versuche fragt. Der will nur einen Erfolgstest und versteht wirklich nichts von Gott. Gott ist immer Hoffnungswirklichkeit, und wer zu Gott gehört, ist nie anders als ein „justus in spe“, nie "in re“, weil Gott, wie Luther wußte, immer nur durch Verheißung handelt. Etwas Gott überlassen, heißt freilich: hoffen. Nur hoffen. Aber eben hoffen.

Nun endlich: Läßt denn auf Gott sich hoffen? Will er denn noch erhofft werden? Lebt er denn? Ich habe den langen Umweg machen müssen, um jetzt erst heranzukommen an das, was ich meine mit der Ohnmachtsformel "So Gott will und er lebt".

Es ist wirklich eine Ohnmachtsformel, nicht mehr Formel irgendeiner dialektischen oder negativen Theologie. Dialektische und negative Theologie haben nämlich Gott immer noch in einem menschlichen Verhältnis in Sicht: im dialektischen oder auch negativen Gott-Mensch-Verhältnis. Emmanuel Lévinas würde sagen: Damit bleiben sie immer noch im Bereich des Seins, eines unzerstörbaren Miteinanderseins von Gott und Mensch. Mag dies nicht mehr eindeutig faßbar sein, sondern nur dialektisch, oder mag dies in keinem Sinne mehr ein positives Verhältnis sein, sondern nur noch ein negatives, in dem Gott und Mensch einander aus den Augen verlieren – aber auch dies ist noch ein Ausdruck ihres Verhältnisses. Von beidem unterscheidet sich meine Formel. Denn sie spricht nicht mehr von Gottes Verhältnis zu uns und unserem zu Gott. Gott ist so weit aus dem Verhältnis zu uns entrückt, daß sich von ihm wohl nur noch im Verhältnis zu sich selber sprechen läßt: "So Gott will und er lebt“.

Über das Verhältnis von Gott zu Gott können wir nichts wissen und nichts sagen. Die Formel beschreibt das Ende nicht nur aller menschlichen Gewißheit, sondern eben damit auch das Ende der Theologie, und die Formel selbst taugt gerade nur dazu, für das Ende der Theologie Worte der Unfaßbarkeit zu finden. Gott ist uns da nicht nur aus der Erfahrung, sondern auch aus der Offenbarung, aus dem Wort entrückt.- Für mich ist das die Substanz von Auschwitz, nicht der Sinn, sondern das auch und gerade theologisch nicht mehr Faßbare von Auschwitz.

Wie komme ich auf diese Formel? Sie ist nicht Summe meiner Erfahrung. Ich persönlich befinde mich in der Situation zu predigen, zu beten, die Schrift auszulegen und ihr zu trauen wie je – und doch gleichzeitig als Theologe die Ratlosigkeit, die sich in dieser Formel ausdrückt, denken zu müssen. Ich muß diese Formel aber bedenken, weil ich neben mir die Angesichter von Juden sehe, denen in Auschwitz der Glaube, besser: jedes Vertrauen in Gott zerschlagen worden ist.

Aber was vielleicht noch schlimmer ist und schwerer wiegt: Es geht nicht um einen Glaubensverlust der in der Gaskammer von uns Christen allein Gelassenen. Es geht vielmehr um eine Atomisierung des Verhältnisses verschiedener Menschen in der Gaskammer. Wir hören von Menschen, die dort Gott und uns ausdrücklich verfluchten, - von anderen, die voll Inbrunst (in letzter Kawana = Gebetsintensität) das Schma Jisrael riefen, – und von den mitten unter den Genossen ihres Volkes in völliger Leere Erstickenden.

Menschliches Sterben beweist nichts über Gott, gar nichts – auch nicht ein so genanntes seliges Sterben. Überdies kennen wir keinen Zeugen von drinnen, alles was wir hören, ist ein Hören von außen. Weder läßt sich aus dem, was wir zu hören bekommen, behaupten, daß Gott dort tot sei, noch daß er lebe, noch daß er sich vergessen habe. Im Gas entsteht keine Theologie. Wir können nur hören, was Gerettete gehört haben von draußen oder wie sie dran waren, als sie erwachten aus der quälenden Inkubationszeit ihres Entsetzens: als an ihnen da erst geschah, was den Ihren im Gas widerfahren war: das Fluchen, das Rufen und die ausgemergelte Leere.

Mit dieser Formel versuche ich teilzunehmen an ihrem Zeugnis; sie ist nichts als ein Hör-Versuch auf sie. Sie hat nichts Dogmatisches. Sie ist selbst eine Formel des Unsagbaren: eben über das Verhältnis von Gott zu Gott.

Weil in und nach Auschwitz ein Tod Gottes sich nicht behaupten läßt – wage ich von Gott zu reden.

Weil in und nach Auschwitz ein Leben Gottes im Dennoch sich nicht behaupten läßt – wage ich, von Gott nur noch zu reden unter dem Vorbehalt Gottes.

Haben wir früher von einem eschatologischen Vorbehalt gegenüber alledem gehört, was wir als Christen sind und glauben - noch ist unser Leben mit Christus verborgen in Gott, noch ist nicht deutlich sichtbar geworden, was wir einst sein werden –, so verschärft sich nach meinem Verständnis der immer schon zum Glauben gehörende Vorbehalt auf einen Vorbehalt Gottes gegen Gott: ob er will und er lebt.

Ist dies denn ein eschatologischer Vorbehalt? Jüdische Lehrer des Talmud kennen so etwas. Einige hörten Gott beten (Gott betet zu Gott): Möchte doch meine Barmherzigkeit meine Gerechtigkeit überwinden. Seitdem sie Gott so beten hörten, hoffen sie darauf, daß Gott sich im kommenden Äon selbst erhören kann und wird, daß er dann nur noch ein uns guter, nicht mehr uns streng begegnender Gott sein werde, daß also Gott sich selbst überwinde.

An diesen um seine eschatologische Selbstüberwindung betenden Gott habe ich bei meiner Formel inhaltlich gedacht. Ihre Form habe ich von Jakobus, ihren Inhalt von Lehrern Israels.

Nur daß ich gar nicht mehr von einem eschatologischen Vorbehalt sprechen kann, in dem Gott noch gegen sich selbst lebt. Nach Auschwitz steht Gott unter dem Vorbehalt seiner eigenen Existenz, seitdem steht sein Leben auf dem Spiel.

Ich weiß, daß ich mit diesen Gedanken das Gebiet der Theologie verlasse und hinüber wechsele in das Gebiet des Theosophischen: der menschlichen Spekulation über Gott im ursprünglichen Verhältnis zu sich selbst. Kann Theologie allenfalls noch fragen: Wie werden Weltall, Erde und Mensch?, so will Theosophie wissen: Wie wird Gott?

Doch kann ich meine Grenzüberschreitung von der Theologie, die immer schon mit Gott beginnt, ins Theosophische nicht als Verrat ansehen. Sie ist eine Konsequenz dessen, daß die Theologie die Gaskammern mit vorbereitet hat. Und die Konsequenz davon, daß ich gewählt habe, Theologie nur noch im Hörverhältnis zu meinen Opfern machen zu wollen, also im Hören auf Andere als mich selbst und meinesgleichen. Die Fragen von jenseits der Theologie gellen in meinem Ohr und nötigen mich zu Seufzern meiner theologischen Ohnmacht: So Gott will und er lebt.

Keine Bibel; keine Dogmatik, kein Beten, kein Predigen und vor allem: kein Danken ohne dies: "So Gott will und er lebt."

Theologie ist Eschatologie.

Und Eschatologie ist nichts als dieses Seufzen – aber das kann auch stammeln:

Amen – das ist, es werde wahr.

 

Editorische Anmerkungen

Maschinenabschrift eines Manuskripts mit dem handschriftlichen Vermerk: "Für die Talmudtagung am 9.12.1994 – nicht vorgelesen" – im Manuskript unterstrichene Stellen sind kursiv gesetzt.

Quelle: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, Heft 3, 2008.