Was meint „Gottes Sohn“?

Im Neuen Testament, so der Theologe Hans Küng, bedeutet der Titel »Sohn Gottes«, wenn er für Jesus benutzt wird, dessen »Einsetzung in eine Rechts- und Machstellung«. Küng meint, »Würde die Gottessohnschaft auch heute wieder in ihrem ursprünglichen Verständnis vertreten, so brauchte, scheint es, vom jüdischen oder islamischen Monotheismus her wenig Grundsätzliches eingewendet zu werden«.[1]

Gott selber (griech.: »ho theós« = »der« Gott schlechthin) ist im Neuen Testament allein der Vater. Erst nach Jesu Tod, als man aufgrund bestimmter österlicher Erfahrungen, Visionen und Auditionen glauben durfte, dass er nicht in Leid und Tod geblieben, sondern in Gottes ewiges Leben aufgenommen, durch Gott zu Gott »erhöht« worden war, hat die glaubende Gemeinde angefangen, den Titel »Sohn« oder »Sohn Gottes« für Jesus zu gebrauchen.

Man erinnerte sich, aus welcher innigen Gotteserfahrung, Gottverbundenheit und Gottesunmittelbarkeit heraus der Nazarener gelebt, verkündet und gehandelt hat: wie er Gott als den Vater aller Menschen anzusehen gelehrt (»Vater unser«) und ihn selber Vater genannt hat (»Abba, lieber Vater«).

Es gab also für Juden, die Jesus nachfolgten, einen sachlichen Grund und eine innere Logik dafür, dass er, der Gott »Vater« genannt hatte, von seinen gläubigen Anhängern dann auch ausdrücklich der »Sohn« genannt wurde.

Man begann, die messianisch verstandenen Lieder des Psalters zu Ehren des vom Tod Erweckten zu singen, besonders die Thronbesteigungspsalmen. Die Erhöhung zu Gott konnte man sich als Jude damals leicht in Analogie zur Thronbesteigung des israelitischen Königs denken. Wie dieser - wahrscheinlich in Anlehnung an altorientalische Königsideologie - im Moment seiner Thronbesteigung zum »Sohn Gottes« eingesetzt wurde, so jetzt auch der Gekreuzigte durch seine Auferweckung und Erhöhung.

Besonders dürfte Psalm 110, in welchem König David seinen zukünftigen »Sohn« besang, der zugleich sein »Herr« war, immer wieder gesungen und zitiert worden sein: »Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten!« (Vers 1). Denn dieser Vers beantwortete den jüdischen Anhängern Jesu die brennende Frage nach dem »Ort« und der Funktion des Auferweckten: Wo ist der Auferstandene jetzt? Man konnte antworten: Beim Vater, »Zur Rechten des Vaters«: nicht in einer Wesensgemeinschaft, wohl aber in einer »Throngemeinschaft« mit dem Vater, so dass Gottesreich und Messiasreich faktisch identisch werden: »Die Einsetzung des gekreuzigten Messias Jesus als des „Sohnes“  beim Vater „durch die Auferweckung von den Toten“ gehört so doch wohl zur ältesten, allen Verkündigern gemeinsamen Botschaft, mit der die „Messiasboten“ ihr eigenes Volk zur Umkehr und zum Glauben an den gekreuzigten und von Gott auferweckten und zu seiner Rechten erhöhten „Messias Israels“ aufriefen« (M. Hengel).

In Psalm 2,7 – einem Thronbesteigungsritual – wird der Messias-König sogar ausdrücklich als »Sohn« angesprochen: »Mein Sohn bist du; ich habe dich heute gezeugt.« Wohl zu beachten: »Zeugung« ist hier Synonym für Inthronisierung, Erhöhung. Von einer physisch-sexuellen Zeugung wie beim ägyptischen Gott-König und bei hellenistischen Göttersöhnen oder auch von einer meta-physischen Zeugung im Sinne der späteren hellenistisch-ontologischen Trinitätslehre gibt es, wie in der Hebräischen Bibel so auch im Neuen Testament, keine Spur!

Deshalb kann es dann in einem der ältesten Glaubensbekenntnisse (wohl schon vorpaulinisch) zur Einleitung des Römerbriefes heißen: Jesus Christus wurde »eingesetzt zum Sohne Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten«. Deshalb kann in der Apostelgeschichte dieser Thronbesteigungspsalm 2 aufgegriffen und jetzt auf Jesus angewendet werden: »Er (Gott) sprach zu mir (nach dem Psalm zum König, zum Gesalbten, nach der Apostelgeschichte aber zu Jesus): „Mein Sohn bist du; ich habe dich heute gezeugt.“« Und warum kann dies alles geschehen? Weil hier im Neuen Testament noch gut jüdisch gedacht wird: »Gezeugt« als König, »gezeugt« als Gesalbter (= Messias, Christus) heißt eben nichts anderes als eingesetzt als Stellvertreter und Sohn. Und mit dem »heute« (im Psalm der Tag der Thronbesteigung) ist in der Apostelgeschichte eindeutig nicht etwa Weihnachten, sondern Ostern gemeint. Also nicht das Fest der Niederkunft, der Menschwerdung, der »Inkarnation«, sondern der Tag der Auferweckung, der Erhöhung Jesu zu Gott, Ostern, das Hauptfest der Christenheit.

Was also ist ursprünglich jüdisch und so auch neutestamentlich mit der Gottessohnschaft gemeint? Was immer später von hellenistischen Konzilien mit hellenistischen Begriffen in dieser Sache definiert wurde: lm Neuen Testament ist ohne Frage nicht eine Abkunft, sondern die Einsetzung in eine Rechts- und Machtstellung im hebräisch-alttestamentlichen Sinne gemeint. Nicht eine physische Gottessohnschaft, wie in den hellenistischen Mythen und wie von Juden und Muslimen bis heute oft angenommen und zu Recht verworfen, sondern eine Erwählung und Bevollmächtigung Jesu durch Gott, ganz im Sinn der Hebräischen Bibel, wo bisweilen auch das Volk Israel kollektiv »Sohn Gottes« genannt wird. Gegen ein solches Verständnis von Gottessohnschaft war vom jüdischen Ein-Gott-Glauben her kaum Grundsätzliches einzuwenden; sonst hätte es die jüdische Urgemeinde auch gewiss nicht vertreten.

Würde die Gottessohnschaft auch heute wieder in ihrem ursprünglichen Verständnis vertreten, so brauchte, scheint es, vom jüdischen oder islamischen Monotheismus her wenig Grundsätzliches eingewendet zu werden. Für Juden, Muslime, aber auch für Christen ist der Ausdruck »Mensch gewordener Gott« irreführend. Biblisch korrekt wird man mit Paulus von der »Sendung des Gottes-Sohnes« oder mit Johannes von der »Fleischwerdung« des »Gottes-Wortes« reden. Jesus ist in menschlicher Gestalt Gottes »Wort«, Gottes »Wille«, Gottes »Bild«, Gottes »Sohn«.

Unter diesen Voraussetzungen konnte die Rede von Vater, Sohn und Geist vielleicht auch für Juden und Muslime leichter verständlich sein. Ich versuche es in drei Sätzen zusammenzufassen, was mir vom Neuen Testament her, für heute überlegt, der biblische Kern der traditionellen Trinitätslehre zu sein scheint:

- An Gott, den Vater, glauben, heißt, an den einen Gott, Schöpfer, Bewahrer und Vollender von Welt und Mensch glauben: Diesen Glauben an den einen Gott haben Judentum, Christentum und Islam gemeinsam.

- An den Heiligen Geist glauben, heißt, an Gottes wirksame Macht und Kraft in Mensch und Welt glauben: Auch dieser Glaube an Gottes Geist kann Juden, Christen und Muslimen gemeinsam sein.

- An den Sohn Gottes glauben, heißt, an des einen Göttes Offenbarung im Menschen Jesus von Nazaret glauben, der so Gottes Wort, Bild und Sohn ist. Über diese entscheidende Differenz müsste gerade unter den drei prophetischen Religionen weiter gesprochen werden.

[1] Der schweizer Theologe Hans Küng hat von 1960 bis 1996 an der Eberhard Karls Universität in Tübingen gelehrt. Seit 1993 widmet er sich seiner Entwicklung des Weltethos mit dem Ziel, die gemeinsamen Züge der Weltreligionen herauszuarbeiten und eine Ethik zu entwickeln, die von allen akzeptiert werden könnte. Eines der neueren Werke des produktiven Autors ist Jesus (Piper, München 2012), in dem er mehrere Kapitel seines früheren Buches Christ sein (Piper, München 1974) wieder aufgreift und sie neu bearbeitet und aktualisiert. Im folgenden ein Auszug der Seiten 264 - 268, mit der freundlichen Genehmigung des Autors.