Warum die Kirche von Israel reden muß, wenn sie von sich selbst redet

Referat zur Themensynode Christen und Juden der Nordelbischen Evangelisch- Lutherischen Kirche.

Jürgen Ebach

Warum die Kirche von Israel reden muß,

wenn sie von sich selbst redet

Referat zur Themensynode Christen und Juden

der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche

I.

Diese Synode steht vor einer epochalen Entscheidung. Das scheint etwas zu dick aufgetragen angesichts der Tatsache, daß nach vielen in dieser Frage vorangegangenen Landeskirchen der EKD nun auch die Nordelbische Ev.-Luth. Kirche einen Synodalbeschluß zur Erneuerung des Verhältnisses zu Israel anstrebt. Immerhin würde ein solcher Beschluß in Nordelbien eine neue Phase dokumentieren. Aber nicht deshalb verwende ich den Begriff "epochal", sondern wegen seines ursprünglichen Sinns, in dem eine "epoché" ein Innehalten, eine Unterbrechung ist. Eine "Epoche" ist so verstanden nicht sogleich eine neue Ära, sondern zuerst der Moment, in dem man von etwas Altem, lange scheinbar ungefragt Geltendem Abstand gewinnt, um in einer nun fälligen Standortbestimmung Raum für Neues zu eröffnen. Übrigens ist das Wort "epoché" zuerst in der skeptischen Philosophie verortet, der Skepsis vor allzu klaren Fronten und allzu steilen Wahrheitsansprüchen. Epochal wäre der Synodenbeschluß also dann, wenn er nicht durch Formelkompromisse Probleme zudeckte oder gar für endlich erledigt erklärte, sondern das Feld für die vielen dann fälligen Fragen eröffnete, die Füße (und Köpfe) auf weiten Raum stellte, einen Raum für wirkliche Dialoge, für offene Auseinandersetzungen, für die Suche nach Antworten statt des vorgeblichen Besitzes der Wahrheit.

Damit es aber diesen freien Raum geben kann, müssen zunächst geschlossene Räume geöffnet werden. Um Neues lernen zu können, muß man manches Alte verlernen. Im Verhältnis zwischen Juden und Christen, Kirche und Israel, deutschen und jüdischen Menschen gibt es nicht den Nullpunkt, an dem ein unbelasteter Dialog einsetzen könnte. Es gibt stattdessen die ungeheure Last der christlichen und noch einmal der deutschen Geschichte. Die Tradition aller toten Geschlechter (so hat es Marx einmal formuliert) lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und (ich mache eine zweite literarische Anleihe, diesmal bei Christa Wolf) diese Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen. Deshalb ist es buchstäblich not-wendig, daß die "Theologische Erklärung" zur Beschlußvorlage mit einem Bekenntnis von Schuld und Irrtum einsetzt. Ich könnte mir vorstellen, daß an den Formulierungen im einzelnen noch gearbeitet wird, daß z.B. das undifferenzierte "wir" als Subjekt von Schuld und Irrtum (auch im Blick auf konkrete Ereignisse im Bereich der heutigen Nordelbischen Kirche) präzisiert (wenn auch nicht relativiert) werden und einige womöglich zu sehr an kirchlicher Formelsprache ausgerichtete Formulierungen zugunsten genauerer Bezeichnungen und Benennungen zurücktreten könnten. Doch bleibt unbeschadet aller Anfragen an einzelne Formulierungen unverzichtbar, daß ein solches Schuldbekenntnis gegenüber Israel hier einen Ort hat. Christliche Judenfeindschaft leistete dem Versuch der Ausmordung des europäischen Judentums Vorschub; das ist durch keine Unterscheidung etwa zwischen christlichem Antijudaismus und rassischem Antisemitismus zu verharmlosen. Ich stimme diesem unverzichtbaren Teil der Erklärung also ausdrücklich zu. Und doch möchte ich auf eine Problematik hinweisen, die in einer gewissen Gemengelage zwischen historischen, theologischen und psychologischen Aspekten angesiedelt ist.

So richtig es ist, jeden Versuch einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden im Angesicht der Realität der Schoah wahr zu nehmen, so wichtig ist es doch auch, darin die unüberhörbare Mahnung zu diesem Versuch, doch nicht seinen letzten Grund zu erkennen. Nicht erst die unendliche Schuld von Christen an Juden nötigt zur Frage nach dem Verhältnis des Christentums zu Israel als Grundfrage christlicher Identität, sondern die unaufgebbare Beziehung des Christentums auf das Judentum als Grund seiner Existenz und Identität selbst. Was das sei, Christentum, Kirche, christliche Gemeinde, läßt sich nicht sagen, ohne daß dabei die Frage nach Israel ins Zentrum gerät. Daß die Verdrängung oder Verdrehung dieser Frage zur Schoah führen konnte, spitzt sie dramatisch zu; unabweisbar ist diese Frage jedoch, wo immer es um christliche Identität geht. Diese biblisch-theologischen Aspekte will ich später wieder aufnehmen. Aber ich habe auch psychologische erwähnt. Es gibt Entscheidungen und Veränderungen, die man im Bewußtsein der Schuld treffen muß. In aller Regel keine guten Entscheidungen und Veränderungen sind aber diejenigen, die man aus Schuldgefühlen trifft. Kaum jemand wird in Diskussionen über das Thema Kirche und Israel in Gemeinden, Synoden, Universitätsseminaren, Akademietagungen und weiteren Diskussionsforen die Schuld von Christinnen und Christen und noch einmal von Deutschen leugnen. Und doch spüre ich bei vielen Gesprächen eine – ich sage das jetzt absichtlich so vage – Unlust. Daß man nicht immer wieder an diese dunklen Seiten der eigenen Geschichte erinnert werden will, ist das eine. Aber es kommt etwas hinzu. Oft nämlich zeitigt dieses Thema vor allem, was alles wir nicht mehr sagen, nicht mehr glauben, nicht mehr singen, nicht mehr beten und nicht mehr denken dürfen. Die Agenden enthalten noch immer eine problematische bis ideologische Textauswahl, Schulbücher noch immer judenfeindliche Passagen, vertraute Kirchenlieder werden als hochbelastet erkannt, Begriffe (seien es die Pharisäer oder Spitzbuben, sei es die Judenschule oder auch das "Alte Testament") geraten in die Schußlinie, hochangesehene und hochansehnliche Bilder in vielen Kirchen werden in ihrer judenfeindlichen Tradition entlarvt, Predigten in ihrer das Alte Testament christlich vereinnahmenden Tendenz kritisiert usf.

Das alles geschieht meist mit Recht und wird noch lange nötig sein. Aber wer läßt sich schon gern immer wieder sagen, was man alles nicht mehr dürfe? Das Thema "Juden und Christen" gerät nicht selten zu einem Wald von Verbotsschildern und seine Wortführer zuweilen zu einer Art Oberlehrer, die unnachsichtig aufdecken, wo schon wieder einer etwas Falsches gesagt hat. Political (oder theological) correctness scheint angesagt. Aber dann ist es kein Wunder, wenn das Thema des Verhältnisses von Christen und Juden gerade bei Menschen, die sich ihm nicht von vornherein verschließen, zu dem Eindruck führt, da kriege man mehr verboten als geboten, mehr noch: bei diesem Thema bekämen Christenmenschen vor allem etwas weggenommen. Ich kritisiere hier nicht eine ungeschickte Verpackung oder wenig begeisternde Verkaufsstrategie; ich kritisiere die in dieser Verkürzung des Themas steckende Verarmung. Wir müssen wahr nehmen, was alles wir verlernen müssen (so nicht mehr singen und sagen sollen), aber ebenso und mehr, welche neuen Entdeckungen wir machen können, wenn wir uns von den alten Mustern entfernen, an welchem Reichtum wir Anteil bekommen können, wenn wir es lernen, die Bibel nicht gegen, sondern mit Jüdinnen und Juden zu lesen und zu lernen.

Zur Debatte steht in dieser Synode eine Ortsbestimmung (darauf zielt die beantragte Ergänzung der Präambel) und die Bereitschaft zum Weitergehen (darauf zielt u.a. die Beantragung einer hauptamtlichen Pfarrstelle für den christlich-jüdischen Dialog). Es geht um die verbindliche Bestimmung eines Standorts, von dem aus neue Schritte nötig und möglich sind. In diesem Sinne setzt der Beschluß, um den die Synode gebeten wird, hinter das Thema keinen Punkt, sondern für das weitere Arbeiten an diesem Thema einen Doppelpunkt.

Es geht um einen Beschluß, der einen verbindlichen Ausgangsort benennt, von dem aus viele weitere Arbeit an diesem Thema nötig und dann eben auch möglich wird. Keine auch nur denkbare Formulierung kann den Anspruch erheben, alle wichtigen Fragen des Themas gelöst zu haben. Es geht um einen Beschluß, der den Raum öffnet für eine weiter notwendige Debatte, die für mehr als eine Auffassung offen sein wird, in der um Antworten gerungen werden muß. Eine solche Debatte aber wird nur dann möglich sein, wenn an entscheidenden Stellen ein Konsens formuliert wird, der für die weitere Arbeit an diesem Thema den in dieser Kirche verbindlichen und verbindenden Rahmen benennt.

II.

Die vorgeschlagene Ergänzung der Präambel der Verfassung der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche lautet:

"Die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Sie sucht Begegnung und Versöhnung mit dem Volk Israel."

In den voraufgegangenen Debatten in mehreren Landeskirchen (u.a. meiner westfälischen) und im Vorfeld dieser Synode meldeten sich kritische Stimmen im Blick auf zwei Kernfragen. Die eine bezieht sich auf die Verwendung des Wortes "Israel". Muß man nicht, so wird gefragt, genauer differenzieren zwischen biblischem Israel, rabbinischem Judentum, den vielen Formen des Judentums in seiner Geschichte und schließlich dem modernen Staat Israel mit seinen unterschiedlichsten Bürgern, die nicht alle Jüdinnen und Juden sind und unter deren jüdischen Bürgern keineswegs alle als religiös verstanden werden können oder auch nur wollen? Von welchen konkreten Menschen sei also die Rede? Meine Israel ein Volk, eine Religion, einen Staat oder eher eine Tradition? Zudem gebe es doch auch den christlich-kirchlichen Sprachgebrauch, in dem sich die christliche Gemeinde als "Israel" verstehe. Kurzum, die undifferenzierte Rede von Israel sei nicht geeignet in einem ja nicht zuletzt auch kirchenrechtlich relevanten Text, der nicht mit unklaren Begriffen operieren solle.

Bevor ich mich mit diesem Bündel von kritischen An- und Rückfragen auseinandersetze, will ich den zweiten Haupteinwand nennen, so wie er sich mir darstellt. Er bezieht sich darauf, daß es ein ungewöhnlicher und problematischer Vorgang sei, wenn eine christliche Synode einen verbindlichen Text beschließe, der sich in seinem Kern nicht nur auf eine andere, nichtchristliche Religion beziehe, sondern im Blick auf diese (und zwar diese zunächst für sich allein) eine theologische Wertung formuliere. Beide Anfragen sind keineswegs von der Hand zu weisen. Ich will versuchen, ihnen zu begegnen und beginne mit der erstgenannten Frage, wer (oder was) Israel sei. Ich nähere mich ihr methodisch, d.h. wörtlich: auf einem Umweg.

Wer (oder was) ist der Mensch? Es gibt Kontexte, in denen es unverzichtbar ist, von dem Menschen zu reden, z.B. dann, wenn es um Menschenwürde und Menschenrechte geht. Mensch ist eine jede, die, ein jeder, der Menschenantlitz trägt; es gibt nicht mehr oder weniger Menschsein, die – biblisch gesprochen – Gottesbildlichkeit ist jedem Menschen, ist dem Menschen unzerstörbar zugesprochen. Aber es gibt ebenso Situationen, in denen man jeder undifferenzierten Rede von dem Menschen widersprechen muß. Wenn jemand zu wissen meint, was der Mensch sei, muß man darauf beharren, daß es den Menschen nicht gibt, sondern Menschen in je konkreter Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, einem Alter, einer Kultur, Sprache, Sozialisation, Religion und vielen weiteren Konkretionen und dabei (das ist ebenso wichtig) den vielen Formen der Überschreitungen all dieser Zuschreibungen, d.h. es gibt nur je konkrete Menschen in ihrer unverwechselbaren Einzigkeit. Die Rede vom Menschen ist also ebenso unmöglich wie notwendig. Es bedarf dieser umfassenden Kategorie, und es bedarf der je notwendigen Konkretionen.

Grundsätzlicher gesagt: Es gibt eine terminologische Differenzierung, die der größeren Genauigkeit dient – sie ist allemale hilfreich. Es gibt aber auch eine terminologische Differenzierung, die dem Zwecke dient, sich je bestimmte Dimensionen der Fragen vom Leibe zu halten. Ihr gilt mein Verdacht. Und bei der strikten Unterscheidung zwischen Israeliten, Juden und Israelis, der klaren Unterscheidung der Verwendung des Wortes "Israel" für einen Staat, ein Volk oder eine Religion oder auch der strikten Unterscheidung von Antijudaismus und Antisemitismus scheint mir die erste in die zweite überzugehen. Ich möchte trotz aller unterschiedlicher Gestalten Israels in seiner Geschichte und Gegenwart die Kontinuität Israels (von "alttestamentlicher" Zeit bis heute) stärker betonen als die Differenzen – nicht etwa, weil ich zu definieren wüßte, was Israel sei. Das ist so wenig einlinig anzugeben wie beim Christentum auch. Dennoch möchte ich nicht diejenige (mir im Studium vermittelte) kategoriale Trennung zwischen Israeliten, Juden und Israelis wiederholen, der es letztlich nicht um historische Unterscheidung geht, sondern um die Scheidung zwischen dem, womit wir es im Alten Testament zu tun haben, auf der einen und dem Judentum und dem gegenwärtigen Israel auf der anderen Seite. Es ist noch nicht lange her, daß eine typische "Geschichte Israels", verfaßt von einem Alttestamentler, bis höchstens zum Jahre 135 n.Chr. reichte – als ob es danach eine Geschichte Israels nicht gegeben hätte und nicht gäbe. Immerhin tragen inzwischen die "Geschichten Israels" meist einen Untertitel (etwa: [Geschichte Israels] "in alttestamentlicher Zeit"). Darin zeigt sich sowohl eine gewachsene Sensibilität gegenüber dem späteren und gegenwärtigen Israel (wie gegenüber der Verstrickung des Themas in die eigene christliche und noch einmal deutsche Geschichte) als auch eine gewachsene historische Genauigkeit. Aber noch immer zucken viele Alttestamentler zusammen, wenn jemand im Seminar die Worte israelitisch, jüdisch oder israelisch nicht sorgsam auseinander hält, noch immer fragt man, ob jemand Hebräisch oder Ivrit gelernt habe (was nichts anderes ist, als fragte man jemanden, ob sie Französisch oder Français lerne, denn Hebräisch heißt auf Hebräisch Ivrit).

Keineswegs geht es mir um den Verzicht auf historische Unterscheidungen. Fatal wäre etwa die Annahme, heute lebende jüdische Menschen würden bruchlos die alttestamentlichen Gesetze in ihrem historischen Wortlaut für verbindlich halten und so praktizieren. Es wäre eine sträfliche Verkürzung, wollte man zwischen dem Denken, Glauben und Handeln Davids, des "Hiobautors", Philos von Alexandrien und des Rabbi Akiva nicht unterscheiden und sähe heute ein einheitliches Judentum bei – ich bilde eine abenteuerlich-bunte, doch womöglich erhellende Reihe: – dem Lubawitscher Rebben und Woody Allen, Jeschajahu Leibowitz und Joram Kaniuk, Gershom Scholem und Barbra Streisand, Walter Benjamin und George Tabori, Ignaz Bubis und Paul Spiegel, Edna Brocke und Micha Brumlik. Aber wir differenzieren zwischen Paulus, Augustin und Luther doch auch (hoffentlich tun wir das!) - und zwischen Karl Barth und Emanuel Hirsch, Dorothee Sölle und Karel Woityla, Leonardo Boff und Mutter Teresa, Dietrich Bonhoeffer und Wilhelm Kiekbusch, Otto Dibelius und Martin Niemöller. Und doch gehören alle zuletzt Genannten zu Christentum und Kirche. Von dem Christentum, von der Kirche zu reden bleibt notwendig, obwohl oder gerade weil es unter anderem Aspekt das Christentum, die Kirche nicht gibt.

Im Blick auf Israel spitzt sich die Frage noch einmal zu. Wenn es keine engste Verbindung gäbe zwischen denen, die im "Schma" jisra"el" ("Höre Israel!") im 5. Mosebuch angeredet sind, und denen, die sich in den Jahrhunderten nach der Formulierung des alttestamentlichen Textes bis heute so anreden ließen und lassen, wenn es keine genuine Verbindung gäbe zwischen denen, denen die biblischen Verheißungen und Zusagen Gottes gelten, und denen, die – vielleicht im tiefsten Grund, weil man diese Verheißungen und Zusagen Gottes nicht ertragen wollte – verfolgt und ermordet wurden, in Kreuzzügen und Pogromen, in Auschwitz, Maidanek, Sobibor und all den Schreckensorten, wenn es da nicht stets auch um das eine Israel ginge, dann hinge jeder Versuch einer Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden, Kirche und Israel in der Luft. Dann nämlich wäre die biblisch-theologische Seite dieser Frage eine historisch-theologische (für die Bibelwissenschaftler und Historiker der frühen Kirche zuständig sind), die gegenwärtigen Fragen blieben solche an Religionswissenschaftler (indem das Judentum als eine der vielen Religionen in der Welt zu verorten wäre), die Judenverfolgungen wären Thema der Historiker und Genozidforscher und die Begegnung zwischen israelischen und deutschen Menschen Thema der Politik und der Pädagogik. Die so gestellten Fragen haben in all diesen Bereichen großes Gewicht, aber daß eine Synode nach dem Verhältnis zu Israel fragt, hat seinen Grund darin, daß all diese Aspekte aufs engste zusammenhängen und in ihrer Gesamtheit zur Frage nach dem Christentum, nach der Kirche werden müssen. Und eben diese Gesamtheit kommt nur in den Blick, wenn sie sich auf den Namen bezieht, der all das verbindet, und das ist der Name Israel. Ist erst einmal dieser Zusammenhang festgehalten, dann müssen all die nötigen Differenzierungen beachtet, so genau wie möglich diskutiert und, wo es möglich ist, geklärt werden.

Kaum weniger komplex ist die in dem zweiten genannten Einwand gebündelte Anfrage: Kann die Präambel der Verfassung einer Ev.-Luth. Kirche eine Aussage über Gottes Treue im Blick auf die Erwählung Israels treffen, d.h. etwas über ein Volk und eine Religionsgemeinschaft außerhalb des eigenen (juristisch gesagt:) Geltungsbereichs bekunden? Damit ist ein Kern des Themas getroffen. Tatsächlich ist ja ein Ergebnis des mühsamen und auch schmerzlichen Lernprozesses, den die "Theologische Erklärung" benennt, daß "wir" (wir Christinnen und Christen, wir, die Gemeinde, die Kirche, wir, die Deutschen) nicht Israel sind. Zu verlernen, um Neues lernen zu können, ist ja gerade die Selbstverständlichkeit, in der sich Christen mit Israel identifizieren. Da wird in aller Regel unbefragt vorausgesetzt, daß die "Tochter Zion" des Adventslieds die christliche Gemeinde ist, daß "wir" gemeint sind, wenn in einem alttestamentlichen Predigt- oder Lesetext vom Volk Gottes die Rede ist, daß sich der Zuspruch "ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein" aus dem Jesajabuch auf die christliche Taufe bezieht, daß die Zehn Gebote und der aaronitische Segen uns Christinnen und Christen gelten.

Nein, wir sind nicht Israel, und doch sind all die gerade genannten Worte in unseren Liedern, Gebeten, Gottesdiensten Worte Israels. Ohne diese Worte aber würden unsere Gottesdienste und Gebete dürr, würde der Schatz der Tauf- und Konfirmationssprüche arm. Die christliche Gemeinde ist angewiesen auf Worte, die zuerst Israel gesagt sind. Sie sind ja viel mehr als eine Sammlung schöner Zitate und beherzigenswerter Sätze der Weltliteratur, es sind die Worte, von und in denen die Gemeinde, die Kirche lebt. Aber was tut die Gemeinde und Kirche, wenn sie von sich selbst in solchen Worten spricht? Wenn es die Worte Israels nicht nur waren, sondern noch sind, ist es denn nicht ein Raub an Israel, wenn Christen ihrer eigenen Frömmigkeit so Ausdruck geben?

Wie immer man hier urteilen will, es bedarf einer Legitimation. In der ganz überwiegenden Geschichte von Christentum und Kirche gab es diese Legitimation, nämlich mit Hilfe der Grundthese, daß all das einst an und von Israel gesagt wurde, dann aber von Gott selbst Israel weggenommen und auf die Kirche übergegangen sei. Lange gab es in den Köpfen und Herzen so etwas wie eine zwar nicht wörtlich formulierte, aber gleichsam im Stillen mit zu denkende Präambel der Kirchenverfassungen, die, würde man sie aussprechen, etwa so lautet: Die Kirche bezeugt, daß Gott seinen Bund mit Israel gekündigt hat und daß seine Erwählung und seine Verheißungen nunmehr den Christen gelten.

In den letzten Jahren hat ein Prozeß eingesetzt, als dessen Ergebnis wir festhalten können, daß diese Auffassung in den Kirchen (Gott sei Dank) keine Geltung mehr beanspruchen kann. Die dieser Synode vorgeschlagene Erweiterung und die zu ihrer Erläuterung vorgelegte "Theologische Erklärung" ist Ausdruck dieser weithin schon vollzogenen Erneuerung. Doch nicht erst diese Erneuerung setzt eine Aussage über die Beziehung Gottes zu Israel an den Anfang. Sie setzt sie an die Stelle einer der Sache nach immer schon vorausgesetzten Aussage über Israel. Nicht daß eine christliche Kirche von Israel sprechen muß, wenn sie von sich selbst zu sprechen beginnt, ist also das Neue, sondern wie sie es tut. Wir müssen prinzipiell (d.h. am Anfang und im Grundsatz) von Israel sprechen, weil wir unsere christliche Frömmigkeit nicht ausdrücken können, ohne mit Israel zu sprechen, mit Worten, die zuerst und bleibend Israel gesagt sind. Wir müssen prinzipiell (d.h. am Anfang und im Grundsatz) von Israel sprechen, wenn wir diese Worte nicht mehr gegen, sondern mit Israel sprechen wollen.

Damit ist freilich die Frage nicht erledigt, was wir tun, wenn wir Worte an Israel und Worte Israels in unseren Gottesdiensten und Gebeten, unseren Kirchenliedern und Taufsprüchen so sprechen, daß sie auch uns gelten. Man könnte aus der leidvollen und bösen Geschichte der Enteignung Israels durch Christen und Kirchen ja zunächst einmal auch schließen, wir sollten uns fürder all dieser Enteignungen enthalten und nur noch die eigenen christlichen Worte gebrauchen. Welche Worte aber sollte dann eine Kirche gebrauchen, vollends wenn sie sich als Evangelisch-Lutherische Kirche auf die "Schrift" berufen wollte? Gibt es in der ganzen Bibel (Alten und Neuen Testaments) auch nur ein einziges Wort, welches nicht von oder zu jüdischen Menschen gesprochen ist? Mit aller Klarheit ist festzuhalten, daß wir, wo immer wir uns auf die Bibel beziehen, wo immer wir Worte der Bibel lesen, sprechen, beten, Worte lesen, sprechen und beten, die von oder zu (und meist von und zu) jüdischen Menschen gesagt sind, daß wir, wo immer wir von Gott und zu Gott sprechen, den einen Gott meinen, der Israels Gott war und ist und sein wird. Wir müssen also von Israel sprechen, wenn wir von uns selbst sprechen wollen.

Aber wie können wir dann von uns selbst sprechen? Was ist die christliche Kirche, die so prinzipiell auf Israel bezogen bleibt und die doch ebenso klar wissen und beherzigen muß, nicht Israel zu sein? Das ist eine weitere Hauptfrage des gesamten Themas. Sie läßt sich auf vielfache Weise stellen, in einer Form lautet sie: Was ist neu am Neuen Testament?

III.

Was ist neu am Neuen Testament? Auch im Blick auf diese Frage war manches zu verlernen, um Neues lernen zu können. Zu verlernen waren Clichés von der Art, das Alte Testament bezeuge den Gott der Rache, das Neue den Gott der Liebe, im Alten gehe es um Gesetzlichkeit, im Neuen um Rechtfertigung. Diese Zerrbilder reden falsches Zeugnis wider Israel, sie sind – auch darüber besteht inzwischen große Einigkeit sowohl in der theologischen Wissenschaft als auch in den Verlautbarungen der Kirchen – schlicht falsch. Daß sie falsch sind, haben christliche Theologinnen und Theologen nicht allein aus ihrem eigenen Studium gelernt, sondern auch und vor allem in der Wahrnehmung jüdischer Studien und im lebendigen Gespräch mit Jüdinnen und Juden.

Vor allem die Erforschung des Neuen Testaments hat in den letzten Jahren durch diese Wahrnehmung jüdischer Texte und jüdischer Menschen einen gewaltigen Fortschritt gemacht. Gerade in dem Bereich also, in dem es um die biblische Grundlage christlicher Theologie geht, bedarf es des gemeinsamen Lernens von Juden und Christen. Und es bedarf (auch das gehört dazu) des gemeinsamen Lernens in Kirchen und Hochschulen. Das Umdenken begann ja weithin nicht in den Theologischen Fakultäten, sondern in Gemeinden und Synoden. Dabei ist das Abbauen des nicht mehr Haltbaren der erste notwendige Schritt.

Inzwischen sind schon weitere Schritte erfolgt und haben zu einer ungeheuren Bereicherung geführt. Neutestamentliche Worte und Schriften erschließen sich auf ganz neue Weise, wenn sie wahrgenommen werden im Zusammenhang jüdischer Fragestellungen, jüdischer Argumentationsfiguren, jüdischer Lehre und jüdischen Lebens. Uns christlichen Bibelwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern wird hier nichts außer den Engführungen und Verzerrungen weggenommen, und wir gewinnen viele neue Einsichten. Die ganze lebendige Welt des Judentums wird als Kontext des Neuen Testaments erkennbar, und viele Worte erschließen sich erst in diesem Horizont. In dem Maße, in dem sich diese Einsichten in Studium und Ausbildung verbreiten, werden sie immer fruchtbarer werden in der Praxis der Kirche, in Predigt und Unterricht, in Leben und Lehre.

Diese neuen Perspektiven werden z.B. eingebracht von den nun schon 25 Jahrgängen derer, die ein Jahr in Jerusalem studiert haben und neue Perspektiven des Bibellesens und -lernens in die Kirchen, auch die Nordelbische Kirche einbringen. Bald wird eine Zeit kommen, in der die Rede vom "alttestamentarischen Rachegott" so klingen wird wie heute die Vorstellung von Hexen oder die einstige kirchliche Lehre, die Sonne drehe sich um die Erde. Vielleicht bin ich zu optimistisch, aber mir liegt viel daran, daß wir nicht allein auf das fixiert bleiben und vor allem das vermitteln, was alles wir nicht mehr sagen und denken sollen, sondern immer mehr und immer zuversichtlicher das weiter geben, das sich uns an ganz neuen, bereichernden und befreienden Perspektiven eröffnet hat und weiter eröffnet.

Aber, so läßt sich ja fragen, wird uns nicht doch etwas weggenommen von der einzigartigen Bedeutung Jesu Christi im Zeugnis des Neuen Testaments, wenn die Person und Botschaft Jesu und das Neue Testament ganz im Horizont des Judentums wahrgenommen werden? Deshalb noch einmal die Frage: Was ist neu am Neuen Testament? Ich versuche (in der notwendigen Kürze) eine kompakte Antwort: Was die Themen, was die Aussagen über Gott, was das angeht, was Menschen geboten ist, ist in der prinzipiellen Perspektive des Neuen Testaments nichts neu. Was aber die Adressatinnen und Adressaten angeht, ist in der prinzipiellen Perspektive des Neuen Testaments alles neu. Das Neue Testament ist als ganzes verstehbar als die Vermittlung der Erfahrungen Israels in die Welt. Das Neue Testament redet von demselben Gott, von dem das Alte redet, und es redet nicht anders von diesem Gott, dem Gott von Liebe und Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Gericht. Weil das so ist (ich nehme einen Hinweis aus Frank Crüsemanns Synodenvortrag vor zwei Jahren auf), kann im Evangelischen Gesangbuch an einer zentralen Stelle, nämlich im Zusammenhang der christlichen Beichte ein Lied vom vergebenden Gott stehen, dessen Text von dem jüdischen Theologen und Schriftsteller Schalom ben Chorin stammt. Seine drei Strophen lauten (EG 237):

Und suchst du meine Sünde, flieh ich von dir zu dir, Ursprung, in den ich münde, du fern und nah bei mir. Wie ich mich wend und drehe, geh ich von dir zu dir; die Ferne und die Nähe sind aufgehoben hier. Von dir zu dir mein Schreiten, mein Weg und meine Ruh, Gericht und Gnad, die beiden bist du – und immer du.

Das ist die Sprache der Psalmen, das ist ein Kern paulinischer und ein Kern lutherischer Theologie. Gott ist alles in allem, Gericht und Gnade stehen bei dem einen Gott, von dem alles herkommt und auf den alles zuläuft. Gott ist erfahrbar in Nähe und Ferne. Keine neue Lehre, keine neue Theologie, keine neue Ethik wird im Neuen Testament an die Stelle des Alten und seiner jüdischen Interpretation gestellt, sondern ihre Universalisierung. Als ein Mensch, der ich kein Sohn einer jüdischen Mutter bin, habe ich durch die Geschichte Jesu, durch die Mission des Paulus einen Zugang bekommen zum Gott Israels.

Diesen Zugang zu eröffnen, ihn für alle Menschen in der Welt zu eröffnen, eben das hat der Völkerapostel Paulus als sein Ziel formuliert: die Bekehrung von den Götzen, "um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen" (1 Thess 1,9). Dieser lebendige und wahre Gott ist der eine Gott, der Gott Israels. Nicht Menschen vom Gott Israels wegzubringen, sondern sie zu ihm hinzuführen, ist das Ziel aller christlichen Mission.

Wie kommen die Völker hinein in das Heil Israels? Das war die zentrale Frage, die Paulus bewegte, seine Mission bis an die Enden der Welt zu bringen. (Nicht ganz nebenbei: Es war der schwedische lutherische Bischof Krister Stendahl, der eben das als den entscheidenden Beweggrund der paulinischen Theologie herausgearbeitet hat.) Die Universalisierung der Gottesbeziehung Israels, von Gott so zu sprechen, daß Menschen aus den Völkern ("Heiden" nennt sie die Lutherbibel) zu diesem Gott finden können, ohne dazu Jüdin oder Jude werden zu müssen – eben das ist das ganz Neue am Neuen Testament. Wir bekennen als Christen, daß Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, daß sich in Jesus als dem Christus Gott selbst in authentischer Weise offenbart, und wissen uns in diesem Bekenntnis als Menschen aus den Völkern ("Heiden") vollwertig von Gott angenommen.

Die Person Jesu Christi und auch eine christologische Lektüre der ganzen Bibel ist für mich als einem Menschen aus den Völkern unverzichtbar. "In Christus" zu sein, wie es im Neuen Testament heißt, ist für Christen, die ja eben darum Christen und Christinnen heißen, der eine Zugang zu dem einen Gott, von dem die ganze Bibel redet. In Joh 10 bezeichnet sich Jesus selbst als diese Tür: "Ich bin die Tür. Wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden ..." Christliche Mission (glücklicherweise nicht mehr mit Feuer und Schwert und anderer Gewalt oder auch nur im Gestus des alleinigen Wahrheitsbesitzes) zielt darauf, diesen Zugang zu dem einen Gott, den die Bibel bezeugt, Menschen aus den Völkern weiterzusagen und sie einzuladen, durch diese Tür zu gehen. In einer Predigt am Karfreitag 2001 formulierte der Bonner Pfarrer Siegfried Virgils mit dem Bild aus Joh 10: "Je besser ich diesen jüdischen Jesus kennenlerne, je deutlicher die jüdischen Umrisse seiner Person und seiner Verkündigung werden, um so mehr rückt Jesus aus dem Zentrum meines Glaubens – nein nicht an den Rand, sondern an die Türschwelle."

Die Türschwelle ist – ich nehme das auf – kein zweitrangiger Ort am Rand, sondern der Zugang zum Haus. Aus den Fenstern kann man aus dem Haus herausschauen, betreten wird man es durch die Tür. Bilder soll man nicht pressen, aber es bietet sich der Hinweis an, daß ein Raum, in dem Tür und Mitte dasselbe wären, sehr eng wäre. Aber Jesus ist im Neuen Testament nicht die Mitte, er verweist mit all seinem Reden und Tun auf die Mitte, auf Gott selbst. Christus als die Tür eröffnet den Zugang zu dieser Mitte für die, die zuvor draußen waren.

Das Bild führt womöglich noch weiter. Ich habe von den Fenstern eines Hauses gesprochen, durch die man heraus- und auch, wenn man dicht genug herankommt, hineinsehen kann – besonders, wenn das Haus erleuchtet ist. Verheißungen des Alten Testaments, die die Völker betreffen, sind solche Fenster. Sie öffnen den Raum für den Blick hinaus, für Israels Blick auf die Völker. Sie sind einbegriffen in die Hoffnung Israels auf die universale Gottesherrschaft. Ich kann jetzt nur wenige Texte in Erinnerung rufen: Am Anfang der Geschichte Abrahams kommen die Völker in den Blick und zwar in ihrer Verbindung mit Abrahams Nachkommen, die (in Segen und Fluch) zum Maßstab wird für Gottes Verhalten gegenüber den Völkern: "Ich will segnen, die dich segnen; der dich geringschätzig behandelt, den verfluche ich. In dir sollen sich segnen lassen alle Völker der Erde." Im Jesajabuch ist die Rede von Israel als "nes ammim", als Zeichen für die Völker; der "Gottesknecht" wird das Recht, die Tora, hinausbringen bis zu den Enden der Welt, Jeremia wird Prophet der Völker genannt, noch bevor er zum Propheten für Israel bestimmt ist. Die Völker selbst kommen an den Zion und holen sich etwas von der Weisung Gottes, der Tora: "Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Winzermessern umschmieden und den Krieg nicht mehr lernen", wie es im Jesaja- und im Michabuch heißt. Nicht allen Menschen zu allen Zeiten in Israel ging diese Völkerperspektive in der Heilsbotschaft für Israel leicht ein: Der Prophet Jona muß lernen, daß Gottes Barmherzigkeit noch gegenüber dem bösen Ninive größer ist als die Konsequenz, einmal ausgesprochene Drohungen zu erfüllen. Leben, Leben auch der Gottlosen wird Gott noch wichtiger als die Wahrheit seiner Propheten. Es sind, wie dieser ganz kleine Ausschnitt zeigt, keine Randtexte des Alten Testaments, die diese universale Perspektive entwickeln. Sie geht bis zur Erwartung einer neuen Erde und, noch erstaunlicher, eines neuen Himmels. Es ist diese große Erwartung des Jesajabuches, die im letzten Buch des Neuen Testaments wieder aufgenommen und nun Menschen aus den Völkern zugesagt ist. Mit diesem Bibelwort aus Jes 65 und Off 21 heißt es über die Kirche im Vorschlag zur Ergänzung der Präambel: Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde". Alles Gewicht liegt auf dem "mit" – "Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde", mit, nicht gegen oder anstelle von.

An vielen Stellen der hebräischen Bibel kommen die Völker in den Blick, an entscheidenden Stellen sind sie einbegriffen in die Verheißungen von Heil und Frieden. Daß Gott diese Verheißungen wahr machen wird, ist der Grund auch unseres Vertrauens. Auch um unserer selbst willen sind wir also gut beraten, auf Gottes Treue gegenüber seinen Zusagen zu vertrauen. In seinem Referat vor der Westfälischen Landessynode im November 1999 sagte Michael Weinrich: "Auch für die Kirche hängt alles daran, daß Gott seine Treue zu Israel bewahrt, denn worauf wollte sie angesichts der offenkundigen Kette ihrer Verfehlungen setzen, wenn sie behauptet, daß Gott Israel seine Treue wegen des Ungehorsams entzogen habe?"

Das Heil für die Völker kommt im Wort an Israel im Alten Testament an vielen und wichtigen Stellen zu Wort. Die Völker kommen vor im Alten Testament, "wir" kommen vor im Alten Testament und diese Perspektive kann uns zu vielen neuen Entdeckungen führen. Als Mitgesegnete mit Israel können wir Anteil bekommen an Gottes Segen, die Verheißungen des Alten Testaments machen an den Grenzen Israels nicht Halt. Diese Perspektive kommt aber erst dann in den Blick, wenn wir uns nicht sogleich an die Stelle Israels setzen und in den Völkern, den "Heiden" irgendwelche anderen, aber nicht uns selbst erkennen. Das Neue Testament setzt die Völkerperspektive des Alten fort, nicht gegen das Alte, wohl aber so, daß in den innerjüdischen Kontroversen, die die neutestamentlichen Zeugnisse zunächst widerspiegeln, eben diese Linie stark gemacht wird, indem Menschen aus den Völkern eingeladen werden, den Zugang zu Israels Gott zu suchen.

Die Person Jesu Christi und das Zeugnis des Neuen Testaments ist für uns diese Tür zum Gott Israels. Durch die Auferweckung Jesu von den Toten hat Gott diese offene Tür für alle Menschen aus den Völkern beglaubigt. Indem wir uns als Menschen, als Gemeinde, als Kirche christlich nennen, benennen wir diesen für uns einzigen Zugang. Darin ist Christus für uns exklusiv. Wir dürfen darauf vertrauen, daß das Haus, das Israel bewohnt hat und weiter bewohnt, groß genug ist auch für uns. In diesem Haus gibt es Raum für alle, Räume für alle, durchaus verschieden eingerichtete Räume. "In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen" – für diesmal will ich den Satz des Johannesevangeliums so verstehen. Aber das Haus ist das Haus Gottes, des einen und einzigen Gottes, von dem die ganze Bibel Zeugnis ablegt. Und dieses Haus gab es schon, bevor Menschen aus den Völkern es durch die Tür betreten durften, ohne Jüdinnen und Juden zu werden. Dieses Haus hatte schon zuvor Bewohner, und ihnen ist weder gekündigt worden noch fristen sie als Untermieter ein Leben in der Mansarde. Auch deshalb muß von diesem Haus, auch deshalb muß von Israel die Rede sein, wenn ein Christ, wenn eine Kirche von sich selbst sprechen will, wie sie es in einer Kirchenverfassung tut.

IV.

Vom Haus, der Tür und den Fenstern habe ich gesprochen. Damit drängt sich ein Stichwort geradezu auf, das in der "Theologischen Erklärung" nicht explizit genannt ist, das aber zu einem Schibbolet der Frage nach dem Verhältnis zwischen Christen und Juden geworden ist und daher zum Thema werden muß: Ich meine das Stichwort "Judenmission". In den Formulierungen der "Theologischen Erklärung" spüre ich Behutsamkeit im Umgang mit diesem Thema. Gewiß mit Bedacht hat man darauf verzichtet, den Begriff "Judenmission" zu verwenden. Es spricht einiges dafür, so zu verfahren, denn der Begriff selbst ist "verfahren". Wir können auch gegenüber Jüdinnen und Juden nicht unerklärt das Verständnis von "Mission" stehen lassen, das für die Judenheit in vielen Jahrhunderten zum Trauma werden mußte. An die Stelle der Zwangstaufen und der verordneten Bekehrungspredigten ist ja längst ein ganz anderes Verständnis von Mission getreten, eines, das mit Bezeugung und Konvivialität verbunden ist. Aber können wir Jüdinnen und Juden den Begriff "Mission" zumuten und von ihnen verlangen, dieses Wort von nun an bitte so zu hören, wie wir es jetzt meinen, und nicht, wie sie es so furchtbar erlebt haben? Ist diese Zumutung nicht zu groß?

Umgekehrt scheuen sich viele Christen, auf Mission gegenüber dem Judentum unumwunden zu verzichten, weil sie dann auf die Bezeugung ihres christlichen Glaubens gegenüber Jüdinnen und Juden verzichten zu müssen glauben. Manche fürchten auch, eben das könnte zu einer neuen "Sonderbehandlung" von Juden führen. Können wir, so wird gefragt, Juden das vorenthalten, was uns das Wichtigste und Kostbarste ist? (Was das angeht, so berufe ich mich gern auf Micha Brumlik, der Bischof Knuth beim Frankfurter Kirchentag in dieser Hinsicht mit der Auskunft zu beruhigen versuchte, er kenne keinen Juden, der den Verzicht auf Judenmission so verstehen würde, daß ihm etwas vorenthalten würde ...)

Zur Beschreibung der gegenwärtigen Diskussionslage gehört, daß die allermeisten in Sensibilität für die besondere deutsch-jüdische Geschichte den deutschen Kirchen jedenfalls noch für längere Zeit größte Zurückhaltung empfehlen. Eine prinzipielle Absage an Judenmission fällt manchen jedoch schwer. Ich verstehe also die im Gesagten und Nichtgesagten erkennbare Behutsamkeit der "Theologischen Erklärung" gut. Vielleicht wäre es ein Gewinn, wenn zuerst einmal der belastete Begriff aus dem Blick geriete, damit über die Sache um so klarer diskutiert und entschieden werden kann. Allerdings habe ich kein gutes Gefühl, wenn dabei der Eindruck entstehen könnte, man wolle das Wort "Judenmission" weglassen, um sich eine wie auch immer geartete Hintertür zu lassen. Liest man es so (und so kann man es lesen), dann würde das gut Gemeinte kontraproduktiv. In der Sache habe ich mich entschieden, nämlich eindeutig gegen jede Vorstellung von einer Judenmission. Meine Geschichte als Deutscher spielt dabei eine Rolle, aber nicht die entscheidende. Meine Wahrnehmung neuer missionstheologischer Konzepte spielt dabei eine Rolle, aber nicht die entscheidende. Die entscheidende Rolle spielt die schlichte und für mich nur negativ zu beantwortende Frage: Zu was, zu wem will ich einen jüdischen Menschen missionieren? Was sollte eine Jüdin, ein Jude durch eine Konversion zum Christentum gewinnen? Gibt es da etwas, das Israel nicht hat, Christen aber haben?

Christen bekommen durch die Person Jesu Christi und das Zeugnis des Neuen Testaments Zugang zu dem einen Gott, ohne Jüdinnen und Juden zu sein. Das ist für Christen entscheidend, für Juden buchstäblich gegenstandslos. Wenn Mission bedeutet, Menschen einzuladen, durch die Tür zu gehen, die Jesus Christus ist, dann bedeutete "Judenmission", Jüdinnen und Juden zuerst aus ihrem eigenen Haus zu verweisen, um ihnen dann einen erneuten Zugang in Aussicht zu stellen. Judenmission ist (letztlich unabhängig von allen real historischen Erfahrungen und deshalb letztlich auch unabhängig von der belasteten Rolle deutscher Kirchen) etwas prinzipiell Bodenloses. Noch deutlicher wird das, wenn man Mission als "missio Dei" verstehen, Gott selbst es überlassen will, zu missionieren. Müssen denn Juden zu Gott bekehrt werden? Jemandem etwas in Aussicht zu stellen, was er oder sie bereits hat und ist, gibt nur dann Sinn, wenn man ihnen zuvor das Haben und Sein abgesprochen hat. Die der Synode vorgeschlagene Erweiterung der Präambel formuliert das klare Gegenteil. Daraus folgt der Sache nach unzweideutig die Ablehnung jeder Art von Judenmission. Vielleicht sollte man das dann auch unzweideutig sagen. Eine Mißachtung der wichtigen neueren Missionskonzepte könnte ich darin nicht erkennen und die Erschwerung des offenen Redens zwischen Juden und Christen über den je eigenen Glauben und das gemeinsame Lernen auf der Basis eines solchen offenen Austauschs auch nicht.

Theologisch ist die Sache für mich klar, aber es gibt da abermals noch eine psychologische Seite. Wie kommt es, daß so viele Christen Probleme haben, auf Judenmission zu verzichten, obwohl sie selbst gar keine Jüdinnen und Juden missionieren wollen? In entsprechenden Debatten beschleicht mich ein merkwürdiges Gefühl. Schon vor längerer Zeit habe ich gelernt, daß es zum Antisemitismus gar keiner realen Juden bedarf. Ich glaube inzwischen, daß es auch zur Judenmission gar keiner realen Juden bedarf. Man will keine Juden missionieren, man will lediglich, aber immerhin bekunden, daß sie der Mission bedürften. Was steht dahinter? Könnte es sein, daß es nicht um die Missionierung von Juden geht, sondern um ein im Festhalten an deren Missionsbedürftigkeit bekundetes "mehr" des Christentums? Und wieder frage ich, was dahinter steht. Ist es womöglich jene eigentümliche Logik des Geldes, wonach ich mehr haben muß, weil ich sonst weniger hätte?

Warum aber gibt es nicht ein "anders", das weder mehr noch weniger ist? Wie schwach wäre christliche Identität ausgebildet, wenn sie auf dem "mehr" beharren müßte, weil sie anders gar nichts mehr wert wäre? Wenn an diesen Beobachtungen etwas dran ist, ist es um so mehr um ein christliches Selbstbewußtsein zu tun, welches nicht von der Verächtlichmachung oder subtileren Formen der Abwertung anderer zehren muß. Das bedeutet auf der anderen Seite auch den Verzicht auf jede Verächtlichmachung der eigenen christlichen Identität. Die meisten Menschen in unserem Land und unseren Kirchen haben, Gott sei Dank, inzwischen gelernt, daß Juden keine schlechteren Menschen sind. Manche von uns (ich schließe mich da nicht aus) müssen noch lernen, daß sie deshalb nun auch keine besseren Menschen sein müssen. Es gibt eine Form der Heiligsprechung alles Jüdischen, welche die sanfte, aber ebenso falsche Kehrseite der alten Diffamierungen ist. Solange wir aus dem Schema des "besser oder schlechter" nicht herauskommen, bleiben wir in derselben Falle. Und nur allzu leicht kann Überhöhung wieder in Diffamierung umschlagen, die Geschichte von Christen und Juden hat auch dafür ihre Beispiele.

V.

Etwas verlernen, um Neues lernen zu können – das gilt auch für ein besonders schmerzliches Kapitel protestantischer Theologie. Ich meine Luthers Bild vom Alten Testament und vom Judentum. Die Äußerungen des späten Luther "Von den Juden und ihren Lügen" gehören zu den bösesten Sätzen der Theologiegeschichte, vollends im Lichte der späteren erschreckend wörtlichen Einlösung mehrerer dort geäußerter Vorschläge zur Behandlung von Juden. Die Erinnerung daran gehört zur Geschichte einer lutherischen Kirche. Auf diese Worte Luthers wird sich heute keine Bischöfin, kein Bischof, keine Synode einer lutherischen Kirche berufen. (Das war nicht immer so.) Nun gibt es da allerdings nicht selten einen Kurzschluß: Man lobt in klarer Distanz gegenüber dem "späten" Luther um so mehr den früheren und stellt gegen die Spätschrift "Von den Juden und ihren Lügen" (1543) die zwanzig Jahre zuvor verfaßte Schrift "Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei". Beide Schriften unterscheiden sich erheblich in Ton und Ziel – werbend die frühe, aufs übelste schmähend die späte. Aber beide Schriften unterscheiden sich in ihrem theologischen Kern nicht.

1523 lädt Luther die Juden ein, sie möchten doch nun, von der Herrschaft des Papsttums befreit, frei annehmen, daß die Schrift, daß ihre eigene Bibel Jesus Christus als den göttlichen Herrn bezeuge. Und bereits hier urteilt Luther, wenn die Juden die Bibel nicht als Christuszeugnis anzunehmen bereit seien, verfehlten sie Gott selbst. Ein nicht allein auf Christus bezogener Glaube ist in Luthers Augen Götzendienst. Juden, die Christus nicht annehmen, verstießen also gegen das Erste Gebot! Die christologische Auslegung des Alten Testaments ist für Luther nicht die Weise, in der Menschen aus den Völkern zu Gott Zugang finden, sie ist für ihn der einzig wahre Sinn der hebräischen Bibel. Die eigentlichen und auch zur Zeit der Abfassung der alttestamentlichen Worte gemeinten Adressaten sind in Luthers Sicht die Christen, für sie ist das Alte Testament geschrieben (besonders deutlich wird das etwa in Luthers Auslegung seines Lieblingspsalms, des Psalms 118), die Juden können daher die Worte ihrer eigenen "Schrift" allenfalls ansatzweise verstehen. Das alles formuliert Luther nicht erst als verbitterter alter Mann, das gehört von Anfang an zu seiner Theologie.

Diese Sicht auf die Bibel aber bestreitet jüdischen Menschen, daß sie ihre eigene Bibel verstehen können. Auf dieser Basis ist jeder jüdisch-christliche Dialog unmöglich, denn sie bestreitet den Dialogpartnern nicht nur die Wahrheit, sondern die Wahrheitsfähigkeit. Die "Theologische Erklärung" und der Ergänzungsvorschlag für die Präambel formulieren das strikte Gegenteil zu dieser Auffassung, und das ist gut so. Wenn die Synode dem folgt, widerspricht sie in einem wichtigen Punkt Luther. Das muß sie, und das darf sie auch.

Konzilien können irren, wie Luther selbst mutig bekundete, Synoden können auch irren, Theologieprofessoren allemale – und Reformatoren auch. Diesen Irrtum zu korrigieren bedeutet keine Absage an Luther im ganzen, auch und gerade nicht an Luthers Lektüre des Alten Testaments. Denn daß man die großen Gedanken der Rechtfertigung gerade im Alten Testament finden kann, hat kaum jemand so klar wie Luther herausgestellt und seine Rechtfertigungslehre nicht zuerst am Römerbrief, sondern zuerst an den Psalmen erarbeitet. Von Luthers Auslegung der Bibel, auch und gerade des Alten Testaments, lerne ich bis heute unendlich viel. Ich möchte das nicht aufgeben, aber ich will das nicht gegen Jüdinnen und Juden tun, sondern von und mit ihnen lernen.

So wenig Luthers Aussagen über die Türken heute zur Grundlage eines gedeihlichen Zusammenlebens mit muslimischen Menschen taugten, so wenig taugen Luthers Aussagen über Juden als theologische und praktische Grundlage der Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden. Diese Korrektur ist um so glaubwürdiger, je klarer und entschiedener sie in Lutherischen Kirchen selbst formuliert wird. Auch in dieser Hinsicht also ist die Entscheidung dieser Synode besonders wichtig. Dabei bedarf es (das möchte ich gegen mögliche Mißverständnisse und Ängste hinzufügen) nicht der Absage an Luthers Bibelauslegung, sondern nur (das aber in aller Deutlichkeit) der Korrektur seiner Auffassung, die christologische Auslegung des Alten Testaments sei nicht nur die für Christen wahre, sondern die (auch für Juden) einzig wahre. Es geht nicht um eine Absage an die Exklusivität Christi, sondern um ihre genauere Bestimmung. Ich habe mir angewöhnt, in entsprechenden Sätzen Luthers ein "für uns" mit zu denken. Das macht diese Sätze nicht geringer, sondern nur genauer.

VI.

Die Entscheidung der Synode ist an der Zeit, um die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden zu fördern, nicht, um deren künftige Gestalten und Ergebnisse bereits jetzt abschließend zu formulieren. Es geht (ich komme an den Anfang meines Referats zurück) nicht um einen Punkt, sondern um einen Doppelpunkt. Korrektur und Weiterarbeit gehören zusammen. Deshalb verstehe ich die beiden in formaler Hinsicht so ungleichen Anträge auf die Erweiterung der Verfassungspräambel und auf die Einrichtung einer Stelle zur weiteren Arbeit inhaltlich als eine Einheit.

In der weiteren Arbeit wird es immer wieder darum gehen, Unhaltbares zu verlernen, um gemeinsam Neues lernen zu können. Das gemeinsame Lernen wird falsche und böse Trennungen überwinden helfen, aber es wird und soll nicht alles Trennende beseitigen. Ziel des Paulus waren Gemeinden aus Jüdinnen und Juden und aus Menschen aus den Völkern. Von ihrem Zusammenleben in einer Gemeinde träumte der Apostel, von den ganz konkreten Konflikten in einem solchen Zusammenleben handeln wichtige Passagen seiner Briefe. In der weiteren Geschichte hat sich dieser Traum des Paulus nicht erfüllt; die Trennung von Juden und Christen ist im 2. Jahrhundert faktisch vollzogen. Seitdem gibt es Juden und Christen als zwei Religionsgemeinschaften. Das Nebeneinander hat sich in den meisten Zeiten der Geschichte vor allem als striktes Gegeneinander gezeigt – und als Leidensgeschichte vor allem des jüdischen Volkes.

Juden und Christen gehen nun wieder Schritte hin auf ein Miteinander. Aber das Ziel dieses Miteinanders ist kein Durcheinander. Es geht nicht um eine irgendwie geartete Einheitsreligion, auch und gerade wenn sich beide auf die zu einem großen Teil gleiche autoritative "Schrift" berufen. Für eine produktive Vielfalt ist die Bibel selbst das beste Beispiel. Viele besonders wichtige Dinge sind in der Bibel mehrmals dargestellt, ähnlich, aber nicht gleich, und zuweilen auch strikt gegensätzlich. Biblische Worte enthalten mehr als einen Sinn, es gibt in den allermeisten Fällen mehr als eine Wahrheit, und größtes Mißtrauen empfiehlt sich gegen alle, die vorgeben, im Besitz der einen Wahrheit zu sein. Gerade die Bibel selbst, die in nahezu allen entscheidenden Stellen und Fragen mehr als eine Antwort, eine Wahrheit enthält, ist das Dokument der Notwendigkeit des stets neuen Diskurses um das, was gelten soll. Dazu bedarf es mehr als einer Position. Es geht um Vielfalt ohne Beliebigkeit. Es ist gut, daß nicht alle christlichen Kirchen die gleiche Form und Lehre haben, es ist gut, daß es in Wort und Praxis mehr als eine Auffassung gibt. Und es ist gut, daß es in Verbundenheit und Differenz Christen und Juden gibt. Erst am Ende wird Gott alles in allem sein, erst dann wird die ganze Wahrheit offenbar.

Bis dahin warten Juden und Christen auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. In dieser Gemeinsamkeit können trennende Grenzen überwunden werden, doch ebenso wichtig ist die Respektierung heilsamer Grenzen. Wir sind nicht Israel. Weder müssen Juden Christen noch müssen Christen Juden werden, um dem einen Gott zu dienen. Nicht um eine jüdisch-christliche Einheitsreligion ist es zu tun und auch nicht um eine mit jüdischer Authentizät aufgefüllte christliche Universalität. Stattdessen geht es um "die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen". Diese Formulierung steht in den "Minima Moralia" Theodor W. Adornos und ebenso die Fortsetzung, die in jeder Ökumene, jedem Versuch des Zusammenlebens in einem großen oder sehr großen Haus zu beherzigen ist. Man müsse, so Adorno, "den besseren Zustand ... denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann".

Es bedarf der freien Diskussionen, in der verschiedene Auffassungen ohne Angst vertreten werden können. Kein Mensch ist im Besitz der Wahrheit, auch keine Kirche, und Synoden können irren. Aber es gibt (darin stimmen die Prinzipien der Demokratie und die Debatten des Talmud überein) keine bessere Entscheidung als die der freien Diskussion und dann der Abstimmung. Was die Wahrheit ist, kann nicht mit Mehrheit entschieden werden. Aber was gelten soll – und was nicht mehr gelten soll, das kann, das muß nach freier Diskussion von der Mehrheit entschieden werden. Fromme Menschen bitten bei schwierigen Entscheidungen Gott um Hilfe. Sie könnten Gott wie Salomo um ein verständiges Herz bitten, sie könnten um Gottes Geist bitten, sie könnten Worte eines Psalms sagen. Die meisten dieser Bitten werden mit Worten gesagt, die Worte Israels waren und sind. Alle diese Bitten sind an den einen Gott gerichtet, der Israels Gott war und ist. Wer zu diesem Gott betet und darauf vertraut, daß Gott seinen Verheißungen treu bleibt, hat die Erweiterung der Präambel schon vorausgesetzt.

 

Editorische Anmerkungen

Dieses Referat hielt Prof. Jürgen Ebach auf der Synode der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche im September 2001.

Siehe auch Erklärung der Synode "Christen und Juden"